Vorurteile in Zeiten der Globalisierung

Assoc. Prof. Dr. Helmut Lukas
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Vortrag am Dienstag, 5. Oktober 2004, in Wien

"Wir haben da eine Grundtradition, eine Reihe von Institutionen, die auf ihr beruhen, und verschiedene Gruppen, die nicht nach Art der Grundtradition, sondern ihren eigenen Traditionen gemäß leben wollen. Diese Gruppen sind nicht Mörder und Totschläger, sie sind Indianer, Gruppen von Negern, religiöse Sekten aller Art, traditionell denkende Chinesen und so weiter. Ihre Lage ist nicht leicht. Sie stoßen auf eine Mauer von Verboten, Gesetzen, Schreckreaktionen, dogmatischen Behauptungen und einfachem Staunen: wie können vernünftige Menschen so unvernünftige Wünsche haben? (oder umgekehrt, aber nicht zu oft offen ausgesprochen: was kann man von Indianern, Negern, Frauen schon anderes erwarten!) Die Frage ist: was kann ein bestimmter individueller Mensch, zum Beispiel ein Rationalist, in dieser Situation tun?" (Feyerabend 1980:157)(1)

Richterliche Versuche, fremde Wirklichkeiten zu deuten:
Am 31. März 1995 berichtete die "Zeit" über ein Asylurteil in Freiburg. Der Asylbewerber, über dessen Antrag der Freiburger Richter zu entscheiden hatte, kam aus Pakistan, war Arztsohn und Katholik und bat um Asyl in Deutschland, weil es in Pakistan Christenverfolgung gebe und er Folter und Haft zu befürchten habe. Der Richter lehnte die Bitte des Pakistani mit folgender Begründung ab:
". . . kann er (der Kläger) nicht als glaubwürdig angesehen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Täuschungen und Fälschungen in Pakistan - wie auch in anderen orientalischen Ländern - derart häufig verbreitet und üblich sind, dass Unehrlichkeit geradezu als ein sozialtypisches Phänomen zu betrachten ist, welches dort nicht in gleichem Maße einem gesellschaftlichen Unwerturteil unterliegt wie in den von christlichen Traditionen noch stark beeinflussten europäischen Ländern . . ." (zit. n. "Die Zeit", 31.3.1995:65)
Pakistanische Katholiken lügen mithin, weil dies in Pakistan und anderswo im weiten Orient, anders als im ehrlichen christlichen Europa, eben sozialtypisch ist.

1. Ausgangsproblem: ethnische Konflikte und Diskriminierung

Seit den 90er Jahren erschütterten ethnische bzw. religiöse Konflikte nicht nur den Balkan und den Kaukasus, sondern entfalteten auch in weiten Teilen des asiatischen Kontinents ihre Sprengkraft. Der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld zählte zwischen 1945 und 1990 rund 160 bewaffnete Konflikte (2) (ohne Kämpfe der Spanier gegen Basken, Franzosen gegen Korsen, usw.) (Andere Untersuchungen gehen von 200 bis 300 bewaffneten Auseinandersetzungen aus, je nach Beurteilung und Konfliktform.). Von diesen sind drei Viertel der Kategorie low intensity conflicts (LIC) zuzuordnen. Sie brechen eher in "weniger entwickelten" Teilen der Welt aus; in den wenigsten Fällen sind auf beiden Seiten reguläre Streitkräfte daran beteiligt; es gibt keinen Einsatz hochentwickelter Kollektivwaffen. Flugzeuge, Panzer, Raketen, schwere Geschütze und andere komplizierte Waffensysteme spielen bei "low intensity conflicts" eine marginale Rolle. Die Gesamtzahl der Toten in den sogenannten "low intensity conflicts" beläuft sich seit 1945 auf zirka 20 Millionen. Sehr oft handelt es sich bei den nichtmilitärischen LIC um ethnische oder religiöse Spannungen, die in gewaltsamen Auseinandersetzungen mündeten (kollektive Identität + Ansprüche: Anerkennung, Autonomie, gegen Bevormundung und wirtschaftliche/politische Diskriminierung, Kampf um Ressourcen etc.). Diese nicht-trinitarischen Kriege nehmen rasch zu (3). Für Creveld ist die Vorstellung, der Krieg sei – in Ergänzung zu Clausewitz – die Fortsetzung der Religion, auch in ihren extremsten Formen, längst noch nicht tot. Religiöse Einstellungen, Überzeugungen und Fanatismus würden künftig eine größere Rolle bei der Motivation eines bewaffneten Konfliktes spielen als in den letzten 300 Jahren (4). Nicht-trinitarische Kriege zeichnen sich durch den Angriff auf symbolische Objekte aus (vgl. Balkankrieg in Bosnien ab 1992: Vergewaltigungen andersgläubiger Frauen, Zerstörung von Moscheen und Gotteshäusern). Verstärkter Einsatz von verbotenen Waffen (Gas, Biowaffen), da diese besonders billig sind.

