Brauchen wir denn überhaupt noch eine Religion? - Das werden heute viele fragen, die vom Christentum und insbesondere von der christlichen Kirche gründlich enttäuscht sind - und zwar mit Recht enttäuscht. Insgeheim und unausgesprochen hat sich unsere Zivilisation bereits daran gewöhnt, ohne Religion zu existieren. Denn was wir haben, kann nicht wirklich als "Religion" bezeichnet werden, sondern es ist nur noch eine blasse Reminiszenz. Eine Religion gibt echte Antworten auf die entscheidenden Fragen des Lebens, anstatt nur noch Gehorsam gegenüber Dogmen und Popanzen zu fordern.
Gehorsam, das ist bekanntlich etwas, das Diktaturen fordern, nicht jedoch freie Gesellschaften und Kulturen. Gehorsam wird gefordert, wo der Zweifel bereits zu mächtig geworden ist. Gehorsam wird gefordert, wo Angst vor echten Alternativen herrscht.
Die Religion hat sich heimlich verabschiedet, wozu also mit dieser unseligen Sache wieder anfangen, wo wir doch endlich frei davon geworden sind? Dazu lohnt es sich, einmal einen genaueren Blick auf die gegenwärtige Verfassung unserer Kultur und Gesellschaft zu werfen.
Lebt diese Kultur echte Antworten auf die entscheidenden Fragen des Lebens?
Erblüht sie in diesem Wissen und in der Genugtuung, diese Antworten zu leben und die dadurch freigesetzte Kraft, Positivität und Zuversicht freudig ausdrücken zu können? Offensichtlich nicht! Was wir sehen müssen, das sind die Folgen der Verdrängung und Verleugnung der tieferen spirituellen und eben auch religiösen Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen.
Die meisten heutigen Menschen wissen, oder zumindest spüren sie es unterschwellig, dass ihnen diese Antworten fehlen, und was dabei herauskommt, das ist eine einzige gigantische Ablenkungsbewegung. Die ganze heutige Industrie lebt vorwiegend davon. Die Menschen müssen "unter-halten" werden, da sie sonst gar noch in sich "zusammen-fallen" könnten. Sie brauchen einen ständigen Lärm und eine ständige Berieselung mit bunten, grellen, lauten, schrillen und chaotisch auf sie einstürmenden Sinneseindrücken, um nicht mehr zur Ruhe zu kommen - denn diese Ruhe würde ihnen gefährlich und bedrohlich erscheinen. Denn in dieser Ruhe und Stille, da könnte diese Frage wieder aufkommen und ihnen gefährlich werden:
Wozu lebst du?
Was willst du hier eigentlich wirklich?
Wozu gibt es dich
überhaupt?
Genau diese Art von Fragen ist so ziemlich das letzte, was der heutige Zivilisationsmensch noch gebrauchen kann, sie sind die Killer seines mühsam zurechtgebastelten Gebäudes aus Selbsttäuschungen und Lebenslügen, Ablenkungen und Zerstreuungen, seinen hilflosen Versuchen, sich in Freizeit und Konsum so zu betäuben und zu beschäftigen, dass ihm diese Fragen hoffentlich nie, nie, nie sein Gewissen wachrufen werden.
Man kann nun die Leute leicht dafür schelten und verachten. Auf der anderen Seite zeigt die Geschichte der Menschheit sehr anschaulich, dass es ein Problem der Kultur ist und da wiederum ein Problem der Religion. Kulturen mit einer intakten, im Sein der Menschen tief verwurzelten, also einer wirksamen, funktionierenden und fruchtbaren Religion sind gesund, kraftvoll und vor allem inspiriert. Es sind diese Kulturen, die die großen Leistungen der Menschheit hervorgebracht haben, man denke nur an die großartigen europäischen Kathedralen oder an die prachtvollen Tempel des Buddhismus, an die subtile ornamentarische Kunst des Islam oder die Errungenschaften der Griechen. In diesen Kulturen berührten sich Inneres und Äußeres des Menschseins, anstatt voneinander abgetrennt und einander entfremdet zu sein. Und das Wissen um den eigenen Lebenssinn - das ist der eigentliche Kraftquell der Zuversicht, der Freude, der Kreativität.
Was unserer Zeit mehr denn je fehlt, das ist nicht nur eine Religion, sondern das ist die richtige, die passende, also die den Erfordernissen des Hier und Heute entsprechende Religion.