JUDENCHRISTEN-HEIDENCHRISTEN: ENTWICKLUNG

A) Vorbemerkung
Ich versuche in diesem Vortrag, die Auseinanderentwicklung von Juden- und Heidenchristen zu skizzieren. Zunächst fragte ich mich, wo es sinnvoll wäre, geschichtlich anzusetzen. Beim Judentum im ersten vorchristlichen Jahrhundert, bei der religiös-politischen Situation zur Zeit der Geburt Jesu, oder erst nach der Auferstehung von Jesus, oder erst dann, als die Spannungen zwischen Judenchristen und Heidenchristen auftraten?
Ich habe mich für die religiös-politische Situation entschieden, weil ich denke, dass ohne Vorkenntnis dieser Situation (seien es z. B. nur die Messiasvorstellungen im Judentum) die weitere Entwicklung nicht so leicht nachzuvollziehen ist.

B) Die religiös-politische Situation zur Zeit Jesu
Das jüdische Volk war in den Augen seiner Umwelt vor allem charakterisiert durch die Eigenart seiner religiösen Überzeugungen, die es inmitten völlig andersartiger Kulte und Strömungen entschieden zu wahren suchte. Ohne im Alltagsleben Kontakte mit dieser Umwelt zu scheuen, hat es die wesentlichen Züge seines Glaubens und religiösen Lebens mit auffallender Zähigkeit festgehalten, auch wenn dies schwerste Opfer kostete und vielfache Isolierung gegenüber anderen Völkern zur Folge hatte. Das Herzstück seiner Überzeugungen war sein Monotheismus; dieses Volk wusste sich von dem allein wahren Gott Jahwe in allen Phasen seiner Geschichte geführt, da er sich ihm so oft schon durch sein unmittelbares Eingreifen oder durch das Wort seiner Propheten eindrucksvoll als sein einziger Herr geoffenbart hatte. Mochte dieser Glaube an die Führung eines gerechten und in Treue zu ihm stehenden Gottes in seiner Intensität und Unmittelbarkeit auch Schwankungen unterworfen sein, mochte er in der Spätzeit durch die Spekulationen mancher Rabbiner der Gefahr einer gewisser Erstarrung ausgesetzt sein, nie ist er dem Volk verlorengegangen. Der einzelne Fromme gestaltete aus diesem Glauben an seines Gottes treue und barmherzige Führung seinen Alltag, das Volk als ganzes wusste sich von ihm vor allen Völkern der Welt auserwählt durch den Bund, den er mit ihm geschlossen, um einmal von ihm das Heil für alle Völker ausgehen zu lassen. Dieser Glaube nährte sich durch eine den einzelnen wie das Volk immer wieder aufrichtende Hoffnung auf einen zukünftigen Retter und Erlöser, den ihm die Propheten unermüdlich als Messias verkündet hatten. Aus seiner eigenen Mitte sollte er hervorgehen und in Israel das Reich Gottes errichten, Israel dadurch über alle Reiche der Welt erheben und sein eigener König sein. Diese Messias- und Reich-Gottes-Erwartung wurde in Zeiten schwerer Bedrohung für die religiöse und völkische Freiheit des Volkes der tiefste Quell seiner Kraft im Widerstand. Bei der Verquickung von religiösem Leben und politischer Daseinsform nahm die Messiasidee allerdings leicht allzu irdische, von den Tagesnöten des jüdischen Volkes geprägte Färbung an, sodass manche im Messias vorwiegend den Retter aus irdischer Bedrängnis oder später ganz konkret den Befreier vom verhassten Römerjoch sahen. Aber es gab doch auch im Judentum dieser Zeit Kreise, welche die durch die Propheten verkündete wesentlich religiöse Sendung des Messias nicht untergehen ließen und in ihm den König aus Davids Stamm erwarteten, der Jerusalem ganz rein und heilig machen, der kein Unrecht, nichts Böses dulden, der über ein heiliges Volk in einem heiligen Reich regieren sollte (vgl. Dtn 7,9.13.27). Aus solch glühender Messiashoffnung wurden jene religiösen Lieder geboren, die sich Psalmen Salomos nennen und nach dem Vorbild der biblischen Psalmen die Sehnsucht nach dem verheißenen Retter lebendig und überzeugend aussprechen, wie etwa der Dichter des Ps 17: "Herr, lass ihnen ihren König wiederum erstehen, den Davidssohn, zur Zeit, die du erkoren, Gott, dass Israel, dein Knecht, dir diene. Umgürte ihn mit Kraft, dass er des Frevel Herrscher niederschmettre, mach rein Jerusalem von Heiden, die es so kläglich niedertreten! Dann sammelt er ein heilig Volk, das er gerecht regiert, und richtet dann die Stämme des von dem Herrn, seinem Gott, geweihten Volkes. Er hält die Heidenvölker unter seinem Joch, dass sie ihm dienen; den Herrn verherrlicht er vor aller Welt ganz offenkundig. Er macht Jerusalem ganz heilig und ganz rein, so wie's zu Anfang war. Kein Unrecht mehr geschieht zu seiner Zeit bei ihnen, weil alle heilig und weil des Herrn Gesalbter jetzt ihr König. 0 selig, wer in jenen Tagen leben darf! Gott, lass bald seine Gnade über Israel erscheinen! Er rette uns vor der Befleckung durch unheilige Feinde. Der Herr ist selber unser König immerdar und ewig!"

