Religiöse Orientierung in einer globalisierenden Welt.
Gemeinsame Ausgangslagen in der interreligiösen Begegnung

von Alois Weidacher (lic.theol, dipl.soc.)

1. Konfrontiert mit Lasten und Hoffnungen
2. naturwissenschaftliche, humanistische und religiöse Lebensdeutungen
3. Gemeinsamkeit in religiösen Grundhaltungen
4. Solidarität und Frieden als unbedingte Konsequenzen einer religiösen Hoffnung

Globalisierung beinhaltet die Öffnung wirtschaftlicher, politischer, sozio-kultureller und religiöser Grenzen. Wir machen neue Erfahrungen von Gemeinsamkeiten aber auch von Unterschieden und Eigenheiten. In interreligiösen Gesprächen bemühen wir uns um Toleranz und Verständigung zwischen unterschiedlichen religiösen Botschaften, Organisations- und Ausdrucksformen religiösen Lebens.
Die religiöse Herausforderung in unserer Zeit liegt nicht darin, einen Einheitsbrei der Religionen anzustreben, auch nicht darin, dass Jeder und jede Gruppe sich ihre eigene religiöse Welt konstruiert. Unsere Chance liegt darin, gemeinsam nach dem religiösen Grundvertrauen zu suchen, dem vernachlässigten Fundament sozial gelebter Religiosität. Der "Grundschritt" religiösen Vertrauens liegt vor den (dogmatisierten) Lehren, Riten und Ämterbegründungen der Religionen.

1. Konfrontiert mit Lasten und Hoffnungen

Chancen und Bedrohungen

In westeuropäischen Kulturräumen erleben wir seit mehr als 25 Jahren gewaltige Umbrüche in den kulturellen Institutionen. Sie sind begleitet von tiefgreifenden Zwängen und Bestrebungen zur persönlichen Neuorientierung, gar Neudefinition von Lebenssinn, Lebenshaltung und Lebensgestaltung. Sie zwingt zu Um- und Neuorientierungen, die in dramatischer Weise von existentiellen Unsicherheiten und Ängsten geprägt sind.
Veränderungen und Anforderungen an die Lebensgestaltung ergeben sich in verschiedenen Komplexen von Lebensbereichen:

2. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse, humanistische und religiöse Lebensdeutungen

Lebensphilosophien und eine religiöse Lebenssicht und –praxis können uns helfen, Selbstvertrauen, Zuversicht und Motivation aufzubringen, um Auswege aus schwierigen Lebenslagen zu suchen.

Humanistische Positionen

Westliche demokratische und humanistische Positionen enthalten eine grundsätzlich optimistische Einschätzung, dass es einen menschlich eigenen Erkenntnisfortschritt gibt und dass auf diesem Wege die Einsicht der Menschen in die generelle Nützlichkeit/Vorteilhaftigkeit demokratischer Regelungen und solidarischer Verhaltensweisen wächst. Die Vorteilsnahme einzelner Personen oder von Gruppen durch undemokratische und unsolidarische Verhaltensweisen in Abhängigkeit von Gelegenheiten, Anreizen und fehlender Abschreckung bleibt weiterhin eine Realität, die das restliche Gemeinwesen bedroht und es dazu zwingt, sich vorbeugend zu schützen, die Täter abzuschrecken, durch Aufklärung und Bildung die Einsicht potentieller negativer Entwicklungen zu erhöhen.
In Staaten mit einer gesellschaftsphilosophisch humanistischen Verfassung steht formal anerkannten Benachteiligten und Hilfebedürftigen ein Recht auf Fürsorge zu und die Arbeit an diesen Benachteiligten und Hilfebedürftigen hat einen Anspruch auf Entlohnung. Trotz des Rechtsanspruchs und faktischer Hilfe können benachteiligte und hilfebedürftige Menschen sehr wohl ihre Situation als belastend empfinden und daran zugrunde gehen.

