S T I M M E N   F Ü R   D E N   F R I E D E N

Abraham war der erste Jude, der "Erfinder" des Monotheismus. Seine Frau Sarah schenkte ihm den Sohn Isaak, und seine zweite Frau Hagar den Sohn Ishmael. Nach einem Zwist wird Hagar von Abraham in die Wüste vertrieben, und man prophezeit ihrem Sohn, der Ahne eines großen Volkes zu werden: der Araber.

Meine israelische Mutter hat ein gutes Auge, wenn es darum geht, die Herkunft von Orientalen zu erraten. "Das ist ein marokkanischer Jude, das ein irakischer, die ist Jemenitin, aber aus Aden, nicht aus Sanaa. Das sind unsere Cousins". Mit Cousins sind Araber gemeint.

Dieser Begriff geistert in meinem Leben seit der frühesten Kindheit herum. In meiner Muttersprache lautet er "Bnei Dodim", Söhne der Onkel. Es klingt poetisch, biblisch, sippenhaft und familiär. Es klingt auch patriarchal. (Warum nicht Söhne der Tanten oder Töchter der Onkel?) Man kann sogar Sinnlichkeit damit verbinden, bedeutet doch "Dodim" auch Liebhaber - Kann man die Söhne der Liebhaber nicht auch gleich mitlieben?

Man kann nicht, weil man sie nicht kennt. Israelis jüdischer Herkunft bzw. Glaubens kennen kaum bis gar nicht ihre arabischen Nachbarn, sogar wenn sie um die Ecke wohnen.

Die "Cousins" sind Schwarzarbeiter mit schlechtem Image. Für das Militär sind sie "der Feind", für die Bevölkerung "Fundamentalisten, die uns bei der ersten Gelegenheit ins Meer schmeißen würden". Je religiöser und orientalischer die Schichten, um so absoluter auch das Urteil.

Aber es gibt alle Kombinationen und Varianten, meine israelischen Schwiegereltern sind dafür ein Beispiel: Die Mutter polnischer Herkunft, politisch links und zugleich streng religiös und der Vater rechts orientiert mit atheistischer Tendenz. Er erzählt mir immer wieder dieselbe Geschichte, die für europäische Ohren wie ein böses Märchen klingt. Als junger Bub wuchs er mit einem Araber auf, der bei der Familie arbeitete und ihn aufzog wie ein Kindermädchen, er war wie sein eigener großer Bruder.

Als sie Jahre später politisierten, meinte der Araber, "wenn der Tag kommt, an dem alle Juden ins Meer geschmissen werden, wird er ihm und seiner Familie die Kehle durchschneiden, damit sie weniger leiden". Sprich, mit "diesen Leuten" wird es nie Frieden geben, sie werden uns immer hassen. Mein Argument, dass Franzosen und Deutsche über Jahrhunderte die größten Feinde waren und jetzt Freunde geworden sind, wird abgelehnt. "Araber sind aber keine Europäer", heißt es. Für mich ist jedoch der Holocaust ein Beweis, dass auch sogenannte Hochkulturen "über Nacht" in Barbarei verfallen können. Es gibt ohne Zweifel eine Menge Demütigung, Hass, Rachedurst und Neid auf der Seite der 'Besiegten' Cousins. Der Großteil von uns Israelis pflegt jedoch ein Mittel, welches Wunden vertieft: Verachtung.

Verachtung durch Zeit und Raum. Verachtung, Geringschätzung, Überheblichkeit und der Glaube, etwas Besserem anzugehören. Diese Verachtung vor dem Orientalischen empfinden Israelis europäischer Herkunft nicht nur gegenüber den Arabern, sondern auch gegenüber den Israelis arabischer Herkunft. Es ist ein Ergebnis aus dem kulturellen Schock bei der ersten Begegnung zwischen europäischen und orientalischen Juden in Israel.

Für meine eigene Schwiegermutter war es ein sehr saurer Apfel, in den sie zu beißen hatte, das sich ihre drei Kinder alle mit "schwarzen" Partnern vermählten, Juden ägyptischer, irakischer und in meinem Falle zur Hälfte jemenitischer Herkunft, genannt "Misrachim", Israelis aus dem Osten, was eigentlich absurd ist, denn Warschau zum Beispiel liegt viel östlicher als Casablanca. "Misrachi" bedeutet aber auch orientalisch. Es erscheint mir auch zu weit gegriffen. Es gibt zwar eine jüdische Gemeinde in Shanghai und Bombay, diese Gruppen sind aber nicht gemeint.