Neben dem Eingottglauben und der Messiaserwartung kam dem Gesetz ein entscheidender Rang in der religiösen Welt des damaligen Judentums zu. Das Gesetz beobachten, das ist die Aufgabe, die der religiöse Alltag dem Frommen immerfort stellt und ihrer Erfüllung gilt sein ernstes Bemühen; fehlt er dagegen, wenn auch aus Unwissenheit, so muss er Sühne leisten. Aber seine Treue gegen das Gesetz findet seinen Lohn, schon in diesem Leben durch den Segen bescheidenen Wohlstandes, den der Herr schenkt, erst recht aber, wenn das Jüngste Gericht ihm bestätigt, dass er gerecht war in seinem irdischen Wandel und dafür das ewige Leben empfangen darf. Das Gesetz ist jedem Juden in der Heiligen Schrift gegeben, in deren Geist er von früher Jugend an im Elternhaus und später in eigenen Schulen eingeführt wurde. Die Teilnahme am Gottesdienst im Tempel oder Synagoge, die sich in allen größeren Niederlassungen Palästinas fand, hielt die Kenntnis der Schrift wach, die dort in eigenen Predigten erläutert wurde. Da das Gesetz nicht für alle Situationen des Lebens eindeutige Lösungen bereithielt, wurde seine Auslegung eigenen Schriftgelehrten anvertraut, die zu einer wichtigen Institution im religiösen Leben des Judentums wurden. In der grundsätzlichen Hochschätzung des Gesetzes waren alle Juden einig, und doch wurde gerade das Gesetz Anlass zu einer Spaltung des Volkes in verschiedene Richtungen oder Parteien, die auf der ungleichen Wertung beruhte, die man ihm in seinem Einfluss auf das gesamte Leben einräumte. Noch vor Beginn der Makkabäerkämpfe war die Bewegung der Chassidim oder Asidäer entstanden, eine Gemeinschaft von ernsten Männern, die nach dem letzten und tiefsten Willen Gottes für die Gestaltung ihres religiösen Lebens fragten, der hinter dem Gesetz stehe. Dieser schien ihnen so erhaben, dass sie, einen Zaun um das Gesetz legen wollten, um jede, auch jede unfreiwillige Übertretung unmöglich zu machen. Sie wollten dem Gesetz in einem bedingungslosen, selbst todesbereiten Gehorsam dienen und haben so die opferbereite Haltung mitgeschaffen, die das Volk auszeichnete. Die Asidäer fanden jedoch keine restlose Gefolgschaft für ihre Ideale, besonders die vornehmen Familien und die Führung der Priesterschaft distanzierten sich von ihnen. Diese werden im Neuen Testament Sadduzäer genannt und vertraten einen gewissen Rationalismus, der den Glauben an eine Engel- und Geisteswelt verwarf und die Annahme einer Auferstehung von den Toten verspottete. Für sie hatten vor allem die fünf Bücher Moses, die eigentliche Tora, einen ausgesprochenen Autoritätscharakter. In politischen Fragen neigten sie gegenüber ihren Herren zu einer opportunistischen Haltung, im ganzen stellten sie eine - wenn auch einflussreiche - Minderheit dar.
Die zwar nicht der Zahl, wohl aber der Geltung im Volk nach angesehenste religiöse Partei zu Beginn des ersten christlichen Jahrhunderts war die der Pharisäer. Obwohl ihr Name soviel wie "die Abgesonderten" besagt, suchten sie bewusst auf das ganze Volk zu wirken und ihre religiösen Anschauungen durchzusetzen, was ihnen auch weitgehend gelang. Sie hielten sich für die Vertreter des korrekten Judentums, Gesetz und seiner Beobachtung hat als der typische Ausdruck jüdischer Religiosität im ersten nachchristlichen Jahrhundert zu gelten. Von den Asidäern übernahmen sie den Grundsatz von der überragenden Bedeutung des Gesetzes für die Lebensgestaltung des einzelnen wie des Volksganzen, sie können deshalb als deren Weiterentwicklung gelten. Sie machten allerdings den Zaun um das Gesetz noch undurchdringlicher, weil sie für jede Lebenslage genau festlegen wollten, welche Haltung jeweils vom Gesetz gefordert werde.
Diese eingehende Gesetzesauslegung fand ihren Niederschlag in der Mischna und im Talmud, in denen den Auffassungen früherer Lehrer höchstes Gewicht beigemessen wird, sodass die Tradition in der Schriftgelehrsamkeit der Folgezeit eine überragende Rolle spielte. Der Versuch, jede nur mögliche Situation des Alltags durch eine Gesetzesinterpretation zu erfassen, führte zu einer Exegese, der jede Wortpartikel wichtig war und die aus Nebensächlichkeiten abstruseste Konsequenzen ziehen konnte. Weit verhängnisvoller war die daraus fließende kasuistische Grundhaltung in allen Fragen des sittlichen Lebens, die die freie sittliche Entscheidung des einzelnen unmöglich machte oder verfälschte. Dabei wurden die pharisäischen Schriftgelehrten in Einzelfallen wieder zu Konzessionen veranlasst, die ihren eigenen Prinzipien widersprachen, weil sie doch Entscheidungen treffen mussten, die für das ganze Volk auch durchführbar waren. Bei solch kasuistischer Grundhaltung waren Meinungsverschiedenheiten unter den Schriftgelehrten nicht zu vermeiden, und so bildeten sich gewisse Schulen in der
Schriftauslegung, die durch die Namen führender Gelehrter gekennzeichnet sind, wie etwa die Schule des Schammai oder des Hillel: Im öffentlichen Leben legte der Pharisäer Wert darauf, gleichsam beispielhaft die rechte Einstellung zum Gesetz zu demonstrieren, und nahm dafür gewisse Ehren wie die Anrede Rabbi oder den ersten Platz in der Synagoge entgegen. Zuweilen wird bis in seine persönliche Frömmigkeit hinein eine eitle Selbstgefälligkeit ob seiner gesetzestreuen Leistung spürbar, die mit einer Mischung von Mitleid und Verachtung auf den Sünder, auf das Volk, das vom Gesetz nichts weiß (Joh 7,49), herabschaut.
