KOMMENTAR DER ANDEREN | EROL ÖZKORAY
17. Juli 2015, 17:11
Mit dem Wahlergebnis konnte Erdogans Wunsch nach einer islamistischen Türkei
gerade noch vereitelt werden. Nun gilt es, ihm keine Möglichkeit zur Rückkehr
zu bieten – dabei sollte den Türken auch Europa helfen.
Während die Verhandlungen zur Bildung einer Koalitionsregierung in der Türkei
laufen, ist es wichtig, sich noch einmal die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom
7. Juni vor Augen zu führen.
Erstens: Die Islamisten, die Meister der Lüge und Täuschung, haben verloren,
und die Volksgruppen in der Türkei wollen nicht länger einen Präsidenten
Erdogan. Zweitens: Die Wähler haben gerade noch den letzten Schritt vermieden,
der sie von einem islamischen Staat trennte. Erdogan, der Islamist, hat nun
keine freie Hand, um seine "neue Türkei" zu vollenden, die nichts
anderes ist als eine sunnitische Diktatur, eine Art Präsidialregime, die auf
einem Islamfaschismus gründet.
Doch heute hören die Politiker diese zwei grundlegenden Botschaften schon nicht
mehr, mit Ausnahme der Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren
Kovorsitzender Selahattin Demirtas als der aufsteigende Stern der türkischen
Politik gilt.
Diese ursprünglich kurdische Partei, die zu einer landesweiten linken
politischen Kraft geworden ist, nahm mit Leichtigkeit die weltweit einmalige
Zehn-Prozent-Hürde zum Einzug ins Parlament und erhielt 13 Prozent oder sechs
Millionen Stimmen. Sie verhinderte damit, dass die herrschende islamistische
Partei AKP nochmals die absolute Mehrheit gewinnt. Dieses Ergebnis beweist, dass
die Volksgruppen der Türkei die Republik und die Trennung von Staat und
Religion behalten wollen, jene zwei entscheidenden Werte für die Gestaltung
einer demokratischen Zukunft. Es erleichtert auch Europäer und Amerikaner, denn
politisch, militärisch und wirtschaftlich ist die Türkei ein Teil des Westens.
Die türkischen Wählerinnen und Wähler haben also im letzten Moment das
Katastrophenszenario vereitelt.
Gerichtliche Untersuchung
Der amtierende Premierminister Davutoglu, den Präsident Erdogan mit der Bildung
einer neuen Regierung beauftragt hat, sieht das allerdings nicht so: Er will
eine Koalitionsregierung, ohne den Fall Erdogan zu diskutieren, der die
Verfassung systematisch verletzt. Denn die Personalisierung der Macht unter
Erdogan, ihre Vereinheitlichung, die nur den Eindruck einer Diktatur und einer
maßlosen Korruption bestätigt, bedarf in der Tat einer juristischen
Untersuchung auf nationaler Ebene. Auf internationaler Ebene hingegen sollten
der schmutzige Krieg, den Erdogan in Syrien führte, wo die Terroristen des
Islamischen Staats finanziell und mit Waffen unterstützt wurden, ebenso wie das
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das während der Gezi-Revolte im Mai und
Juni 2013 am eigenen Volk begangen wurde, und der Völkermord an den Kurden und
Jesiden im Irak und in Syrien, den Erdogan provozierte, normalerweise geradewegs
zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag führen.
Nachdem Erdogan nun aber die Mehrheit im Parlament verloren hat und seine Macht
als Präsident nicht über die Verfassung hinausgehen kann, bleibt ihm nur ein
Ausweg aus der politischen Sackgasse, in die er sich verrannt hat: Neuwahlen
provozieren, um die Mehrheit wiederzugewinnen. Die zwei anderen
Oppositionsparteien, die Republikanische Volkspartei (CHP) der Kemalisten und
die ultranationalistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP) könnten diesen
Weg freimachen. Ihre Vorsitzenden – Kemal Kiliçdaroglu und Devlet Bahçeli
sind nicht in der Lage, die Botschaft der Wähler zu verstehen: Erdogan
endgültig loswerden.
Politische Stimmungen wechseln allerdings nicht so schnell. Um tatsächlich das
Ergebnis bei vorgezogenen Wahlen in wenigen Monaten umzudrehen, könnte Erdogan
versucht sein, die denkbar unheilvollsten Szenarien in die Tat umzusetzen. Er
könnte einen Krieg gegen Syrien lostreten und/ oder das kurdische Volk
provozieren, um einen Bürgerkrieg in der Türkei zu starten. Er könnte mit dem
Feuer spielen, um die Stimmen, die er am 7. Juni an die Nationalisten verlor,
wiederzugewinnen.
Doch diese Szenarien könnten sich ebenso nochmals gegen ihn wenden. Die
türkischen Wähler haben bewiesen, dass man sie nicht für dumm verkaufen kann.
Unter Erdogans Schutzherrschaft nutzen die Islamisten systematisch zwei Mittel:
Lüge und Gewalt. Sie werden alles tun, um an der Macht zu bleiben. Doch wie
weit lässt man sie gehen? Europa muss in all diesen Szenarien eine
Konfiszierung der Macht durch eine islamistische Partei sehen, die dieses Land
nicht repräsentiert. Sie ist eine fremde Macht, eine Widerspiegelung der
Muslimbrüder. Dieser Islamismus dient einer internationalistischen Idee des
Sunnitentums und vertritt in keiner Weise die Bestrebungen eines Volkes, das
für die Demokratie, den Laizismus und die universellen Menschenrechte lebt.
Widerstand und Wandel
Eine Oppositionspartei, die unter diesen Umständen mit den Islamisten eine
Koalition eingeht, wird alles verlieren. Ein denkbares Bündnis der Islamisten
mit den Nationalisten der MHP wäre eine katastrophale Entscheidung für die
Türkei. Doch in der türkischen Gesellschaft gibt es Strömungen, die in der
Lage sind, radikalen demokratischen Widerstand zu leisten: die republikanischen,
laizistischen Türken in Europa, die Kurden und die Aleviten, deren Werte auf
der Gleichheit von Mann und Frau beruhen. Und es gibt den Geist von Gezi, das
heißt den Aufstand für den Schutz der demokratischen Errungenschaften, den
Rechtsstaat und die Laizität. Dies ist bereits der Anfang vom Ende der
Islamisten. Ihre politische Ausschaltung braucht Zeit, aber sie wird kommen,
denn die innere Dynamik in der Türkei gibt es. Wenn es so weit ist, wird das
Volk sie anwenden. Dafür ist es politisch reif genug. (Erol Özkoray,
Übersetzung: Markus Bernath, 17.7.2015)
Erol Özkoray (61) ist wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten zu einer Gefängnisstrafe von elf Monaten und 20 Tagen verurteilt worden, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Er ist Politologe, Publizist und Politikberater, gemeinsam mit seiner Frau Nurten, einer Soziologin, hat er ein Buch über die Gezi-Park-Proteste veröffentlicht. Seit Anfang Juli lebt das Ehepaar in Schweden.