Im faktischen Lebensvollzug ist eher davon auszugehen, dass die Mehrheit der Menschen aus einem Gefühl und Bewusstsein handeln, etwas sozial Richtiges zu tun, wenn sie solidarisch und uneigennützig handeln. Sie tun dies unreflektiert, nicht in bewusster Begründung mit Hoffnungen und Erwartungen auf Lohn hier und jetzt oder im Jenseits oder in der Hoffnung, selbst eine Erlösung und Erleuchtung im Prozess von Wiedergeburten zu finden. Es liegt nahe, dass wir dabei von unserer instinktiven Fürsorge für die eigene Art unterstützt werden, wobei im jeweiligen Fall immer auch die erfahrene Erziehung und letztlich auch bewusste und unbewusste Eigeninteressen im Spiel sind. So folgte auf die "Todesflut" 2004 in sehr beeindruckender Weise eine große Welle der solidarischen Unterstützung in der ganzen Welt.

Östliche Lebensphilosophien

Viele fernöstliche Lebensphilosophien und –strategien empfehlen einen Weg zu Frieden, Freiheit, Glück. Dieser Weg beinhaltet, dass man sich der Bindung an Scheinrealitäten bewusst wird, die Ängste, triebhaftes Verlangen, Sorgen, Missgunst usw. bedingen. Erkennen, was uns in Unwissen und Unfreiheit festhält (eine befreite Wiedergeburt verhindert) und unser Leiden verursacht, sowie das Erkennen der Möglichkeit und des Weges zur Befreiung von Leid wird unsere Bereitschaft steigern, die Verhaftungen an die Scheinwelten und damit die Ursachen des Leidens zu lösen (Dalai Lama, 2000, S. 79). Daraus lässt sich folgern, dass durch menschlich eigenen Erkenntniszuwachs Ursachen von Leid und die Möglichkeit der Freiheit erkannt werden, die auch nach neueren buddhistischen Interpretationen ihre Wurzel und ihre Erfüllung in altruistischen Einstellungen haben (ebenda S. 141-156).

Christliche Position/en

Die sogenannten vier Evangelien, die die Botschaft Jesu enthalten, berichten übereinstimmend, dass Jesus die Menschen vor allem zu Vertrauen einladen wollte, dass sie angenommen sind und geheilt werden (Weidacher, A., 2003). Genau an diesem Punkt bietet die christliche Botschaft etwas Besonderes: 'wie Gott, unser Lebensgrund, uns annimmt, so können (aus dieser Kraft) wir einander annehmen'. Es ging ihm offenbar nicht um Wahrheiten, die er geglaubt wissen wollte oder um die Einhaltung moralischer Vorschriften, sondern um diesen Schritt des persönlichen Vertrauens, im göttlichen Lebensgrund gesichert zu sein, unabhängig von unseren Leistungen und Verdiensten. Dieses Vertrauen ist die Grundlage für Freiheit von Angst, von Vorteilsbestrebungen und Ichbezogenheit, für den Halt in bitterster Not, für Freude und Kraft zu uneigennützigem mitmenschlichen Einsatz.

Die berühmte Kritik am christlichen Glauben ("Opium für das Volk") als tröstende Hoffnung auf einen Ausgleich im Himmel trifft nicht. So leicht ist es nicht, in bitterer Not zu vertrauen, in der bergenden Hand eines allmächtigen, liebenden Gottes zu sein – wenn man nicht naiv glaubt, er würde an dieser Stelle eingreifen. Wir haben nicht mal die Garantie, dass wir an dem Leid, das wir erdulden können, nicht verzweifeln werden. Auch gilt das Vertrauen, in der bergenden, liebenden, allmächtigen Hand des göttlichen Lebensgrundes zu sein, hier und jetzt und nicht erst für einen Ausgleich im Jenseits. Zwar haben die monotheistischen Religionen (unterschiedlich und unterschiedlich auch in kulturellen Epochen) genau an diesem Punkt die Menschen so häufig glauben machen, dieser Ausgleich oder Lohn könnte durch Frömmigkeit und gute Werke verdient werden. Es verträgt sich aber nicht mit der Botschaft Jesu. Er machte klar, dass die göttliche Liebe gratis ist, vor dem kosmischen Beginn, von Anfang an und für alle. Aus der Zusicherung, dass wir angenommen und gegen allen Anschein von Bedrohungen und Leiden geborgen und eingeladen sind, folgt nicht, dass wir damit einen Freibrief hätten zu morden, zu vergewaltigen, zu betrügen usw.. Vertrauen in den göttlichen Lebensgrund beinhaltet eben, eins zu werden mit der Art zu Handeln, wie wir vertrauen, dass Gott mit uns es tut, sich dieser Art zu Handeln anzuschließen – aus diesem Vertrauen heraus und nicht durch unser Gutseinwollen.