Solcher Haltung gegenüber traten die großen tragenden Ideen vom Gott Israels als dem Herrn der Geschichte, dessen Willen man sich in Demut und Vertrauen zu beugen hatte, dessen Barmherzigkeit man in hoffendem Gebet erflehen durfte, zurück. Es ist allerdings auch dem Pharisäertum nicht gelungen, das ganze damalige Judentum mit seinen religiösen Anschauungen zu durchdringen. Die Gruppe der sogenannten Zeloten wollte selbstverständlich auch dem Gesetz in Treue dienen, aber in einer betont kämpferischen, martyriumsbereiten Haltung, die den Einbruch alles Heidnischen aktiv zurückwies und es ablehnte, dem römischen Kaiser Steuer zu zahlen oder auch zu positivem Widerstand gegen die heidnische Fremdherrschaft aufforderte, weil der Gehorsam gegenüber dem Gesetz zu solch Heiligem Krieg verpflichte.

C) Beilage: - Religiöse Gruppierungen im Judentum
                     - Politischer und religiöser Hintergrund

D) Die christlichen Anfänge
Die traditionellen Kirchengeschichten lassen die Jerusalemer Urgemeinde mit dem Pfingstfest beginnen und entfalten aus diesem Ansatz ein fragloses Frühchristentum der Eintracht. Demgegenüber hat die Apostelgeschichte wenigstens in einem Punkt ein historisches Gedächtnis bewahrt, indem sie die Vorgänge in Jerusalem nicht einfach unter das Etikett "christlich" stellt. Die Jesusjünger sprachen von dem, was sie erfahren hatten, nur zu Juden, heißt es Apg 11,19c. Erst "in Antiochia nannte man die Jünger zum erstenmal Christen" (Apg 11,26). Wir folgen hier der Analyse von Gerd Theißen, der versucht hat, die Entstehungsgeschichte des Urchristentums mit einer religionssoziologischen Konflikttheorie zu beschreiben. Jesus habe nicht "Ortsgemeinden gegründet, sondern eine Bewegung vagabundierender Charismatiker ins Leben gerufen". Darum seien die entscheidenden Gestalten des frühesten Urchristentums wandernde Apostel, Propheten und Jünger gewesen, die sich von Ort zu Ort bewegten und sich in diesen Orten auf kleine Sympathisantengruppen stützen konnten. "Diese Sympathisantengruppen blieben organisatorisch im Rahmen des Judentums. Sie verkörperten weniger deutlich das Neue des Urchristentums, waren sie doch in die alten Verhältnisse durch mannigfache Verpflichtungen und Bindungen verstrickt. Träger dessen, was sich später als Christentum verselbständigte, waren vielmehr heimatlose Wandercharismatiker. Der Begriff des 'Charismatikers' hält fest, daß ihre Rolle keine institutionalisierte Lebensform war, der man durch eigenen Entschluß beitreten konnte." Diese Wandercharismatiker haben die ältesten Traditionen geprägt; sie bildeten den sozialen Hintergrund für einen großen Teil der synoptischen Überlieferung; auch Paulus und Barnabas waren solche Wanderprediger; für die anderen gilt die Vermutung. Ihr Ethos prägte ein "afamiliärer Zug": sie hatten Haus und Hof verlassen und waren unbehauster als die Vögel, welche Nester, und die Füchse, welche Höhlen haben (Mt 8,20); zugleich hatten sie Verwandtschaft und Familie aufgegeben, denn ihr Meister hatte gefordert: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern und dazu auch sein Leben geringachtet, kann er mein Jünger nicht sein" (Lk 14,26); so waren sie besitzlos, sorgten sich weder um Essen und Trinken noch um ihre Kleidung (Mt 6,25-32; Lk 6,24f) und riskierten persönliche Schutzlosigkeit, sodass sie die linke Backe hinhielten, wenn sie auf die rechte geschlagen wurden, und zwei Meilen mitgingen statt einer, falls man sie dazu nötigte.
Dennoch lassen sich Jesusbewegung und synoptische Tradition nicht allein von den Wandercharismatikern her verstehen. Neben ihnen gab es sesshafte Sympathisantengruppen, also gewissermaßen "Ortsgemeinden", doch nicht so zu verstehen, dass diese ihren Ort jenseits des Judentums gesehen hätten, vielmehr verstanden diese sich erst recht als zum Judentum gehörig, das sie in ihrem Sinne erneuern wollten. Dem Judentum eine "Kirche" gegenüberzustellen, lag zunächst außerhalb ihrer gedanklichen Reichweite. Sie führten die Wandertradition Jesu fort, der seinerseits in den Häusern von Sympathisanten Aufnahme gefunden hatte, zum Beispiel bei Petrus (Mt 8,14), Maria und Marta (Lk 10,38ff) oder Simon dem Aussätzigen (Mk 14,3ff). Einige Frauen hatten Jesus materiell unterstützt (Lk 8,2f). Symphatisierende Häuser dieser Art scheinen auch der Kern späterer Ortsgemeinden gewesen zu sein. Während die Essenergemeinden sich gegenüber dem Judentum insgesamt separatistisch verhielten (durch Besitzverzicht, Noviziat, Prüfung, Eid etc.) und doch zweifelsfrei zum Judentum gehörten, stellte sich die Jesusbewegung durch solche Unterscheidungen zu keiner Zeit aus dem Judentum heraus. Als galiläische Bewegung war sie zunächst auf dem Land zu Hause. Die Synoptiker lassen konsequente Distanz zu den hellenistischen Städten erkennen und eine ambivalente Haltung gegenüber Jerusalem. Die schon hierin angelegten Spannungen trugen zum Scheitern der Jesusbewegung bei ihrem ersten Auftreten in Jerusalem und zur Konfrontation mit der Realität des Tempels bei. Nach dem Tod Jesu entstand jedoch in Jerusalem eine