Beispiele für bewaffnete Konflikte (kein Anspruch auf Vollständigkeit!):
Im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion und der (Wieder-)Entstehung unabhängiger Staaten in Osteuropa kam es zu einer ganzen Reihe ethnisch-religiös motivierter Konflikte (wobei das multiethnische Kaukasus-Gebiet besonders stark betroffen ist). Ferner: Konflikte im Gefolge der Teilung Indiens nach dem 2. WK. Jüngeren Datums: Ayodhya-Konflikt zwischen Hindus und Muslimen (5), die Bombay-Unruhen etc. Der Bürgerkrieg in Biafra, die Tutsi-Hutu-Massaker in Burundi und Ruanda, die tribalen Konflikte in Angola, der Kampf der Tamil-Tigers gegen die von buddhistischen Singhalesen dominierte Regierung in Sri Lanka. Die sog. „Rassenunruhen“ in Malaysia (1969) sowie die extrem blutigen Massaker in Indonesien (1965/66) mit einer astronomischen Opferzahl (zwischen 0.5 und 1 Mio. Tote!!!). Die immer wieder aufflackernden Kurdenaufstände (Türkei, Irak, Iran). Der jahrzehntelange Krieg zwischen den arabisch-islamischen Fundamentalisten im Norden Sudans und den christlich-animistischen nilotischen Schwarzen des Südens (begleitet von Hunger- und Flüchtlingskatastrophen). Die jüngsten Vertreibungen und Massaker an der schwarzen Bevölkerung in Dharfur (Westsudan) durch arabische Milizen (mit stillschwiegender Billigung durch die Regierung in Khartoum). Die arabisch-israelischen Kriege und der chronische Palästina-Konflikt. Kriege in den Städten Beirut, Sarajevo und Mogadishu. Gegen Ende eines 14-jährigen Bürgerkrieges (August 2003) war die Hauptstadt Monrovia vom Rest des Landes (Liberia) isoliert und von fremden Friedenstruppen besetzt. 1991 Massenflucht von 200.000 Muslimen Burmas / Myanmars nach Bangladesh; 120.000 Hindus mussten Kaschmir verlassen. Zypern besteht bis heute aus einem griechischen und einem türkischen Teil; Tibet wird in einer Art internem Kolonialismus von Beijing aus bevormundet. West Neu Guinea wird von nicht wenigen Papua als unrechtmäßig annektierte Provinz angesehen; ähnlich sehen viele Katholiken ihr Nordirland als Kolonie Großbritanniens. Separatisten gibt es es in Quebec (Kanada) wie auch im Baskenland (Spanien). Auch im hochentwickelten Japan gibt es das im Ausland kaum bekannte Probleme mit der koreanischen Minderheit; ähnlich unbekannt sind die Probleme Schwedens mit der finnischen oder die Brasiliens mit den marginalisierten Indianern. Praktisch nirgends gibt es so etwas wie eine an das Aufklärungsideal erinnernde universelle Republik, die von Staatsbürgern bewohnt ist, die einzig und allein ihrer Regierung und nicht irgendeiner Ethnie gegenüber loyal sind (state loyalty vs. primordial loyalty).

