Von Moshe Zimmermann
Hat der israelische Oppositionsführer Ariel Sharon mit seinem Besuch auf dem Jerusalemer „Tempelberg“ die Katastrophe ausgelöst? Gewiss. Er wollte die Moslems provozieren und gleichzeitig die arabischen Abgeordneten im israelischen Parlament, die gegen den Besuch demonstrierten, als „Staatsfeinde“ diskreditieren.
Die Provokation war erfolgreich: Die Region explodierte, und innerhalb der israelischen Gesellschaft begann der arabisch-jüdische Bürgerkrieg. Doch sieht sich der Historiker veranlasst, zwischen Provokation und Ursache zu unterscheiden: Die Ursachen, die Wurzeln dieser Eruption liegen tiefer.
Die Erfahrung seit dem Jom-Kippur-Krieg beweist: Erst wenn die Araber Gewalt anwendeten, war Israel bereit, Kompromisse einzugehen, die eigentlich auch vorher die logische Schlussfolgerung aus der politischen Lage hätten sein müssen. Erst nach dem Jom-Kippur-Krieg hat Israel den Sinai evakuiert. Erst nach der Intifada hat man mit der PLO Verhandlungen aufgenommen und in Oslo ein Abkommen unterzeichnet. Erst nach dem Golfkrieg zeigte sich die Regierung des Hardliners Shamir bereit, an der Friedenskonferenz in Madrid teilzunehmen. Erst nach einem langen Kampf gegen die Hisbollah-Terroristen hat sich Israel aus dem Südlibanon zurückgezogen. Wieso, fragt man sich, konnte man nicht früher, ohne Blutvergießen und Gesichtsverlust, zum selben Ergebnis kommen?
Sicher: Auf der arabischen Seite war man oft stur und unklug, aber das allein ist weder Erklärung noch Entschuldigung für die wiederholte Erfahrung der Gewalt (beziehungsweise Niederlage) als Einleitung zu Verhandlungen, Kompromissen, Frieden. Damit stellte sich spätestens seit Ende Juli die große Frage: Wieso rannte man offenen Auges in die nächste Katastrophe? Sah man nicht, dass der lange Stillstand in den Friedensverhandlungen bei den Palästinensern eine Frustration erzeugen musste, die früher oder später explodieren würde?
Am Anfang war die Erbsünde
Nun ist es passiert. Nicht wegen der umstrittenen jüdischen Siedlung Har Homa bei Jerusalem, nicht wegen der alltäglichen Präsenz der israelischen Besatzung im palästinensischen Leben, nicht einmal wegen der Ausdehnung der jüdischen Siedlungen in der Westbank, sondern wegen der Al-Aksa-Moschee, wegen eines besonders wirkungsvollen religiösen Symbols. Da wundert man sich auch, weshalb eine Provokation, die aus dem rechten Flügel der israelischen Politik kommt, eine so heftige Reaktion gegen die angeblich linke Regierung Ehud Baraks hervorgerufen hat. War nicht gerade diese Regierung kompromissbereiter als jede Regierung zuvor?
Die Antwort liegt in der Diskrepanz zwischen den Plänen Baraks, den damit verbundenen Hoffnungen der Palästinenser und israelischen Araber – und den Taten von Baraks Regierung. Sein Wahlsieg 1999 war im Endeffekt nicht mehr als eine optische Täuschung: Netanjahu hatte nach und nach sein Image als „Magier“ verloren und erlitt so bei der Wahl eine klare Niederlage. Doch die rechten Parteien haben ihre parlamentarische Mehrheit behalten können: Die drei religiösen Parteien, die zur Netanjahu-Koalition gehörten, schufen mit der zwar dezimierten Likud-Partei, der rechtsradikalen „Nationalen Einheit“ und der Partei der russischen Einwanderer eine Mehrheit von 58 der insgesamt 111 „jüdischen Sitze“ in der Knesset. Die übrigen neun Sitze der arabischen Abgeordneten gelten in Israel, das sich immer mehr als „jüdischer Staat“ versteht, sowieso als Exklave. Das Ergebnis: Baraks Koalition bestand etwa zur Hälfte aus Parteien und Abgeordneten der israelischen Rechten. Der Wahlsieg war ein Pyrrhussieg.
Kein Wunder, dass das Hauptziel von Barak und der angeblich siegreichen israelischen Linken, die energische Fortsetzung des Friedensprozesses, keine Chance hatte. Die rechten Parteien und Abgeordneten waren so lange in der Koalition geblieben, als sie Ministerposten besetzen konnten, ohne auf Land zugunsten der Palästinenser oder der Syrer zu verzichten. Als man am Ende doch Entscheidungen treffen musste, die wegen des Osloer Vertrags unumgänglich waren, schieden sie aus der Koalition aus. Baraks Regierung wurde zur Minderheitsregierung, die im Parlament nichts mehr durchsetzen konnte.