bedeutende Ortsgemeinde, und weiterhin in Damaskus, Cäsarea, Antiochien, Tyros, Sidon und Ptolemais (Apg 9,10ff; 10,1ff; 11,20ff; 21,3ff; 27,3). Es waren hellenistische Juden, die hier der Jesusbewegung Aufmerksamkeit und Erwartung entgegenbrachten, weil sie geeignet schien, das Verhältnis zur nichtjüdischen Kultur und Bevölkerung erträglicher zu machen, nämlich als "ein universalistisches Judentum, das nach außen offen war". Die Jesusbewegung ist als innerjüdische Erneuerungsbewegung in den Jahrzehnten darauf gescheitert. Sie blieb derart peripher, dass der jüdische Geschichtsschreiber Josephus sie nahezu ignorieren konnte. Gerd Theißen sieht die Gründe für dieses Scheitern in den konfliktträchtigen gesellschaftlichen Faktoren des palästinischen Judentums:
"... Fühlt eine Gesellschaft sich bedroht und verunsichert, so greift sie zumeist auf traditionelle Verhaltensweisen zurück, die heiligen Güter der Nation werden demonstrativ hochgehalten, die Abgrenzung gegen alles Fremde wird verschärft, fanatische Parolen haben Zulauf. Eine Entwicklung in diese Richtung ist auch für die jüdisch-palästinische Gesellschaft in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. zu vermuten. Diese Entwicklung aber verminderte die Chancen der Jesusbewegung, die mit ihrer Kritik an Tempel und Gesetz die Tabusphäre der Gesellschaft berührte. Ihre Haltung zu Fremden lief den vermuteten Tendenzen zur Abgrenzung entgegen. Und es ist sogar wahrscheinlich, dass sie oft in die Rolle eines Sündenbocks gedrängt wurde: Die Abneigung gegen die Fremden konnte sich leicht auf die übertragen, die die Abgrenzung gegenüber den Fremden lockerten oder sogar durchbrachen. ... Erst recht musste die Lage der Christen mit den zunehmenden Spannungen vor dem jüdischen Krieg prekär werden.
Die Christen gehörten zur Friedenspartei. Nichts spricht für die Annahme, daß sie sich am Aufstand gegen die Römer beteiligt hätten. Wahrscheinlicher ist, daß sie damals das Land verließen, weil die Situation unerträglich wurde. Nun könnte man so argumentieren: Auch das hillelitische Phärisäertum scheint vor dem jüdischen Aufstand wenig Chancen gehabt zu haben. Es war zu kompromissbereit. Warum setzte es sich nach dem Aufstand durch? Warum hatte das Christentum überhaupt keine Chance, als es darum ging, das Judentum neu zu konsolidieren? Damit kommen wir zu einem zweiten Grund für das Scheitern der Jesusbewegung in Palästina: dem Erfolg des Urchristentums außerhalb Palästinas. Dieser Erfolg musste negative Rückwirkungen auf die Situation der Christen im Ursprungsland der Bewegung haben. Je deutlicher wurde, dass das Christentum die Grenzen des Judentums überschritt und auch unbeschnittene Heiden akzeptierte, um so weniger Chancen hatte es als innerjüdische Erneuerungsbewegung. Denn man kann keine Gruppe reformieren und gleichzeitig ihre Identität in Frage stellen: Das Wirken christlicher Missionare unter Heiden musste so verstanden werden, als sollten die anderen Völker den Juden gleichgestellt werden. Es ist daher verständlich, dass die Fraternisierung von Juden und Heiden in der antiochenischen Gemeinde mit Argwohn beobachtet wurde (Gal 2,11ff). Um das Scheitern der Jesusbewegung als innerjüdischer Erneuerungsbewegung zu verstehen, ist es also notwendig, ihren Erfolg im hellenistischen Bereich zu untersuchen."
Alle Soziologen, die sich mit Sekten befassen, zumal mit solchen millennarischer Tendenz, verbinden mit diesem Typ eine kurze Lebensdauer. Für das Christentum lässt sich nun feststellen, dass es zwar überlebte, aber nicht als millennarischer Kult. Ironisch fragt eine amerikanische Studie: "Was ist schiefgelaufen mit dem frühen Christentum, so dass es das Nichteintreffen seiner ursprünglichen Prophezeiungen nicht nur überlebte, sondern dies in derart spektakulärer Form tat?" Möglicherweise sind die soziologischen Definitionen des frühen Christentums noch nicht genau genug untersucht worden, etwa von welchem Typ es war bzw. ob es überhaupt nur einem einzigen Typ entsprach oder nicht eher ein pluralistisches Modell verkörperte. Theißen fasst seine Sicht der Entwicklung des frühen Christentums so zusammen:
"Der Übergang von der palästinischen Jesusbewegung zum hellenistischen Urchristentum ist mit einer tiefgreifenden Änderung der Rollenstruktur verbunden. Waren im palästinischen Urchristentum die Wandercharismatiker die entscheidenden Autoritäten, so verlagerte sich im hellenistischen Bereich das Gewicht bald auf die Ortsgemeinden: Die in ihnen ansässigen Autoritäten wurden zu den ausschlaggebenden Gestalten des Urchristentums, zunächst als Kollegialorgane, schon Anfang des 2. Jahrhunderts jedoch als monarchisches Bischofsamt (lgnatius von Antiochien), die Nachfolger urchristlicher Charismatiker aber gerieten immer mehr in Misskredit, wie der 3. Johannesbrief zeigt. Eine Folge dieser Umstrukturierung ist, dass die in den hellenistischen Gemeinden entstandene Literatur (vor allem das Briefcorpus des Neuen Testaments) primär an den Interaktionen innerhalb der Ortsgemeinde orientiert ist, wenn es um ethische Weisungen geht.