Ich nenne sie "arabische Juden", mit all meinem Respekt und meiner Hochachtung vor der arabischen Kultur, und mit dem Stolz sogar zu Hälfte zu dieser Gruppe zu gehören.

In Israel schockiert meine Bezeichnung in hohem Maße, bemühen sich doch gerade die orientalischen Juden verzweifelt, sich von den Arabern abzuheben, vielleicht gerade weil sie ihnen so ähnlich sind. Waren nicht sie aber die Hoffnung auf Verbrüderung, das Bindeglied? Ein Europäer würde auch den Unterschied nicht sehen. Sie haben Angst mit "dem Feind" verwechselt zu werden. Meine Mutter wollte nie arabisch sprechen, obwohl es ihre Muttersprache war, sie verstand jedes Wort (und tut es heute noch), aber antwortete auf hebräisch. Sie genierte sich, ihr Fladenbrot als Jause in die Schule mitzunehmen, dort aß man Sandwiches, und wollte im Boden versinken vor Scham, wenn sie ihr Vater in Sarouel (arabische weite Reiterhose) bekleidet abholte. Ein Verdrängen der eigenen Identität, aber zugleich auch der Wunsch, dem Diasporamuster zu entkommen und eine neue israelische Identität zu (er)finden. Von den "weißen" Juden verachtet, voller Komplexe ihrer "schwarzen" Herkunft wegen, ringen sich die orientalischen Juden krampfhaft durch, um an dem Kuchen der deutsch-polnischen Herrschaft mitzunaschen.

Nur wenige haben in den letzten Jahren den Wert ihrer Kultur erkannt und sie gehegt, gepflegt und entwickelt. Die orientalische Musik hat sich zwar einen Platz in den Medien erkämpft, aber leider auf tiefstem Musikantenstadlniveau. Wo bleibt feinste arabische Poesie, Improvisations- und Gesangskunst?

Meine jemenitische Mutter hat sich auch von ihren Wurzeln sehr entfernt. Sie lebt seit vierzig Jahren in Europa und liebt österreichischen Umgang und Manieren. In ihrem Inneren ist sie jedoch Jemenitin geblieben.

Ich betrat Neuland, als ich meine musikalische Arbeit mit dem palästinensischen Chor anging.

Obwohl Nazareth auf israelischem Territorium liegt, fühlen sich die Bewohner als Palästinenser. Mit größter Vorsicht und Diplomatie versuchte ich, mich diesen Menschen zu nähern, sie zu überzeugen, ein gemeinsames Projekt für den Frieden mit einem israelischen Chor zu schaffen. Es war sehr schwierig, eine Bereitschaft zu finden, ich bekam viele Absagen. Nicht so wie Einzelkünstler sind Chöre ja meistens städtische Institutionen, und meist politisch abhängig. Die Programmchefin des ORF, Katrin Zechner, deren Idee dieses Vorhaben war, ermutigte mich, mich durchzusetzen. Dass ich von einem neutralen Drittland kam, war ein Vorteil. Einige Male musste ich beteuern, dass das Vorhaben nichts mit den Fünfzigjahresfeiern des Staates Israel zu tun habe. Das Misstrauen war extrem groß.

War es ein Zufall, dass alle Absagen von männlichen palästinensischen Chören kamen und ich letztendlich zwei Chorleiterinnen als Verbündete fand? Noha aus Jaffo, die den St. Anthony Choir gegründet hat, und Kety aus Nazareth mit dem wunderbaren Ensemble Ud al Nad. Frauen gebären nun mal nicht unter Schmerzen, um dann ihren Spross in den Krieg zu schicken, ein rein pragmatisch-biologischer Grund also. So hatte ich mit dem Collegium Tel-Aviv unter der Leitung des großen Avner ltai Juden, Moslems und Christen zusammengebracht. Ich war selig. Ich konnte die Nächte vor Aufregung nicht schlafen. Mein Kindheitstraum vom Frieden hatte sich in einem Ansatz erfüllt. Und wenn der Ansatz noch so klein war, es ist etwas da, was man fassen kann, und jetzt gilt es, fest daran zu ziehen. Die Begegnung mit den Palästinensern hat mich sehr bewegt. Es kam mir vor, als kannte ich sie schon. Sie waren mir überhaupt nicht fremd. Ihre Art, ihre Ausstrahlung waren mir vertraut.