3. Gemeinsamkeiten in religiösen Grundhaltungen

Die monotheistischen Religionen stützen sich auf Offenbarungen: Botschaften Gottes, die vielfach als zu glaubende Wahrheiten verstanden wurden und werden. Damit verbunden wird eine danach bestimmte religiöse Lebensführung als Weg und Voraussetzung für ein Leben nach dem Tod. Die religiösen Lehren und die daraus bestimmte Lebensführung werden abgesichert durch eine göttlich berufene Führung des Gottesvolkes.
Unter den modernen Lebenserfahrungen, wie sie eingangs skizziert wurden, differenzieren sich einerseits die Bedürfnisse der Menschen in ihren Lebensorientierungen (verschiedene Richtungen, Positionen, Gruppierungen innerhalb von Glaubensgemeinschaften). Andererseits können wir feststellen, dass viele Menschen jenseits oder "unterhalb" institutioneller Wahrheiten und moralischer Richtlinien, allgemein und grundsätzlich, im Vorfeld von Unterschieden zwischen den Religionen, eine religiöse Lebensbegründung hinterfragen. In einer globalisierenden Welt öffnen sich Grenzen und gleichzeitig werden wir uns der Unterschiede, eigener und fremder Eigenheiten inmitten von Gemeinsamkeit bewusst.

Auf menschliche Lebensfragen bezogen

Menschen unterschiedlicher Staatszugehörigkeit, Ethnien und Religionen arbeiten gemeinsam und im Wettbewerb an wirtschaftlichen Vorhaben, in medizinischen und technischen Projekten; sie begegnen sich nicht nur in kriegerischen Auseinandersetzungen sondern immer häufiger auch in Bemühungen um ein friedvolleres Miteinander. Sie sind gemeinsam betroffen in großen Katastrophen von Erdbeben, Überschwemmungen, Taifunen, Schiffsunglücken, Flugzeugabstürzen etc. und fühlen sich zu allgemein menschlicher, politische, ethnische und religiöse Grenzen überschreitender Solidarität aufgefordert.

Es erscheint plausibel, dass wir eher in den Fragen, Hoffnungen, Ängsten und Sehnsüchten der Menschen nach Antworten auf das Woher und Wohin ihres Lebens, nach Freiheit von Angst und einem Ende der Leiden Gemeinsamkeiten entdecken, als dass wir sie in Botschaften finden werden, die Menschen als von Gott mitgeteilte ausgeben. Jede religiöse Institution hütet gezwungenermaßen ihre Lehre, ihre Gemeinschaftsregeln, ihre Ämter als von Gott oder den Religionsstiftern so gewollt. Ein interreligiöser Dialog, der auf diesem Wege zu Gemeinsamkeiten finden will, kann zwar den Reichtum kultureller Produkte erschließen, aber er befasst sich mit kulturellen Inhalten und Unterschieden, und es geht nicht von den Gemeinsamkeiten der menschlichen Lebenssituation aus.

Religiöse Hoffnung - ein Produkt menschlicher Phantasie?

Ein totales Misstrauen gegenüber einer menschlich möglichen "Kommunikation" mit einem Gott äußert sich in einer alten, heute häufig vorgebrachten Kritik an allen religiösen Lebensdeutungen. Dabei wird behauptet, dass religiöse Hoffnungen, Erlösungs- und Gottesvorstellungen ein Produkt menschlicher Phantasie, seiner Ängste und Sehnsüchte sind und dass sie sich darin erschöpften. Ohne Zweifel sind unsere Vorstellungen eines göttlichen Lebensgrundes und seiner möglichen Absichten mit uns ein absolut menschliches Produkt, seiner Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen. Wie könnte es anders sein? Tatsache ist, dass Menschen eine Antwort suchen auf ihr Dasein und die Art ihres Daseins. In früheren Zeiten führten andere kosmische Informationen, andere Existenzformen und andere soziale Welten zu anderen Erklärungen davon, vor allem mit Hilfe anderer Bilder (Cupitt, D. 2001).

Glauben = nicht wissen?