Im Mai 1998 gab es in Indonesien die schwersten Unruhen seit dreißig Jahren, und sie stürzten das Land teilweise in Chaos und Anarchie. In der Hauptstadt Jakarta zogen Zehntausende plündernd durch die Straßen, zündeten Häuser und Autos an, zahlreiche chinesische Frauen wurden vergewaltigt (6). Für die einfachen Menschen, Angehörige des 90 Prozent umfassenden muslimischen Anteils an den 200 Millionen Indonesiern, die mit einem Dollar am Tag auskommen müssen, waren die Chinesen, die nur 8 Millionen Menschen zählen, aber den größten Teil der Volkswirtschaft beherrschen (7), mitschuldig an der Wirtschafts- und Währungskrise. Es waren fast ausschließlich chinesische Geschäfte, die geplündert oder in Brand gesteckt wurden (8). Die Chinesen, unter ihnen viele Christen, waren und sind auch nach der Ablöse Präsident Suhartos besonders gefährdet, da sie eng mit ihm und seiner durch Korruption ungemein reich gewordenen Familie zusammenarbeiteten, oft die ‘Paten’, die Ideen- und Kapitalbringer, waren. Zudem wurde den chinesischstämmigen Geschäftsleuten vorgeworfen, sie hätten ihr Vermögen ins Ausland geschafft und so die ökonomische Misere verschlimmert. 1999 sind ethnisch-religiöse Spannungen, die lange für überwunden galten, von neuem hervorgebrochen. Besonders seit dem Zusammenbruch des 32 Jahre dauernden Suharto-Regimes häufen sich in Indonesien gewaltsame Regionalkonflikte. Besonders nach der Loslösung von Osttimor brachen fast überall in Indonesien gewaltsame Konflikte aus. Der Großteil dieser Gewaltausbrüche wird von vielen Beobachtern mit schon lange bestehenden ethnischen und religiösen Differenzen „begründet“. Indonesien ist ein multiethnischer Staat, in dem es genau genommen keine ethnische Mehrheit gibt. Dennoch dominieren die Javaner – Vertreter der zahlenmäßig größten ethnischen „Minderheit“ (ca. 45%) – das politische Leben in Indonesien. Indonesien, das von der „Asienkrise“ am schlimmsten getroffen wurde, drohte Ende der 90er Jahre zu einem „zweiten Jugoslawien“ zu werden: Dem riesigen, aus mehr als 17.000 Inseln bestehenden Land, in dem hunderte Ethnien und Sprach- sowie unterschiedlichste Religionsgemeinschaften nebeneinander existieren, drohte der Zerfall:

(1) Die mit Abstand gewaltsamsten Auseinandersetzungen fanden auf den Molukken statt. Seit ihrem Ausbruch in Ambon Anfang 1999 haben über 5.000 Menschen ihr Leben verloren; von 1,1 Mio. Molukkern waren über 500.000 auf der Flucht, davon ca. 300.000 Christen und ca. 200.000 Moslems.

(2) 1997, gegen Ende des Suharto-Regimes kam es im Sambas-Gebiet (West-Kalimantan), zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen maduresischen Immigranten auf der einen Seite und Dayak sowie Malaien auf der anderen Seite. Diese Unruhen kosteten hunderten Menschen das Leben und führten zu einer Flüchtlingswelle (mehr als 50.000 Maduresen). Diese ethnischen Spannungen kulminieren immer wieder (auch 1999 und danach) in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten, Schwerverletzten und Flüchtlingsströmen.

(3) Dazu kamen Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, in welchen größere Teile der Bevölkerung einer Region/Provinz sich auf der Grundlage ethnischer - und manchmal auch religiöser - Motive gegen die Zentralregierung auflehnten und mehr oder minder offen autonomistische oder separatistische Ziele verfolgten, wie z. B. im früheren Ost-timor (heute unabhängig) oder in Aceh bzw. Westneuguinea (Papua).

Seit Jänner 2004 ist im islamisch-malaiischen Süden Thailands ein rasantes Ansteigen ethnisch-religiös motivierter Gewalt zu verzeichnen.

Flüchtlingsdramen:

Ethnisch-religiöse Konflikte wurden in der letzten Zeit vor allem in Afrika, aber auch am Rande Europas zum Auslöser neuer großer Fluchtbewegungen. Als Beispiele seien die Flüchtlingsdramen in Ruanda, Burundi, Kongo (Zaire), Sudan, Somalia oder die ethnischen Vertreibungen im ehemaligen Jugoslawien und im Nordkaukasus sowie Flüchtlinge vor den Bürgerkriegen in Liberia, Afghanistan oder im Nordirak angeführt (9).

Frage nach den Ursachen dieser Konflikte

Um die Ursachen dieser Konflikte zu erkennen und in Zukunft gewaltsame Auseinandersetzungen zu vermeiden, sind wir gezwungen, uns v. a. mit folgenden Fragen zu beschäftigen:

im Rahmen einer zunehmenden Vernetzung der Welt und der damit einhergehenden Verallgemeinerung von Strukturen der Ungleichheit (Globalisierung), der Entstehung von kultureller Vielfalt einerseits und kultureller Hegemonie andererseits.