Ich erinnerte mich an meine Kindheit, die ich oft bei meinen jemenitischen Großeltern verbracht hatte. Sie sind als Kinder im 19. Jahrhundert vom Jemen zu Fuß ins Heilige Land eingewandert, aus Idealismus, aus religiöser Überzeugung in Zion zu leben. Sie verbrachten den Großteil ihres Lebens in Palästina, lang vor der Gründung des Staates Israel, bevor man Hebräisch als Hauptsprache einführte. Ihre Umgangssprache war palästinensisch. Die Großmutter konnte kaum hebräisch. Wenn man die Kultur über die Sprache definiert, waren sie Palästinenser. Sie unterschieden sich von den anderen nur durch ihr Glaubensbekenntnis. Genauso, wie sich die christlichen Palästinenser von den muslimischen unterscheiden. Der Glaube war stark und präsent, aber nie diktatorisch. Es war heikel, aber nicht skandalös, als meine Mutter einen österreichischen Künstler heiratete. Am Samstag, "shabbat", durfte keine Elektrizität in Gang gesetzt werden, als Zeichen für den Ruhetag, und trotzdem erlaubte man uns Kindern fernzusehen. Und als die Frau des Malers Ernst Fuchs mit nackten Beinen und extremen Minirock auf Besuch kam, meinte mein Opa mit Humor, sie habe vergessen, die Unterhosen anzuziehen. (Meine Oma war verschleiert und trug immer knielange Unterwäsche.)
Dieses Bild der religiösen Toleranz ist mir als Vorbild geblieben. Und ich kann mir vorstellen, dass es bei den moslemischen und christlichen Palästinensern genauso war und noch so ist. Religiöse Diktatur ist anscheinend nicht typisch für die Orientalen, sie ist rein politisch. Der warmherzigen, palästinensischen, vertrauten Art bin ich mit diesem Friedensprojekt wiederbegegnet und habe mit Freude festgestellt, wie klein die Unterschiede sind. Es wäre ja auch anzunehmen, dass etliche Palästinenser die Nachkommen der Juden sind, die von den Römern nach Christus aus dem Heiligen Land nicht vertrieben worden sind. Dieses Argument würde uns "den Feind" näher bringen. Die Annahme, ein zum Islam übergetretener Jude zu sein, wäre aber für so manche Palästinenser und Israelis eine Provokation. Nur mit Respekt und Toleranz schaffen wir einen in unserem Fall musikalischen Dialog und merken, wie viele Berührungspunkte es zwischen jüdischer, christlicher und muslimischer Musik gibt, wie sehr die jüdisch-orientalischen Klänge als Bindeglied wirken, gerade die jüdisch-jemenitischen Gesänge, die stark an gregorianische Chöre erinnern, zumindest von den Tonleitern her. Von den Tonleitern her gibt es auch etliche Berührungspunkte vom Cantoralen und Hassidischen Gesang mit der arabisch-moslemischen Melodienführung und Kadenz. Ein Dialog, der nicht nur im Nahen Osten verständlich ist, sondern überall; die musikalische Sprache wirkt universell. Direkte Verwandtschaft zwischen den drei monotheistischen Religionen findet man in der mittelalterlichen Hochkultur der iberischen Halbinsel bis zum Jahre 1492, dem Beginn der Inquisition. Juden, Christen und Moslems lebten miteinander in Harmonie und intensivem Kulturaustausch.

Nicht nur im Bereich der Musik gibt es Überschneidungen und Parallelen zwischen den drei monotheistischen Religionen, man findet sie auch in historisch bedingten Ereignissen, die verbinden. Das Repertoire des israelischen Chores ist ein gutes Beispiel dafür: europäische klassische Werke, die natürlich auch christliche Musik beinhalten.

J. S. Bach gehört zum Kulturerbe der "Ashkenasen", das heißt der europäischen Juden, die nach Israel eingewandert sind. Trotz Luthers Antisemitismus und Inquisition kennen und identifizieren sich Israelis, die zum Beispiel Musikschulen leiten, mit den Klängen von Purcell, Monteverdi und Bach. Ich habe den Großteil meiner Kindheit in Wien verbracht und Weihnachten ist ein Teil meines Lebens, obwohl ich es nicht feiere. Es ist immer ein besonderer Tag.