In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung in der religiösen Haltung zwischen Wissen und Vertrauen zu unterscheiden. Es dürfte dem modernen Menschen mit seinem Wissen von menschlich nicht vorstellbaren kosmischen Dimensionen inzwischen leichter fallen zu akzeptieren, dass wir von einem göttlichen Lebensgrund nichts wissen können, ein solches "Wesen" menschlich schlicht unvorstellbar bleiben muss. Dies kann sich auch nicht wesentlich dadurch ändern, dass wir "Boten Gottes" (Gesandte, Engel etc.) dazwischenschalten. Bleibt also für den Menschen ein "göttliches Du" eine reine menschliche Phantasievorstellung, sprechen wir ins Leere, halten wir reine Selbstgespräche, wenn wir dieses Du suchen?

Konsequent von der Annahme eines menschlich unfassbaren göttlichen Lebensgrundes weitergedacht, müsste es so sein, d. h. es wäre nicht vorstellbar, dass sich ein Gott uns "zuwendet", uns "zuhört". "ER" bleibt sicher unverfügbar, und wir wissen weiter nichts. Aber wir vertrauen, dass "ER" uns zugewandt ist. Entscheidend dabei ist, dass wir ausgespannt sind und bleiben nach ihm. Es trifft unbestritten zu, dass der uns geläufige Wortsinn von "glauben" 'nicht wissen' beinhaltet. Das, wovon die biblische Botschaft spricht, lässt sich in unserem Sprachgebrauch einigermaßen zutreffend wiedergeben mit 'vertrauen'. Unabhängig von Wissen über einen göttlichen Lebensgrund, vermögen wir zu vertrauen, dass wir gehalten, gewollt, auf "ihn" hin sind.

Kulturelle und persönliche Religiösität

Wir entdecken, dass religiöses Leben wie ein kultureller Mantel dem wirklichen Alltagsmenschen übergestülpt ist. Nur so ist es zu erklären, dass wir die darin häufig gegebene Widersprüchlichkeit aushalten können. Wie viele Menschen leben trotz ihrer religiösen Bekenntnisse und moralischen Verpflichtungen in Selbstgefälligkeit, Unfrieden, Missgunst und Angst? Es ist nicht die bewusste und alles erfassende Sehnsucht und Zuversicht nach Freiheit, Frieden und Liebe, die sich durchsetzen. Die kulturelle Religiosität hat für uns Menschen etwas Beruhigendes. Ihre typischen Merkmale sind das Festhalten an allgemein gültigen Wahrheiten, Organisations- und Ausdrucksformen des gemeinschaftlichen religiösen Lebens.

Wir erkennen die besondere Dringlichkeit, nach Grundelementen einer gemeinsamen religiösen Lebenssicht zu suchen in einer Zeit, in der gewaltige wirtschaftliche und politische Machtverschiebungen stattfinden, neben verunsichernden globalisierenden Kräften soziale Gefälle, ethnische und religiöse Lager weltweit Konflikte in Gang bringen.
Wir sind versucht, den Hoffnungen der Menschen die stilisierte Antworten der Religionen zuzuordnen. Wer ernsthaft daran interessiert ist, 'Gräben und Hügel' zwischen Religionszugehörigkeiten einzuebnen, der wird dafür von den Gemeinsamkeiten aus der Situation und der Sehnsucht der Menschen ausgehen. Jesus veranschaulichte in Vergleichen, wie grundlos und umfassend gütig Gott mit uns ist, nicht abhängig von unseren Leistungen. Er verglich es mit einem Unternehmer, der auch einem Arbeiter einen vollen Tageslohn auszahlt, obwohl er nur eine Stunde gearbeitet hat. (Deutsche Bibelgesellschaft, Hg., 1997; Mt 20,1-16). Eine Botschaft, die quer zu den Gesetzen unserer Konkurrenzgesellschaft liegt. Nicht einer christlichen Religionsgemeinschaften angehörende Wissenschaftler, Mediziner, Politiker haben die sogen. Bergpredigt von Jesus als persönliche Leitidee genommen. Jesus ermuntert darin alle, die sich für Frieden, Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Güte abstrampeln, dass es nicht umsonst sein wird, sondern dass die Erfüllung durch göttlichen Willen mit uns garantiert ist (1).
Die großen Weltreligionen, aber auch humanistische Weltsichten sind sich in der Beurteilung der menschlichen Situation und in den Zielen ihrer Botschaften für die Menschen weniger strittig als in den von ihnen dargelegten strategischen Ansätzen, um diese Ziele zu erreichen. Die spezifischen Aspekte, die in den jeweiligen Religionen dabei im Vordergrund zu stehen scheinen, lassen sich (auch) aus den kulturellen Kontexten ihrer Ausgangslage und Geschichte erklären.

