"Wie der Dschihadismus begann"

von Kurt Seinitz

Im Herbst 1979 brachten muslimische Terroristen am heiligsten Ort des Islam zehntausende Gläubige in ihre Gewalt. Von dem Terrorakt führt eine direkte Linie, eine blutige Spur, zum Angriff auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo".
Die Attentäter kamen im Morgengrauen. Am 20. November 1979 hatten sich Zehntausende in der Großen Moschee der saudischen Stadt Mekka rund um die Kaaba versammelt, dem heiligsten Ort des Islam. Am letzten Tag der Pilgerfahrt warteten sie gegen 5 Uhr auf den Beginn des Frühgebets. Doch dazu sollte es nicht kommen.
Mehrere hundert Attentäter unter den Pilgern zogen Waffen, die sie hineingeschmuggelt hatten. Sie erschossen die Wachen und brachten die Gläubigen in ihre Gewalt.
So wollten sie das für sie korrupte Königshaus stürzen. Mehr als zwei Wochen brauchte die Armee, um die Geiselnahme in blutigen Kämpfen zu beenden. Hunderte starben, darunter viele Unschuldige.

Schlüsselerlebnis für den jungen Osama bin Laden
Die Geiselnahme war die Geburtsstunde des modernen Dschihad. Vor dem Terrorakt in Saudi-Arabien führte eine direkte Linie zum Angriff auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" in Paris.
Für einen damals jungen Mann war die Geiselnahme ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg in den Krieg gegen Ungläubige. Sein Name: Osama bin Laden.
Populär konnte die Dschihad-Ideologie in den 1970er-Jahren vor allem deswegen werden, weil sie ein Vakuum füllte. Nach der schmachvollen Niederlage im Sechstagekrieg gegen Israel 1967 hatten die arabischen Regierungen den Menschen kein sinnstiftendes Angebot mehr zu bieten.
Der bis dahin vorherrschende säkular geprägte arabische Nationalismus hatte ausgedient. Aus seinen "Trümmern" entstand der Dschihad.
Der Dschihad-Experte Guido Steinberg bezeichnete das ganze Jahr 1979 in einem seiner Bücher als "epochemachend für die islamische Welt". Denn weitere zwei Ereignisse gaben radikalen islamischen Bewegungen Auftrieb: die Machtübernahme von Ayatollah Komeini im Iran und der Sowjeteinmarsch in Afghanistan.
Vor allem die Kreml-Invasion am Hindukusch trug zum Erfolg des Dschihadismus bei. Einmarschiert war die Sowjetarmee, um das kommunistische Putsch-Regime in Kabul zu retten. Doch dort formierte sich schnell Widerstand gegen die Russen. Auch zahlreiche Muslime aus anderen Ländern - darunter viele Araber - folgten dem Ruf, die Ungläubigen von afghanischem Boden zu vertreiben.

Russen und Amerikaner als die "Geburtshelfer"
Der Dschihad in Afghanistan führte viele militante Islamisten zusammen, die später als Top-Terroristen Schlagzielen machten. Der prominenteste Name aus der Terror-Riege: Al-Kaida-Chef bin Laden. Er ging als Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington in die Geschichte ein.
Dabei hatten die Amerikaner selber den Dschihad in Afghanistan massiv gefördert - und so einen Sieg der Mudschaheddin über die Sowjetarmee wohl erst möglich gemacht. Der US-Geheimdienst CIA organisierte den Stellvertreterkrieg gegen die Sowjetunion auf afghanischem Boden.

Pakistans Machtspiele mit den Taliban
Die CIA arbietete dabei eng mit dem berüchtigten afghanischen Militätgeheimdienst ISI zusammen, der islamistische Kämpfer förderte. Hamid Gul war Chef des ISI - und nannte bin Laden noch Jahre nach dem Anschlag von "9/11" einen "Freiheitskämpfer".
1989 zogen die Sowjets gedemütigt aus Afghanistan ab. Es war eine Sternstunde für die Islamisten: Die Mudschaheddin hatten die mächtige Sowjetarmee in die Knie gezwungen. Die USA kehrten der unruhigen Region den Rücken, die weitgehend in Vergessenheit geriet - und im Chaos versank.

Bin Laden erklärt 1998 den USA den Krieg
Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Kabul 1992 brach Bürgerkrieg in Afghanistan aus. 1996 kamen die von Pakistan aus unterstützten Taliban an die Macht.
Sie boten einem prominenten Gast Zuflucht: bin Laden, der von dort aus den USA den Krieg erklärte. 1998 verübte Al-Kaida Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Nairobi, im Jahr 2000 dann auf den Zerstörer "USS Cole" im Jemen.

Metastasen des Terror-Krebses
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 weigerten sich die Taliban, bin Laden an die USA auszuliefern. Sie läuteten damit den Sturz ihres eigenen Regimes Ende desselben Jahres ein, nachdem US-Truppen in Afghanistan einmarschierten.
Bin Laden und viele Taliban fanden dann in Pakistan Schutz. Schon bald waren die Stammesgebiete auf der pakistanischen Seite der Grenze zum Rückzugsort von Terroristen geworden. Das US-Magazin "Time" beschrieb in Region im Jahr 2007 als "Talibanistan" und als "nächstes Schlachtfeld im Kampf gegen den Terrorismus".
Von Afghanistan führt die Spur des Dschihad weiter in den Irak. Dort erlangte bald ein Al-Kaida-Mann unrühmliche Prominenz: der ägyptische Kinderarzt Abu Mussab al-Sarkawi. Nach der US-Invasion 2003 führte er im Irak die militante Gruppe an, aus der später die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hervorging. Mittlerweile beherscht der IS große Teile des Iraks und Syrien.
Und auf der anderen Seite der arabischen Halbinsel terrorisiert seit Jahren die Al-Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) den Jemen. Dessen Anführer Nasir al-Wahischi, genannt Abi Baschir, war über Jahre in Afghanistan ein Vertrauter bin Ladens. Heute betreibt AQAP Terrorlager im Jemen - wo einer der Paris-Attentäter eine Kampfausbildung erhalten haben soll.

kurt.seinitz@kronenzeitung.at

(Kronenzeitung 17.1.2015)

  

Siehe auch die Artikel von ...

  1. Carl Power: GottKrieger. Jihad für den Ur-Islam: November 2014
  2. Hans Rauscher, Die Allgegenwart des Bösen: Der Standard 20.12.2014
  3. Ernst Trost, Morgenland: Kronenzeitung 6.1.2015
  4. Hamed Abdel-Samad, Inner-islamischer Kulturkampf auf europäischem Boden: Kurier 11.1.2015
  5. Walter Friedl, Liefert Türkei den Islamisten Waffen?: Kurier 18.1.2015

 

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