Terror, Islam und die Aufforderung zur
Resignation
Univ. Prof. Dr.
Raymund Schwager (18.11.2003)
Selbstmordterroristen haben die israelische Bevölkerung in den letzten Jahren tief getroffen und verunsichert. Ähnliche Angriffe haben inzwischen im Irak und in Saudi-Arabien begonnen. Eine erste Reaktion mag sein, die ganze islamische Welt dafür verantwortlich zu machen. Doch der Terror wendet sich nicht bloß gegen die Juden und die USA. Er trifft immer mehr auch Muslime, die mit dem Westen zusammenarbeiten, oder Menschen, die sich zufällig im Umkreis der Terrorakte befinden, wie die letzten Angriffe in Istanbul besonders deutlich zeigen. So scheint sich ein vernichtendes Urteil wenigstens über den fundamentalistischen Islam aufzudrängen, der bedenkenlos Unschuldige tötet. Verbrechen werden tatsächlich begangen. Trotzdem werde ich zurückhaltend, wenn ich mich frage, wie Gott wohl über die westliche Zivilisation urteilt, in der es jährlich Hunderttausende oder gar Millionen von Abtreibungen und folglich ein massenweises Töten von Unschuldigen gibt. Ich werde ebenfalls zurückhaltend, wenn ich an die Wirtschaftspolitik des Westens denke, die arme Länder benachteiligt und damit zulässt, dass Unschuldige hungern oder gar verhungern. Aus dieser letzten Perspektive betrachtet dürften wir kaum einen Grund haben, uns über den fundamentalistischen Islam erhaben zu fühlen.
Doch kehren wir zu einer vorläufigeren Perspektive zurück. Menschen hängen instinktiv an ihrem Leben, und so frage ich mich, weshalb sich Hunderte, ja Tausende von Menschen bereit finden, ihr Leben bei terroristischen Akten wegzuwerfen. Mir scheint es dafür nur einen Grund zu geben: sie sehen sich einem Übel gegenüber, das aus ihrer Perspektive so groß ist, dass es um jeden Preis bekämpft werden muss, und das durch kein anderes Mittel als den Einsatz des eigenen Lebens besiegt werden kann. Das westliche politische Denken sieht selbstverständlich alles anders. Es meint, im Recht zu sein, kennt aber als Gegenmittel fast nur die Gegengewalt und den Krieg oder den 'eisernen Hammer' gegen den Terror. Wird diese Strategie auf Dauer erfolgreich sein? Ich zweifle daran aus zwei Gründen. Erstens dürfte dieses Vorgehen viele gemäßigte Muslime in die Hände der Extremisten treiben, und zweitens hat sie jenen vielen Muslimen, die zutiefst von einem Gefühl des Unrechts durchdrungen sind, nichts als Resignation und Demütigung anzubieten. Sie sollen sich gefälligst vor der militärischen Übermacht beugen und die Sicht des Westens teilen! Werden sie es tun? Hier scheint mir die Religion ins Spiel zu kommen. Der Islam vermittelt seinen Gläubigen ein hohes Selbstwertgefühl, und er kennt keine grundsätzlichen Bedenken gegen einen militärischen Kampf, wenn es um die Sache des Islams geht. Aus diesen Gründen dürften viele Muslime die Aufforderung zur Resignation kaum annehmen. Sie fühlen sich einem 'dekadenten' Westen, der keinen Glauben mehr habe, perversen Vergnügen huldige, kaum mehr Kinder wolle und überaltert sei, innerlich überlegen. Sie sehen sich fähig, notfalls ihr Leben zu opfern, während ihre Gegner sich in Weichlichkeit hinter technischen Mitteln verstecken müssten. Der Terror dürfte folglich nicht bloß eine Sache einiger extremer Fanatiker sein, er scheint immer mehr auf einen Kampf der Kulturen hinzudeuten. Sheikh Yassin, der Gründer und spirituelle Führer der palästinensischen Hamas, sieht im gewaltsamen Kampf nur eine berechtigte Reaktion auf den Krieg des Westens gegen die Muslime: "And the evidence shows that the war is against Muslims: in Afghanistan, in Iraq and in Palestine" (vgl. Ha'aretz, 29. Okt. 2003).
Hat der Westen jenen vielen Muslimen, die so fühlen und denken, nicht mehr anzubieten als Resignation vor der wirtschaftlichen und militärischen Übermacht? Glaubt er selber, dass er sie zur Resignation zwingen kann? Zweifelt er innerlich - und dies mit Recht - nicht viel zu sehr an seinem eigenen Vorgehen? Dies sind, so scheint mir, die schwierigen Fragen, die der Terror gegenwärtig aufwirft. Sie verlangen nach viel ernsthafteren Antworten, als das politische Denken mit seiner theoretischen Rede von Demokratie und offener Gesellschaft, die weitgehend nur eine Haltung der Unverbindlichkeit und Beliebigkeit verdeckt, gegenwärtig zu geben vermag. Mahatma Gandhi könnte ein Weg zeigen, den es in all seinen Dimensionen - vor allem auch in den spirituellen - neu zu entdecken gilt. Damit solche neuen Versuche aber auch auf politischer Ebene wirksam werden, müssten die USA und Israel auf dem schwierigsten Feld der Auseinandersetzung, in Palästina, den Muslimen mehr anbieten, als dies bisher der Fall war. Selbst vier ehemalige Leiter des israelischen Geheimdienstes Shin Bet (Ami Ayalon, Avraham Shalom, Carmi Gillon, Yaakov Perry) haben vor kurzem (14. Nov. 2003) auf die gefährliche Sackgasse in der gegenwärtigen israelischen Politik hingewiesen, und hochrangige Dissidente haben zusammen mit hochrangigen Palästinensern in der Beilin-Abed Rabbo oder in der Genfer Vereinbarung (Ha'aretz, 22. Okt. 2003) einen Entwurf für ein Friedensabkommen vereinbart, das beiden Seiten Opfer abverlangt, aber auch den Grundanliegen beider Seiten gerecht werden dürfte (1). Die israelische Regierung wirft gegenwärtig solche Initiativen in Bausch und Bogen. Der Weg in eine bessere Zukunft ist deshalb noch äußerst schwierig, ja menschlich gesprochen fast hoffnungslos. Es bedarf neuer überraschender Ereignisse, wenn sich dennoch ein Tor in eine bessere Zukunft öffnen soll. Durch diese verworrene Situation wird uns deutlich, dass wir Menschen die eigene Geschichte nicht im Griff haben. Eine wahre Hoffnung bedarf des Glaubens, dass Gott, wie Johannes Paul II. immer wieder betont, die Geschichte - trotz aller menschlichen Irrungen - letztlich leitet. Im Glauben an diesen Gott der Geschichte können sich gläubige Menschen im Westen mit gläubigen Muslimen - trotz politischer Gegensätze - schon jetzt treffen, und im Gebet einen Weg finden, die politischen Sackgassen ohne innere Resignation und ohne Rückfall in terroristische Gewalt, gemeinsam zu ertragen.
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Anmerkungen:
(1) Die Verteilung dieses Entwurfs an alle israelischen Haushalte begann am 17.
Nov. 2003