Das gilt auch für die von dem Wanderprediger Paulus verfassten Briefe. Das radikale Ethos der synoptischen Tradition wird nur zögernd rezipiert. Paulus zitiert kaum Herrenworte. Und selbst wenn er mehrere gekannt hätte, der ethische Radikalismus der Jesusbewegung, ihr Ethos der Familien-, Heimat- und Schutzlosigkeit hätte in den von ihm gegründeten Gemeinden keinen Lebensraum gehabt. In diesen Gemeinden entstand vielmehr ein gemäßigter Liebespatriarchalismus, der sich an dem Bedürfnis sozialer Interaktionen im christlichen Hause orientierte: an den Problemen des Zusammenlebens von Herren und Sklaven, Männern und Frauen, Eltern und Kindern (vgl. die Haustafeln Kol 3,18ff; Eph 5,22ff).
Dieser Prozess wurde durch die Situation der hellenistischen Welt außerhalb Palästinas gestützt. Dem Pulverfass Palästina stand im ersten Jahrhundert eine durchaus befriedete römische Welt gegenüber. Paulus war kulturell wie politisch gut darin integriert. Er war sowohl Bürger der kleinasiatischen Stadtrepublik Tarsos (Apg 21,39) als auch römischer Bürger (Apg 22,25ff). Aufsässige Gedanken lagen ihm fern. Alle Obrigkeit galt ihm als von Gott gegeben (Röm 13,1ff). Mit dem Wechsel aus dem jüdischen Lebensraum in die hellenistische Welt verband sich nun für die Jesusbewegung ein umfassender soziokultureller Wandel, der nicht allein mit einer neuen Sprache, sondern auch mit anderen Religionen und Philosophien konfrontierte. Hinzu kamen neue Werte und Normen. Erst jetzt öffnete sich die 'große Welt', und erst jetzt begann die Entwicklung zu einer selbständigen Religion. Seiner jüdischen Herkunft verdankt das sich nun bald als eigene Größe verstehende Christentum sein reiches Erbe: den Monotheismus, ein hochstehendes Ethos, die Schärfe prophetischer Kritik, ein universalistisches Geschichtsbild, kurz: das Alte Testament mit seinen großartigen Gestalten. Mit all dem übernahm es aber auch den Ethnozentrismus des jüdischen Volkes, den es dahingehend transformierte, dass es sich als wahres Israel darstellte und daran einen Absolutheitsanspruch knüpfte, der nicht mehr durch ethnische Grenzen eingeschränkt und gemildert wurde. Mit diesem Absolutheitsanspruch trat es in einer von relativ großer religiöser Toleranz gekennzeichneten heidnischen Welt auf; es stellte die Grundlagen einer Welt in Frage, von deren Toleranz es gleichzeitig profitierte."

E) Der Apostelkonvent in Jerusalem
Die bisherigen Ausführungen zeigen, von wie großen Spannungen die früheste Jesusgemeinde bestimmt war. Schon im zeitgenössischen Judentum gab es die Spannung zwischen liberaleren Diasporajuden und den streng torafrommen Juden Judäas. Dieser Hintergrund verschärfte die Spannungen zwischen judäischen Judenchristen, hellenistischen Judenchristen und hellenistischen Heiden, die sich der Jesusbewegung anschlossen. In die antiochenische Gemeinde waren Nichtjuden aufgenommen worden, ohne zum Judentum konvertiert zu sein; das heißt, sie hatten sich nicht beschneiden lassen und hielten sich auch nicht an das jüdische Ritualgesetz. Streng toragläubige Juden hatten schon früh darüber in Jerusalem Beschwerde eingelegt. Ihre Intention zielte auf die Unterwerfung der Heidenchristen unter die ebenfalls noch streng torafromme Jerusalemer Urgemeinde. Andernfalls sei die Gemeinschaft mit ihnen aufzugeben. Paulus und Barnabas wurden damals zur Klärung der Verhältnisse nach Antiochien geschickt. Wahrscheinlich hatte der publik gewordene Konflikt schon eine geraume Weile in der Gemeinde geschwelt, ohne dass er offen ausgetragen wurde. Jetzt sollte er nicht mehr in Antiochia, sondern in Jerusalem unter Teilnahme aller Apostel geregelt werden. "Paulus und Barnabas und einige andere von ihnen sollten wegen dieser Streitfrage zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen ..." (Apg 15,2). Natürlich war (und ist) für den torafrommen Juden die Beschneidung das unveräußerliche Zeichen des Gottesbundes, das "Siegel der Erwählung", das seit Abraham die Zugehörigkeit zum Gottesvolk ausdrückte. Über deren Notwendigkeit oder auch Lässlichkeit zu verhandeln, muss ihnen ähnlich indiskutabel erschienen sein, als wollte man heute in den christlichen Kirchen die Taufe zur Disposition stellen. Für die christliche Urgemeinde stand damit "die leibhaftige Kontinuität der Heilsgeschichte auf dem Spiel und damit die Frage nach der Legitimation ihres Anspruchs, das wahre Israel zu sein im Gegensatz zu den Juden, die ihren eigenen verheißenen Messias-König verworfen hatten". Über den Verlauf der Auseinandersetzung gibt es den von Paulus selbst geschriebenen Bericht Gal 2 und die Darstellung Apg 15. Dass wir dieses Treffen hier nicht wie üblich "Apostelkonzil" nennen, sondern einen "Apostelkonvent", entspricht der Absicht, falsche institutionelle und hierarchische Vorstellungen, die erst einer späteren Entwicklung entsprechen, zu vermeiden. Bereits die Apostelgeschichte leistet einem solchen Denken Vorschub, indem sie die Jerusalemer Urapostel und Gemeindeältesten als die maßgeblichen Autoritäten vorstellt. Paulus und Barnabas bleiben hingegen Randfiguren; sie werden nicht mit eigenen Reden eingeführt, sondern allein mit Berichten über göttliche Wunder, die unter den Heiden geschahen, zitiert. Bezeichnend für die lukanische Linie ist auch, dass nicht durch die antiochenische