So könnte man durchaus vermuten, dass sich in fernöstlichen religiösen Lebensdeutungen die Grundstruktur der Botschaft beschreiben lässt als: Einsicht in den eigenen Zustand der Unfreiheit, der Ich-Bezogenheit, der Ängste, Triebhaftigkeit und Wünsche als Scheinwelten und Ursachen von Leid einerseits, des Weges aus Unwissenheit, zu altruistischen Geisteshaltung und Freiheit, andererseits. Die notwendige Ablösung von der Verhaftung an und die Auflösung von Scheinwelten verweist auf ein unvorstellbares reales Ziel. Im Rahmen unzähliger möglicher Wiedergeburten bleibt es dem Mensch überlassen, seine Unfreiheit, wie auch den Weg zu Freiheit mit Hilfe erleuchteter Mitmenschen zu erkennen und zu gehen.

In jüdischen und christlichen biblischen Texten geht es ganz grundlegend um die Überzeugung, dass ein göttlicher Lebensgrund den Kosmos gewollt und uns Menschen angenommen, "erwählt" und eingeladen hat; Aus erfahrener Sicherheit und Geborgenheit befreit zu sein vom ("natürlichen") Zwang zu ichbezogenem Handeln, eins zu werden mit der Art göttlichen Handelns mit uns. Es geht um das Vertrauen eines ganzen Volkes oder jedes einzelnen Menschen: im Wohlstand und in der Not auf die führende, heilende, heimführende Hand des göttlichen Lebensgrundes zu vertrauen, ihn nicht zu vergessen oder daran zu verzweifeln. Diese in der altbiblischen wie in den Evangelien dargestellte Grundlage eines religiösen Lebensverständnisses wurde im praktischen religiösen Leben in der Geschichte immer wieder überlagert durch auferlegte Rechtgläubigkeit und Verhaltensregeln. Die Botschaft Jesu nach den Evangelien beginnt mit einer Feststellung und Zusicherung, dass wir von Anbeginn und nicht aufgrund unseres Wohlverhaltens in der Hand des liebenden, allmächtigen Gottes sind, dass die Vollendung entgegen allem Anschein von Mühsal und Leiden in uns begonnen hat, dass das Vertrauen darauf die Grundlage ist, dass wir nicht in Selbstherrlichkeit erblinden oder im Leid verzweifeln.

Korantexte betonen nicht nur, dass Gott einzig ist und dass es nur eine einzige Offenbarung geben kann, sondern auch die unabdingbare Unterwerfung und Hingabe des Menschen an den Allmächtigen durch den mit freiem Willen ausgestatteten, individuell verantwortlichen Menschen bzw. das vernichtende Gericht für alle, die sich seiner Allmacht und Offenbarung nicht unterwerfen (Azzam, H, 1988). Das Leben ist eine Zeit der Bewährung, dem die göttliche Vergeltung in Lohn oder Strafe folgt. Nach islamischer Auffassung wurde und wird jeder Mensch mit dem natürlichen Glauben geboren. Es bedarf nach einer islamischen Auffassung keines Erlösers, um die Menschen aus ihrer Angst und Ich-Verhaftung herauszuführen. Die Leugnung seiner Allmacht, die Ablehnung seiner Gesetze, habe in Unordnung, Unrecht und Leiden geführt, indem der Mensch sich von einem falschen Absoluten leiten lässt. Der sich vollkommen unterwerfende Gehorsam stellt das innere Gleichgewicht wieder her. Das Gesetz und das religiöse Tun (Bekenntnis, Gebet, Wallfahrt, Fasten, Almosen) schützen und orientieren die Erkenntnisfähigkeit. So erleuchtet und befreit folgt er den innersten von Gott aufgeprägten Gesetzen.
Die besonders starke Betonung des richtigen Glaubens und der Einhaltung der Gebote unter Strafandrohung kontrastiert mit einem Verständnis, wonach sich der Mensch so grundlegend gewollt, geliebt und eingeladen erfährt von dem göttlichen Lebensgrund, dass daraus alles andere folgt: dass er mit dieser Liebe eins werden und seine Mitmenschen annehmen will, so wie er selbst vertraut, angenommen zu sein.