Ethnizität – Ethnozentrismus – Globalisierung

In der modernen Diskussion, die den infolge von Migration, Urbanisierung und Globalisierung verstärkt auftretenden interethnischen Kontakten, multiethnischen Gemeinschaften und deterritorialisierten „Ethnien“ Rechnung trägt, ersetzt der Begriff der Ethnizität immer mehr den der ethnischen Identität:

  1. Ethnizität bezeichnet das jeweilige Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Gruppen, unter denen die Auffassung vorherrscht, dass sie sich kulturell voneinander unterscheiden.
  2. Es sind Identitätskonstruktionen (ethnic boundaries (10)), die den Prozess der kulturellen Differenzierung von Bevölkerungsgruppen steuern (11).
  3. Ethnische Unterschiede sind nie absolut. Ethnizität verändert sich im Laufe der Zeit und variiert je nach den Umständen.

Ethnizität – Ethnozentrismus – Abgrenzung:
Beispiel: Im Hinduismus beispielsweise fungiert die Kuh als sakrales Symbol, das die Solidarität und den Gruppenzusammenhalt der Hindus stärkt. Beim Gedanken, dass eine Kuh von einem Muslim geopfert bzw. geschlachtet werden soll, sind Hindu-Männer oft zu Tränen gerührt, und zwar selbst dann, wenn die Opferung / Schlachtung in strenger Abgeschiedenheit durchgeführt wird. Der Anblick einer Kuh, die öffentlich zu einer Opferung geführt wird, versetzt Hindus oft in Raserei, die unter Umständen zu blutigen Unruhen führen kann. So wurden beispielsweise in einer indischen Provinz im Jahr 1931 elf Muslime durch eine Hindugruppe einfach aus dem Grund getötet, weil ein muslimischer Landbesitzer eine Wildbretkeule an einen seiner Pächter und die dort lebenden Dorfleute geschickt hatte, und die Hindus sofort das Schlechteste annahmen und das Wildbret mit Rindfleisch verwechselten (12).

Die Globalisierung begann genau genommen bereits im 16. Jh. mit der Expansion des Kapitalismus im Rahmen des beginnenden Kolonialismus und nutzte Ethnozentrismus, Rassismus und zuletzt auch Nationalismus als systemstabilisierende Ideologien (vgl. Immanuel Wallerstein) (13). Produktion und Konsumtion aller Länder wurde mehr und mehr kosmopolitisch gestaltet. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit trat ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen untereinander. Darauf reagierte z.B. der aus Indien stammende Sozial- und Kulturanthropologen Arjun Appadurai, indem er davon ausging, dass es auf dieser Welt keinen Kontinent mehr gibt, wo es keine Chinesen, oder Araber, oder Inder gibt. Überall gibt es Sprachgruppen, Religionsgruppen, die auf allen Kontinenten zuhause sind. Daher sind wir, so Appadurai, heute mit einer vielfältigen globalen Landschaft von ethnischen und interethnischen Beziehungen und Vernetzungen konfrontiert. Das erfordere ein neues Verständnis dieser ethnischen Gruppen im Rahmen der sog. „Ethnoscapes“ ( = deterritoriale Räume bestimmter ethnischer Gruppen). (14)

Das Spektrum von Merkmalen, die Inhalt bzw. Vorwand für Vorurteile bzw. Feindbilder abgeben können, ist nahezu unbegrenzt und umfasst neben „Anderssein“ oder persönlichen Haltungen und Eigenheiten v. a. die Zugehörigkeit zu Fremdgruppen (Sie-Kategorie im Gegensatz zur Wir-Kategorie), die sich auf folgende Kategorien beziehen können:

Die Vorurteile gegen national, ethnisch, „rassisch“, kulturell oder religiös definierte Fremdgruppen scheinen nicht nur am weitesten verbreitet zu sein, sondern führen auch zu besonders intensiven Formen der politischen Ein- und Ausschließung. Wir wollen uns daher im folgenden auf das Thema ethnische (incl. nationale, rassische etc.) bzw. religiöse Vorurteile und den Ethnozentrismus bzw. religiösen Fundamentalismus konzentrieren.

