Weihnachten 2003: Bethlehem und Jerusalem
Bürgerliche Verniedlichung, kommerzielle Verfälschung und bitterer Streit
Univ. Prof. Dr.
Raymund Schwager (18.11.2003)
Bei der Geburt des Kindes in Bethlehem wurde von himmlischen Stimmen der Friede auf Erden verkündet und Hoffnung geweckt. Doch heute liegt Bethlehem im Bannkreis des Konfliktes um Jerusalem. Obwohl auch diese Stadt den Frieden (shalom) in ihrem Namen trägt, ist sie dennoch - wie schon oft in der Geschichte - zu einer Stadt des Streites und der Gewalt geworden. Der Tempelberg mit dem muslimischen Felsendom und der Erinnerung an den jüdischen Tempel scheint den Konflikt sogar unlösbar zu machen (1), denn entscheidende jüdische und muslimische Kräfte beanspruchen mit unbedingter Härte die Souveränität über diesen 'heiligen' Ort. Christliche Fundamentalisten mischen sich ein und unterstützen jüdische Extremisten mit dem Argument, der jüdische Tempel müsse vor der Wiederkunft Christi wieder aufgebaut werden. So hat sich vor wenigen Tagen der bekannte evangelikale Prediger und Gründer der 'Christlichen Koalition', Pat Robertson, gegen eine Teilung Jerusalems in einen palästinensischen und einen jüdischen Teil und gegen einen Rückzug der jüdischen Siedler aus den besetzten Gebieten ausgesprochen. Er drohte sogar der amerikanischen Regierung, sie würde viele evangelikale Stimmen verlieren, wenn sie einen Druck auf Israel ausüben sollte. Anhänger der drei großen abrahamitischen Religionen, die berufen sind, dem Frieden zu dienen, schüren so den Streit.
Warum tun sie dies? Warum beanspruchen Menschen, die an einen Gott glauben, der allen irdischen Orten gleich fern und gleich nahe ist, einen heiligen Ort für sich allein? Warum hängen sie ihren Glauben an einen Gott, der alles Geschaffene transzendiert, zugleich an irdische Steine? - Trotz der Widersprüchlichkeit scheint der Grund einfach zu sein. Durch den Glauben an die Offenbarung wird der transzendente Gott an irdische Personen, an die die Offenbarung ergeht, gebunden. Gott wählt Menschen an konkreten Orten aus, um sich durch sie kund zu tun, und die abrahamitischen Religionen berufen sich teilweise auf die gleichen Menschen und gleichen Orte, auf Abraham, Palästina und auf Jerusalem.
Auch wir Christen glauben, dass Gott sich geoffenbart hat, ja dass er selber Mensch wurde. Dieser Glaube hat - trotz des Wunders, das er uns nahe bringt, - etwas Gefährliches, denn er bewirkt eine Verschärfung der genannten Problematik. Er war deshalb von Anfang an mit Konflikten verbunden. Schon das hilflose Kind erregte gewalttätige Leidenschaften, und den himmlischen Stimmen an die Hirten von Bethlehem folgte rasch der Kindermord. Wie Jesus, das Kind von Bethlehem, erwachsen wurde und mit seiner herausfordernden Verkündigung begann, bewirkte er selber Streit. Er musste sogar von sich sagen: "Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mt 10, 34), und er erregte im Tempel, am Ort, der bis heute umstritten ist, einen Tumult. Doch gerade da wurde endgültig deutlich, dass sein Weg - trotz der Verschärfung der Auseinandersetzung - letztlich ein ganz anderer ist. 'Reißt diesen Tempel nieder, und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufrichten', hielt er seinen Widersachern entgegen, und er meinte dabei den Tempel seines eigenen Leibes. Dieser sollte von nun an das 'heilige' Gebäude ersetzen. Im entstandenen Konflikt lieferte er deshalb seinen Leib - ohne jede Gegenwehr - der Gefangennahme, der Verurteilung und Folterung und der Kreuzigung aus. Er tat dies im Vertrauen auf das Wirken jenes Gottes, mit dem er sich eins wusste und der ihn nach drei Tagen auferweckte. So wurde sein gemarterter und getöteter Leib in einen neuen lebenspendenden Leib verwandelt, der von nun an von allen genossen werden kann und der alle Menschen - über alle Spaltungen hinweg - zutiefst verbinden will.
In der Menschwerdung Gottes wird den Menschen ihr eigenes verborgenes Geheimnis - ihre ewige Erwählung - kund getan (vgl. Gaudium et spes Nr. 22). Damit dies geschehen kann, muss aber zugleich alles Dunkle und Gewalttätige in unseren Herzen offengelegt werden. In Bethlehem begann sich das Geheimnis der Menschwerdung zu zeigen. Es bringt den Frieden und deckt zugleich den verborgenen Streit auf. Jener Mensch, in dem Gott Mensch wurde, brachte den Frieden und deckte das Dunkle auf, indem er seinen eigenen verwundbaren Leib nicht mehr mit Gewalt gegen feindliche Schläge abschirmte, sondern dem geheimnisvollen Wirken seines himmlischen Vaters überließ. So handelte er, aber in der Welt herrschten andere Gesetze, und sie herrschen weitgehend bis heute. Die Welt ist deshalb in wesentlichen Bereichen noch nicht bei Bethlehem angekommen.
Der Streit um Jerusalem dürfte unlösbar sein, - außer die Lösung wird von Bethlehem her gesucht. Doch Muslime, Juden und auch wir Christen, die wir auf Macht vertrauen oder Weihnachten zum Konsumfest machen, sind innerlich noch nicht beim hilflosen Kind im Stall. Was damals geschah, liegt deshalb nicht hinter uns, sondern noch weit vor uns. Wir sind eingeladen, uns auf den Weg zu machen, um Weihnachten wenigstens langsam zu erahnen.
(1) Vgl. Gershom Gorenberg, The End of Days. Fundamentalism and the Struggle for the Temple Mount. Oxford 2000.