Gleichzeitig mit der Ausdifferenzierung individueller weltanschaulicher und religiöser Standpunkte ergibt sich aus Globalisierungsprozessen (Konkurrenz der Produktions- und Beschäftigungsmärkte, transnationale politische Rahmenbedingungen, internationale ökologische Sicherung) eine Druck zur Öffnung nationaler, ethnischer und religiöser Grenzen. Diese neuen, nicht selten gewaltsam erlebten globalen Öffnungen machen uns für Gemeinsamkeiten sensibel; in den Informationen über den gemeinsamen menschlichen Ursprung, durch das Wissen um weltweite gemeinsame Bedrohungen aus wirtschaftlichen, sozialen, ethnischen, religiösen Konflikten, aber auch aus gemeinsamen Visionen und Anstrengungen zur Zukunftssicherung.

In der Vielfalt von Meinungen und Positionen steckt die Frage nach dem, was verbindet, nach gemeinsamen Grundelementen. Ein Teil der Verschiedenheit entsteht geradezu aus kritischen und engagierten Fragen nach der adäquaten Organisationsform, den historischen Ausformungen oder nach dem Wesen und Sinn des Ganzen. Wir können eine Verständigung und Gemeinsamkeiten in eher äußeren Dingen finden, wie in Symbolen, in Aktionen, in Teilen der Botschaften (Offenbarungen und heiligen Texten) und in der Anerkennung von Amtsträgern. Sie sind allerdings nur wie Wegzäune. Wir folgen in den Religionen oft den Wegführungen, ohne uns wirklich den grundlegenden Fragen zu stellen und unsere persönliche Antwort jemandem mitteilen zu können: was uns auf diesen Weg gebracht hat, wohin und worum es geht; was "passiert", wenn wir glauben, woraus sich unser Vertrauen (Glauben) ergibt. Auf der Ebene von "Wahrheiten" und der Organisations- und Ausdrucksformen des gemeinschaftlichen religiösen Lebens können wir gegenseitige Toleranz und Verständigung erreichen, vorausgesetzt, wir verlegen unseren Absolutheitsanspruch in das gemeinsame Vertrauen, in der Hand des göttlichen Lebensgrundes zu sein. Niemand vermag zu beweisen, ausschließlich im Besitz der Wahrheit und richtigen Handelns zu sein, allein auf dem gottgewollten Weg und im Besitz seiner Botschaft. Im religiösen Vertrauen erschließt sich uns trotz unterschiedlicher Weltanschauung und Religionszugehörigkeit die gemeinsame Situation und Berufung.
Kraftquelle unseres Vertrauens sind nicht unsere Anstrengungen. Die Textstelle in der christlichen Botschaft der Evangelien bringt es auf den Punkt: "So ... muss auch euer Licht vor den Menschen leuchten, Sie sollen eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen" (Deutsche Bibelgesellschaft, Hg., 1997; Mt 5,14-16). Wir geben nicht unsere Leistung, Liebe und Solidarität aus uns selbst weiter, sondern handeln aus dem Vertrauen und der Kraft, selbst angenommen und gerufen zu sein. Zwar findet sich in allen monotheistischen Religionen die Vorstellung von einer alles umfassenden, unumstößlichen Barmherzigkeit Gottes, wenn auch unterschiedlich in ihrer Bedeutung für unser Verhalten; denn unterschiedlich stark wird auch die Annahme vertreten, dass wir uns aus freiem Willen dieser Barmherzigkeit verschließen können oder dass diese Barmherzigkeit nur denen gilt, die sich auch gottgefällig verhalten. Die verbliebene religiöse Angst hat von der entscheidenden Frage abgelenkt, ob wir wirklich vertrauen, von Anfang an und ohne unser Zutun geliebt und erwählt zu sein. Erfasst und betroffen davon, ist ein verändertes Leben eine Folge davon. Unser "fremdgehen" erscheint dann als mangelnde Betroffenheit, mangelndes Vertrauen. Wir stellen fest, dass wir Vertrauen allenfalls nur in "Senfkorngröße" haben.
Religiöses Vertrauen beruht darin, dass wir in dem göttlichen Lebensgrund gewollt, geliebt und eingeladen sind. In diesem Vertrauen finden wir Freiheit von Ängsten, die Quelle von Abgrenzungen, Vorteilsstreben, Missgunst, Betrug, Gewalt, Verbitterung, Verzweiflung sind. Diese inhaltliche religiöse Grundlage ist leider in den Religionen zugunsten von Wahrheits- und Organisationsfragen stark aus dem Blickfeld geraten. Unser Eingeständnis, dass unser Vertrauen faktisch doch schwach ausgeprägt ist, lenkt einmal den Blick auf den einzig aktiven göttlichen Lebensgrund, und es hilft uns, uns anderen Menschen gegenüber nicht überheblich zu verhalten, die "nur" aus Entwicklungsgesetzen und lebensphilosophischen Betrachtungen Erkenntnisse dazu ableiten, was für uns Menschen richtig und zielführend ist.