Mit den arabischen Skalen sind nur die orientalischen Juden in Israel vertraut. Für ihre Ohren wie für die der Araber klingt europäische Klassik gleich fremd.

Dann gibt es auch Verbindungen über die Sprache. Die meisten Araber, die in Israel leben, sprechen fließend hebräisch, sind also auf dem Laufenden, was über die israelischen Medien verbreitet wird.

Es steht ihnen frei, von der westlichen Lebensart zu profitieren, ein Punkt, der sie bestimmt von den syrischen oder ägyptischen Palästinensern unterscheidet und möglicherweise bereichert. Auf der anderen Seite sprechen nur wenige Israelis arabisch. Nennt man die deutschen Juden in Israel "Jäckes", so hat es damit zu tun, dass sie auch bei größter Hitze immer Jacken und adrett Strümpfe unter den Sandalen trugen. Heute tragen Jäckes keine Jacken mehr, werden aber immer noch so genannt, bekannt für ihren Ordnungssinn und ihre Pünktlichkeit.

Hat mein israelischer Mann russisch-polnischer Herkunft in seiner Kindheit Knödel, Kartoffelbrei und andere schwere slawische Kost verzehrt, hat sich heute allein schon aus klimatischen Gründen die palästinensische Küche voll und ganz durchgesetzt, Falafell und Tahina sind israelische Nationalspeisen geworden, meine Schwiegermutter verwendet immer mehr Olivenöl und Harissa, nur ihre Mutter, ein Original aus dem Lodzerghetto, bezeichnete den in der orientalischen Küche so beliebten frischen Koriander auf jiddisch "die verstunkene Petersilie".

Mein Kulturerbe und meine Identität definieren sich alleine schon durch meinen Namen. Timna bedeutet Jemen auf hebräisch und ist auch in Israel ein eher seltener Name.

Brauer ist bezeichnend für den Pass, den mein russischer Opa Simon Segal gekauft hat, um bei der Revolution von 1917 nach Österreich zu fliehen. Bevor er meine Großmutter heiratete, wohnte er zusammen mit Adolf Hitler in einem Männerheim. Er kannte schon in den Zwanzigerjahren seine Reden. Trotzdem glaubte er an die deutsche Kultur und ist nicht nach Amerika geflohen, was ihm als Jude das Leben gekostet hat.

Es ist für mich rührend, wenn mich heutzutage immer wieder österreichische Mütter kontaktieren, die ihre Tochter auf Timna getauft haben und dessen Bedeutung erfahren möchten. Ein Beweis für Offenheil und Lust auf das Fremde.
Die Königin von Saba und Auschwitz sind die beiden Pole, die mich geprägt haben, und die folgende Äußerung mag für manche naiv, für andere selbstgefällig, für dritte linksradikal und für vierte als Verrat gelten, aber sie ist die ehrliche Schlussfolgerung meines Erbes: Ich will die Söhne meiner Onkel lieben.

Als der Gründer des Zionismus, der "Wiener" Theodor Herzl, im 19. Jahrhundert nach Palästina kam, suchte er im Hafen von Jaffo einen jüdischen Kutscher, der ihn nach Jerusalem bringen könnte. Die Reise war höchst gefährlich, denn es lauerten überall Räuberbanden, die einen fesselten und in Kaktusfelder steckten. Er fand einen Kutscher, es war mein jemenitischer Opa, Jechiel Dahabani. Es entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen den zwei Männern, zwischen zwei Welten. So schließt sich der Kreis von Palästina nach Israel bis Österreich.

Timna Brauer, Jänner 1999

Die Aufnahmen von Voices for Peace sind in Wien im Dezember 1999 entstanden, zu einer Zeit als der Friedensprozess im Nahen Osten unter einem besseren Stern zu stehen schien. In vollem Bewusstsein der schwierigen momentanen Situation oder gerade deshalb möchten wir mit der Veröffentlichung dieser CD ein Zeichen des Dialoges setzen.
Timna Brauer, August 2001

www.brauer-meiri.com

 

UP

HOME