Gemeinde, sondern durch den Urapostel Petrus der entscheidende Schritt zur Heidenmission getan worden sei. Schließlich werden Paulus, Barnabas und andere beauftragt, den verabschiedeten Beschluss zu überbringen. Der Vorgang unterstreicht erneut, wie stark die Rolle der Urapostel und Ältesten gegenüber den Antiochenern herausgestellt wird. Dem Galaterbrief sind diese Strukturen nicht zu entnehmen. Er lässt zunächst die von Paulus fast 17 Jahre durchgehaltene missionarische Unabhängigkeit erkennen. Diese Arbeit und sein "freies Evangelium" wurde von den Uraposteln auf dem Konvent anerkannt: "Deshalb gaben Jakobus, Kephas und Johannes, die als die 'Säulen' Ansehen genießen, mir und Barnabas die Hand zum Zeichen der Gemeinschaft: Wir sollten zu den Heiden gehen, sie zu den Beschnittenen. Nur sollten wir an ihre Armen denken; und das zu tun, habe ich mich eifrig bemüht" (Gal 2,9f). Allerdings hatte Paulus Wert gelegt auf die Zustimmung der "Angesehenen" zu seiner Form, das Evangelium zu verkündigen: "Ich wollte sicher sein, dass ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin". Dabei ging es ihm schon um die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden, zumal er bangen musste, man könne den Heidenchristen die Gemeinschaft verweigern. Doch wäre er zweifellos nicht bereit gewesen, sich von seinem Verständnis der durch Christus versehenen neuen Freiheit etwas abhandeln zu lassen. Sein Streit mit Petrus zeigt, wie klar er im Verständnis seines Evangeliums eine als falsch erkannte Linie bekämpfen konnte. Als Resümee des Apostelkonvents überzeugt Günther Bornkamms Urteil: "Sicher haben die Jerusalemer sich das paulinische Evangelium nicht völlig und in allen Konsequenzen zu eigen gemacht. Es scheint als ob die unmittelbare Einsicht in das von Gott wunderbar Gewirkte beim Zustandekommen der Einigung den stärkeren Anteil hatte als rein theologische Argumente. So darf man die seit seiner Belehrung und Berufung kaum noch zweifelhaften und später in seinen Briefen entfalteten Erkenntnisse über die Kirche als neue Schöpfung Gottes, in der nicht mehr Jude und Heide gilt und alle eins sind in Christus (Gal 3,28), nicht ohne weiteres für die Jerusalemer voraussetzen. Für die judenchristlichen Gemeinden und die Predigt unter den Juden blieb vielmehr das bisher Gültige in Kraft, und auch die Antiochener waren sichtlich weder gewillt noch fähig, mehr zu erzwingen. Doch hatten sie faktisch das Evangelium freigekämpft von jüdischen Beschränkungen, zunächst für ihr eigenes Missionsfeld, aber in gewissem Sinn auch für das jüdisch-christliche Feld, da das keinen anderen Heilsweg neben sich duldende jüdische Verständnis von Gesetz, Heilsgeschichte und Gottesvolk fortan durchbrochen war."

F) Der Apostel Petrus
Sein ursprünglicher Name war Schimon, Sohn des Jona (Mt 16,17) oder des Johannes (Joh 1,42). Sein Beiname Kephas (von aramäisch kepha, "Fels", griechisch petros, "Stein") wurde später zum Personennamen. Er stammte aus Betsaida; dabei handelt es sich wahrscheinlich um eine Ortschaft in der Gaulanitis an der Nordseite des Sees Gennesaret am Ostufer des Jordan. Herodes Philippus, ein Sohn Herodes des Großen, hatte Betsaida im Jahre 2 v. Chr. neuaufgebaut und zu Ehren der Tochter des Kaisers Augustus in Julias umbenannt. Es handelte sich also um einen Wohnbereich hellenistischer Kultur, in dem Zweisprachigkeit herrschte. Die Muttersprache des Petrus war Aramäisch; seine Aussprache kennzeichnete ihn als Galiläer (Mk 14,70), die spätere Missionstätigkeit in hellenistischen Städten dürfte ihm sprachlich durch seine Herkunft erleichtert worden sein. Ebenfalls aus Betsaida stammten sein Bruder Andreas (Mt 10,2) und Philippus (Joh 1,44); das erklärt auch ihre griechischen Namen. Von Beruf war Petrus Fischer (Mk 1,16). Sein späterer Wohnort war Kafarnaum; vielleicht stand die Umsiedlung in Zusammenhang mit seiner Heirat, denn dort lebte seine Schwiegermutter mit im Haus (Mk 1,29ff). Seine Frau begleitete ihn später auf Missionsreisen (1 Kor 9,5). Das einhellige Zeugnis des Neuen Testaments räumt Petrus im Jüngerkreis eine Sonderstellung ein. Er erscheint stets als Sprecher der Jüngergruppe (Mk 8,29; 10,28; Mt 18,21); die Liste der Zwölf wird mit Petrus eröffnet; ihm wurde als erstem die Offenbarung des Auferstandenen zuteil (1 Kor 15,5). Petrus war es, zu dem allein Paulus seine Reise nach Jerusalem machte, um ihn kennenzulernen und sich mit ihm zu verständigen. In der Frage der torafreien Heidenmission scheint Petrus, im Gegensatz zu Paulus, anfangs keine klare Position gehabt zu haben: "Als Kephas aber nach Antiochien gekommen war, bin ich ihm offen entgegengetreten, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte. Bevor nämlich Leute aus dem Kreis um Jakobus eintrafen, pflegte er zusammen mit den Heiden zu essen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich von den Heiden zurück und trennte sich von ihnen, weil er die Beschnittenen fürchtete. Ebenso unaufrichtig wie er verhielten sich auch die anderen Juden, so dass auch Barnabas durch ihre Heuchelei verführt wurde. Als ich aber sah, daß sie von der Wahrheit des Evangeliums abwichen, sagte ich zu Kephas in Gegenwart aller: Wenn du als Jude nach Art der Heiden und nicht nach Art der Juden lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen wie Juden zu leben?" (Gal 2,11-14). In der Jerusalemer Urgemeinde galt Petrus als deren Führer. Später verließ er dennoch die Stadt, vielleicht, weil er dem streng torafrommen Herrenbruder Jakobus ausweichen wollte, dessen Einfluss auf die Urgemeinde immer stärker wurde und der die Leitung der Gemeinde etwa seit dem Jahr 42 von Petrus übernahm. Vorstellbar ist, dass Petrus die Spannung zwischen Paulus und Jakobus auf die Dauer für sich nicht ertragen konnte. Vielleicht ging er aber auch aus Jerusalem fort, weil er sich von Herodes Agrippa I., der den Jakobus hinrichten ließ, ebenfalls verfolgt sah (Apg 12,1-18). Für das Frühchristentum war Petrus eine außerordentlich verbindende und stabilisierende Person. Dies kommt am deutlichsten in dem Mt 16,18 überlieferten Wort zum Ausdruck: "Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen." Darin artikulierte die frühe Christenheit ihre Überzeugung, dass Petrus auf Grund seiner Bevorzugung durch den irdischen Jesus und den österlichen Christus für die Gemeinschaft der Jünger eine tragende und bewahrende Bedeutung hat. Die Apostelgeschichte berichtet von Missionsreisen, die Petrus nach Lydda, Joppe, Caesarea unternahm, doch sind seine Reisewege insgesamt unbekannt. Die früher angezweifelte Tradition, dass er in Rom gewesen sei und dort unter Nero (54-68) den Tod erlitt, wird heute allgemein als richtig angenommen. Ob die Grabungen unter der Peterskirche aber auf das Grab des Apostels Petrus gestoßen sind, lässt sich weder beweisen noch widerlegen.

G) Paulus
Die Herkunft
Wir wissen von ihm aus seinen eigenen Briefen und aus der Apostelgeschichte. Wenn auch Lukas erstaunlicherweise keinen einzigen Paulusbrief gekannt zu haben scheint - angesichts seines Interesses an diesem Mann verwunderlich, oder auch Hinweis darauf, wie langsam sich die Kenntnis seiner Briefe verbreitete -, hat er zweifellos, trotz der Vorbehalte, die seinem Geschichtswerk gelten, auch viele zuverlässige Nachrichten über Paulus verarbeitet. Die verlässlichsten sind da zu finden, wo sie im Schatten der Erzählkunst des Verfassers am ehesten überlesen werden. Woher Lukas seine Informationen hat, verrät er nirgendwo. Vielleicht hat er die von Paulus gegründeten Gemeinden besucht oder über andere von ihnen erfahren. Einige bereits vorher fixierte Aufzeichnungen mag er übernommen haben. Paulus stammte aus Tarsos, wo er etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung geboren wurde; man hält ihn für einige Jahre jünger als Jesus. Tarsos war damals Hauptstadt der römischen Provinz Kilikien in Kleinasien. Sie lag nicht weit vom Mittelmeer an einer Straße, die über hohe Pässe nach Syrien führt. Der heute unbedeutende Ort war damals eine bedeutende hellenistische Stadt, Zentrum griechischer Bildung. Paulus entstammte einer streng jüdischen Familie dieser Diaspora. Genaue Angaben über die Zahl der Juden im Römischen Reich gibt es nicht. Man schätzt, dass sie zur Zeit des Kaisers Augustus und seiner Nachfolger an die 5 Millionen betrug. Das wären dann sieben Prozent der Gesamtbevölkerung gewesen, jedoch konzentrierten sie sich außer in Palästina vor allem in Ägypten und Syrien, zumal in den Städten Alexandria, Antiochia, Damaskus, aber auch in Kleinasien, Zypern und anderen Gebieten des Mittelmeerraumes. Schon vor den Römern hatten die hellenistischen Herrscher den Juden Privilegien und Kooperationsrechte verliehen, und die Römer führten diese Bevorzugung weiter. So konnten die Juden nicht allein ihren Kult, sondern auch eine politische Organisation ihrer Gemeinden betreiben. Ihre Rechte gingen bis zur Befreiung vom Kaiserkult und - in der Regel - auch vom Militärdienst. Im Rahmen dieser Begünstigung lag es, vielen Juden das Bürgerrecht in römischen Städten einzuräumen. Paulus besaß das Reichsbürgerrecht bereits von Geburt an. Zwar hatte er nach dem ersten König Israels den Namen Saul bekommen, doch bezeichnete er sich selbst in allen Briefen stets gut römisch als Paulus. Dass er diesen Namenswechsel erst mit seiner Konversion angenommen habe, ist eine verbreitete aber falsche Ansicht. Selbst die Apostelgeschichte spricht 13,9 lediglich voll "Saulus, der auch Paulus heißt". Die jüdische Namensform dürfte eher für den Familiengebrauch bestimmt sein; in der hellenistischen Gesellschaft hieß er Paulus. Paulus hat in seiner Kindheit und Jugend sicherlich nicht die gleiche Bildung in hellenistischer Philosophie genossen wie sein berühmter jüdischer Zeitgenosse Philo von frischen inneren Lebenserfahrung. "Der hellenistische Kultureinfluss blieb nicht wirkungslos im Diasporajudentum. Dem palästinischen pharisäischen Judentum galt dessen Praxis zu liberal. Insofern standen sich bereits im Judentum zwei Richtungen gegenüber, deren Kontroverse sich in der Genese des Christentums später verschärfte. Deshalb ist es besonders bemerkenswert, dass sich der hellenistische Jude Paulus als junger Mann der pharisäischen Richtung anschloss. "In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferung meiner Väter ein" (Gal 1,14). Die Apostelgeschichte meint, dass er in Jerusalem als Schüler des berühmten Toralehrers Gamaliel ausgebildet wurde. Günther Bornkamm scheint dieser Angabe nicht ganz zu trauen, es jedenfalls für möglich zu halten, dass sie lukanischen Interessen entsprach.