4. Solidarität und Frieden als unbedingte Konsequenz einer religiösen Hoffnung

Die Entwicklungen der Globalisierung konfrontieren uns immer mehr mit Möglichkeiten und Anforderungen der Verständigung mit Menschen in anderen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Welten. Immer bedeutender werden wirtschaftlich-soziale Gefälle zwischen Staaten und Bevölkerungsgruppen für die politische, ethnische und religiöse Verständigung.

In einer Zeit, in der wir unsere menschliche Entwicklung in neuen kosmischen Dimensionen erahnen, sollten wir erkennen, wie wenig allgemeingültig, sondern beschränkt unsere erlernten religiösen Vorstellungen sind durch Wahrheits- und Ordnungsvorstellungen kultureller Prägung. Aufgrund dieser Erfahrungen fragt der moderne Mensch, warum Welt überhaupt ist und nicht nur ein Nichts, warum der Mensch da ist, zufällig, notwendig oder gewollt, woraufhin der Kosmos und die Menschen sind. Das Wissen von der Evolution gibt uns eine Ahnung von einer möglichen kosmischen Vollendung. Religiöse Orientierung lebt auf kosmischen Spuren:
   - Aus dem eingegangenen Vertrauen gewollt, angenommen, geborgen und eingeladen zu sein
   - Aus der so ermöglichten Sehnsucht und Freiheit, mit diesem ewigen Lebensgrund, der vor uns war und als geschenkter Horizont vor uns ist, eins zu werden und damit befähigt zu Liebe und Frieden

Religionsgrenzen und gar –konflikte entstehen, wenn wir uns anmaßen zu wissen, was Gott an Glaubensbekenntnissen, religiösen Verpflichtungen und Wohlverhalten von uns verlangt, wenn wir daraus Werte ableiten und soziale und institutionelle Grenzen ziehen. Die absolute Konsequenz zum Frieden ergibt sich aus religiöser Lebenssicht, wenn wir ernsthaft auf die Gratis-Annahme vertrauen, dass die Menschen insgesamt von Anbeginn gewollt, angenommen und eingeladen sind, nicht aufgrund ihres Wohlverhaltens und ihrer Verdienste. D. h., wenn wir aus der Freude, wie an uns gehandelt wird, diesem Gesetz innerlich folgen, frei sind, so zu handeln, wie an uns gehandelt wurde.

An Weihnachten 2004 ließen die Mediennachrichten Menschen in aller Welt in erschütternden Bildern am Tod von zigtausenden Menschen und der Vernichtung von Existenzgrundlagen in erschreckenden Ausmaßen teilnehmen. Um Ostern 2005 zeigten die Medien ein Phänomen der Hoffnung. In einer Zeit, in der weite Bevölkerungskreise auch in den westlichen demokratischen und weithin wohlhabenden Gesellschaften das Vertrauen in politische und administrative Systeme, in die Führungschichten und das Management von wirtschaftlichen, politischen, ja sogar kirchlichen Interessenvertretungen und Verbänden verloren haben, erlebten Menschen, nicht nur Christen, eine wahrhafte Führungspersönlichkeit. Sie sahen in Papst Johannes Paul II. einen dynamischen, aufrechten und glücklicherweise auch weithin erfolgreichen Kämpfer für Gerechtigkeit zwischen den Menschen, gegen Unterdrückung, Fremdbestimmung und Krieg und für Verständigung zwischen Religionen und Völkern. Viele mochten seine konservativen religiösen Positionen und die daraus abgeleiteten moralischen Forderungen als die des traditionellen katholischen Systems nicht teilen. Aber umso attraktiver trat seine persönliche religiöse Grundhaltung in den Vordergrund: die Verpflichtung auf der mitmenschlichen Ebene nicht nur wahrhaftig zu leben, sondern auch glaubhaft in einer religiösen Zuversicht zu verankern. Johannes Paul II. ließ die Kraft durchscheinen, aus der er lebte: das Vertrauen, in der Liebe Gottes zu sein. Er verkörperte diese "starke Erfahrung" und lebte sie wahrhaft. Er bewies dies in seinen schmerzhaften Krankheiten auch dann, wenn er sich nicht mehr sprachlich mitteilen konnte. "Ich bin froh, seid ihr es auch?", so teilte er in seiner von Krankheit und Schmerzen gefesselten Verfassung seinen Halt aus dem Vertrauen in die göttliche Liebe mit. Aus dieser Grunderfahrung – in der er allen Menschen als von Gott geliebten Menschen begegnete, folgte der dynamische, wahrhafte und zuversichtliche Einsatz für Gerechtigkeit, Freiheit, Verständigung und Frieden.