Als sich Israel etwa aus dem Dorf Abu Dis, nur 200 Meter von der Jerusalemer Altstadt, zurückziehen sollte, führten Tumulte am Gedenktag der „Nakba“, der arabischen Katastrophe von 1948, zu einem Aufschrei der rechten Parteien, was wiederum Barak dazu veranlasste, die Übergabe des Dorfs an die palästinensische Autonomiebehörde auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Wohlgemerkt: In Abu Dis steht längst das Parlamentsgebäude der Palästinenser bereit.
Stillstand, das war the name of the game, und als nach Camp David weder Israel noch die USA die Dringlichkeit einer Vorwärtsbewegung erkannten, reichte die Provokation Sharons aus, das Fass zum Überlaufen zu bringen. Und es war kein Zufall und für Sharon keineswegs eine Überraschung, dass ausgerechnet ein religiöses Symbol die Massen so effektiv mobilisieren konnte: Im Zeitalter der postmodernen Verzweiflung, die so viele Menschen „zurück“ zur Religion führt, ist im stark fundamentalisierten Nahen Osten eine Überreaktion auf religiöse Symbole die Regel geworden, und zwar auf beiden Seiten – bei Juden wie bei Moslems. „Heilige“ Stätten stehen nun im Mittelpunkt der Ausschreitungen. Das Josefsgrab in Nablus: Synagoge oder Moschee? Juden verbrennen nun Moscheen, Moslems verbrennen Synagogen. Und weil die nationale Konfrontation in einen Religionskrieg aufging, schwappt dieser Krieg auch ins Ausland über: In Deutschland und anderswo setzen Araber und Rechtsradikale eine anti-israelische Kampagne in anti-jüdische Ausschreitungen um, ohne zu erkennen, dass damit der arabisch-israelische Konflikt eine alt-neue Qualität erhält.
So schließt sich der Kreis. Diese auch im Ausland stattfindende Auseinandersetzung demonstriert die prinzipielle Schwäche der zionistischen Ideologie: Der Zionismus konnte, all seiner Illusionen zum Trotz, das Problem des Antisemitismus nicht durch die Schaffung eines Judenstaates lösen. Mehr noch: Er erwies sich als Last statt als Lösung für Juden der Diaspora, auch dort, wo sie mit dem nationalen Judentum, mit dem Zionismus keine gemeinsame Sache machen. Und das bringt uns zur Kernfrage, zur Frage nach der tieferen Ursache der heutigen Lage zurück: Am Anfang der Kette findet man weder Sharon noch Barak, weder die religiösen Parteien noch den „Kalten Krieg“, weder Oslo noch die Gründung des Staates Israel, die alle die Lawine in Schwung gebracht haben. Am Anfang steht die „Erbsünde“ Europas: Die gescheiterte Emanzipation und Integration der Juden. Lange bevor das Dritte Reich die Gleichberechtigung der Juden rückgängig machte, hatte sich die nationaljüdische Lösung der so genannten „Judenfrage“ zu Wort melden können, als Ersatz für die gescheiterte Emanzipation. Die anti-emanzipatorische europäische Grundhaltung brachte Zionisten dazu, nicht nur nach Palästina auszuwandern, sondern dorthin auch nationalistische, völkische, ja rassistische Einstellungen aus Europa mitzunehmen.
Die europäische Geschichte der Neuzeit hat auch dazu beigetragen, dass für Juden, für Zionisten, die Wehrlosigkeit zur schlimmsten Trauma wurde – was in Israel in eine Mischung aus Paranoia und Schießfreudigkeit übersetzt wurde. Vor allem die israelische Rechte, die nun Dank der unheiligen Allianz Sharon-Arafat Hochkonjunktur erlebt, hat, wie so viele Elemente des Konflikts, ihre Wurzeln in europäischen Nationalismus.
Zur Lösung der Israel-Palästina-Frage kann aber Europa kaum etwas beitragen. Eher umgekehrt: Die antisemitischen Vorfälle der letzten Zeit, besonders in Verbindung mit den Ereignissen im Nahost, weisen auf einer „Rückwanderung“ der „Judenfrage“ nach Europa. Wenn man dazu in Betracht zieht, dass die Aufwertung Jerusalems im Islam – eine wichtige Quelle der heutigen Unruhen – eine Folge der Kreuzzüge war und dass der jüdische wie der arabische Nationalismus das Europa des 19. Jahrhunderts als Vorbild benutzten: Dann relativiert sich das Bild Europas als Quelle der Zivilisation und Kultur.
Der Autor lehrt deutsche Geschichte an der Universität Jerusalem.