Die Konversion
Wir haben schon gesagt, dass der Verfasser der Apostelgeschichte großen Wert auf die Einmütigkeit der Urgemeinde legte: "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32). Doch schon Apg 6,1-6 hören wir von einem zwischen "Hellenisten" und "Hebräern" aufgebrochenen Gegensatz. Beide Gruppierungen bezeichnen jüdische Christen, doch stammen die griechisch sprechenden Hellenisten aus der Diaspora, während die aramäisch sprechenden Hebräer in Jerusalem zu Hause sind. Der vage Bericht, der ein Organisationsproblem thematisiert, dürfte tatsächlich auf viel tiefer gehende Spannungen und Krisen verweisen. Alle genannten Namen, die mit der Diakonie beauftragt werden, sind griechischen Ursprungs. Der genannte Stephanus aber scheint sich durchaus nicht nur als ein Tischdiener und Caritasgehilfe verstanden zu haben. Er trat als Wortführer der Hellenisten auf, "wirkte Wunder und Zeichen im Volk" und verfocht die Gegenposition zur streng jüdischen Observanz, zumal er im weiteren Verlauf eine große Anklagerede gegen das jüdische Volk hielt, um schließlich unter den Steinwürfen der Menge zu sterben. Am Ende stand eine erhebliche Dissonanz: die Urgemeinde der "Hebräer" verblieb. Im synagogalen Verband des Judentums als auch im Tempelverband in Jerusalem, während sich die hellenistischen Judenchristen nicht länger in Jerusalem halten konnten - Ihre Vertreibung disponierte sie aber um so mehr dazu, die Bindung an Tempel und Ritualgesetze aufzugeben und damit den Weg für ein Missionsprogramm zu ebnen, das in die nichtjüdische Welt führte.
Der hier aufbrechende Konflikt war es auch, der Paulus gegen eine Gemeinde der hellenistischen Diaspora eifern ließ. Zwischen seiner Berufung als Missionar bei Damaskus, fern von Jerusalem, und seinem ersten Gespräch mit Petrus in Jerusalem liegen drei Jahre (Gall,18), und dann vergehen noch einmal 14 Jahre bis zum Apostelkonvent in Jerusalem. Demgegenüber stammen alle seine später geschriebenen Briefe aus einem Zeitraum von nur etwa fünf Jahren. Dieses Verhältnis macht deutlich, wie wenig wir von Paulus aus der bedeutsamen Zeitstrecke nach seiner Bekehrung wissen. Immerhin erlauben die späteren Angaben, seiner Spur zu folgen: Der neu Berufene verzichtet auf jede Beratung mit den Jerusalemer Uraposteln und geht für zweieinhalb bis drei Jahre von Damaskus aus in die ostjordanische Landschaft, damals mit hellenistischen Städten wie Petra, Gerasa und Philadelphia, dem heutigen Amman, besiedelt. In Petra war die Residenz des von Paulus 2 Kor genannten Nabatäerkönigs Aretas IV. (9 v. Chr. - 40 n. Chr.). Es ist zu vermuten, dass er hier bereits das Evangelium verkündete; falls es so war, dürfte seine Arbeit ohne nennenswerten Erfolg geblieben sein, denn weder er noch die Apostelgeschichte berichten von einer Gemeindegründung. Vielleicht musste er seine Arbeit irgendwelcher Ahndungen wegen abbrechen und nach Damaskus zurückkehren, denn selbst dort stellte ihm noch ein Beauftragter des Nabatäerkönigs nach, so dass sich Paulus in einem Korb die Stadtmauer hinunterlassen musste, um zu entkommen (2 Kor 1,2; Apg 9,23-25). Zwei bis drei Jahre nach seiner Bekehrung also ging Paulus zum ersten Mal nach Jerusalem, um Kephas kennenzulernen; er traf auch den "Herrenbruder Jakobus", sonst keinen der Apostel, und von einer Begegnung mit der Gemeinde wird auch nichts gesagt. Vom Inhalt dieser Begegnung ist nichts überliefert, doch wenn eine Vermutung erlaubt ist, dann wird man sicherlich über das Verständnis des Evangeliums, das beide bewegte, gesprochen haben. Möglicherweise hat die vordem feindliche Beziehung auch jetzt Vorbehalte zurückgelassen, denn warum sonst bleibt die Distanz zu den übrigen Aposteln bestehen? In der Folgezeit wirkte Paulus als Wanderprediger in Syrien und Kilikien, lebte auch wieder in seiner Heimatstadt Tarsos und wurde von dort von Barnabas zur Mitarbeit nach Antiochia geholt (Apg 11,25). Antiochia ist jene Stadt, wo "man die Jünger zum erstenmal Christen nannte". Es war die Hauptstadt Syriens, nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt des Römischen Reiches. Hier hatte bereits vor Paulus das Christentum den jüdischen Rahmen überschritten und hellenistische Nichtjuden erreicht.

martinsoell@utanet.at

 

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