Die religiöse Herausforderung in unserer Zeit liegt nicht darin, einen Einheitsbrei der Religionen anzustreben, auch nicht darin, dass jeder und jede Gruppe sich ihre eigene religiöse Welt konstruiert. Unsere Chance liegt darin, gemeinsam nach dem religiösen Grundvertrauen zu suchen, dem vernachlässigten Fundament institutioneller, geschichtlicher Religiosität. Der "Grundschritt" religiösen Vertrauens liegt vor den (dogmatisierten) Lehren, Riten und Ämterbegründungen der Religionen. Es ist der aktive Schritt jedes Menschen, sich mit dem Kompass seines Bewusstseins in das Abenteuer des Vertrauens in den kosmischen und den eigenen Lebensgrund zu begeben. D. h., sich auf die Annahme einzulassen, gewollt, angenommen und gerufen zu sein. Was aus diesem "Grundschritt" folgt, ist nicht weniger gewaltig. Aus diesem Vertrauen, von Anbeginn in dem Lebensgrund angenommen und geliebt zu sein, folgt, dass wir - so befreit von unseren Ängsten und Zwängen der Eigensicherung - uneigennützig füreinander da sein können. Frieden, Vergebung, Barmherzigkeit folgt daraus, so zu handeln, wie wir vertrauen, dass der göttliche Lebensgrund an uns handelt. Sowohl "Schuld" wie "Verdienst" erhalten darin ein neues Koordinatensystem der Bewertung.

Literaturverweis
Azzam, H., 1988: Die Botschaft des Islam. In: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.): Weltmacht Islam. München, S. 31-68
Baumann, Z., 2003: Liquid love: on the frailty of human bonds. Cambridge, Malden
Cupitt, D., 2001: Nach Gott. Die Zukunft der Religion. Stuttgart
Dalai Lama, 2000: Der Weg zur Freiheit, München
Deutsche Bibelgesellschaft, (Hg.), 1997. "Gute Nachricht Neues Testament
Weidacher, A., 2003: Religiös – Wozu und wie in der modernen Wissensgesellschaft, Berlin, www.orientierung.org.


Anmerkung:
"Freuen dürfen sich alle,
die nur noch von Gott etwas erwarten -, mit Gott werden sie leben in seiner neuen Welt.
Freuen dürfen sich alle, die unter dieser heillosen Welt leiden - Gott wird ihrem Leid für immer ein Ende machen.
Freuen dürfen sich alle, die auf Gewalt verzichten - Gott wird ihnen die Erde zum Besitz geben.
Freuen dürfen sich alle, die danach hungern und dürsten, dass sich auf der Erde Gottes gerechter Wille durchsetzt - Gott wird ihren Hunger stillen.
Freuen dürfen sich alle, die barmherzig sind - Gott wird auch ihnen barmherzig sein.
Freuen dürfen sich alle, die im Herzen rein sind - sie werden Gott sehen.
Freuen dürfen sich alle, die Frieden stiften - Gott wird sie als seine Söhne und Töchter annehmen.
Freuen dürfen sich alle, die verfolgt werden, weil sie tun, was Gott will - mit Gott werden sie leben in seiner neuen Welt".
ebenda Mt 5,2b- 5,12; Lk 6,20-23.