2. Ethnozentrismus

Wenn wir in einer Kultur ( = gelerntes und intergenerational weitergegebenes System gemeinsamer Ideen, Werte und Normen; symbolische Deutung der Welt) aufwachsen, lernen wir die Welt durch unsere Brillen zu sehen („kultureller Astigmatismus“ (15), Kultursubjektivismus). Die Lebensweise einer anderen Ethnie durch unsere Brille (d.h. nach den Verhaltensnormen und Wertmaßstäben der eigenen Kultur) zu betrachten und zu beurteilen ist Ethnozentrismus. Da wir alle in eine Kultur hineinsozialisiert („enkulturiert“) worden sind und nicht anders können, als uns der erlernten Begriffe, Kategorien, Wertmaßstäbe und Deutungen zu bedienen, sind wir alle mehr oder weniger ethnozentristisch, d.h. wir sehen in der eigenen Lebenswelt das Zentrum von Welt überhaupt (16). D.h.: Bewusst oder unbewusst wird unsere Wahrnehmung, unsere Einschätzung und unsere Haltung gegenüber Angehörigen einer anderen Kultur in hohem Maße durch die in unserer eigenen Kultur erlernten Wahrnehmungs-, Wertungs- und Verhaltensmuster gesteuert. Genau genommen kann daher jedes kulturelle Fremdphänomen nur in den Begriffen und Kategorien der eigenen Kultur wahrgenommen, verstanden und beurteilt werden.

Sich des eigenen kulturellen Astigmatismus’ bewusst zu werden und diesen zu analysieren, ist ein schwieriger und schmerzhafter Prozess. Obwohl wir niemals unsere Brillen absetzen und die Welt so sehen können, „wie sie wirklich ist“, oder durch die Brillen eines anderen sehen können, können wir wenigstens sehr viel über unsere Regeln lernen.

Universal verbreiteter Kultursubjektivismus: Mit einiger geistiger Anstrengung können wir beginnen, uns unserer Codes bewusst werden, die unserem Wahrnehmen, Erkennen, Werten und Verhalten zugrunde liegen und auf diese Weise unseren Kultursubjektivismus zu überwinden (verstehende Annäherung an fremdkulturelle Wirklichkeiten durch Relativierung des eigenkulturellen Standpunktes > REFLEKTIERTER Ethnozentrismus) > interkulturelle Sensibilität: ist die Fähigkeit, kulturelle Differenzen genau, hinreichend komplex und nicht-wertend wahrzunehmen. > interkulturelle Kompetenz: ist eine um die kulturelle Komponente erweiterte Form von sozialer Kompetenz. i.K. ist Kommunikations- und Handlungsfähigkeit in kulturellen Überschneidungssituationen, also die Fähigkeit, mit Angehörigen einer anderen Kultur zur wechselseitigen Zufriedenheit unabhängig, kultursensibel und wirkungsvoll interagieren zu können.

VERMEIDEN: „Wir sind besser als sie“ (Bevorzugung der Eigenkultur bei gleichzeitiger Abwertung der Fremdkultur), sondern: „Sie haben ANDERE Sitten und Gebräuche“ (aus dem ANDERSSEIN keine HIERARCHISCHEN UNTERSCHIEDE konstruieren!).

Dritt-Kultur-Perspektive: Jene besondere Haltung innerhalb des interkulturellen Lernens, in der die Beteiligten gegenüber der Differenz von eigener und fremder Kultur gleichsam einen "dritten" Standort einzunehmen versuchen, um von diesem die Differenz besser mit Distanz in den Blick nehmen zu können.

Das Fremde kann aber auch Neugier wecken und als Verlockung, ja sogar als Herausforderung empfunden werden, und zwar insbesondere dann, wenn das Eigene als ungenügend oder unbefriedigend bewertet wird (vgl. Germanen bei Tacitus bzw. außereuropäische Ethnien bei Montaigne und Georg Forster)

Kennzeichen von Ethnozentrismus:

  1. positive Endonyme und negative, pejorative Exonyme: vgl. Inuit = „eigentliche Menschen“ vs. Esquimantsic / Eskimo = „Rohfleischfresser“, wegen deren „abstoßender“ Gewohnheit, Fisch und Fleisch roh zu verzehren). Kiowa = "wirkliche / eigentliche Menschen", Sami = "Menschen" / "menschliche Wesen". Die Grönland-Eskimos glaubten, dass die Europäer nach Grönland geschickt worden sind, um von ihnen Tugend und richtiges Benehmen zu erlernen. Das höchste Lob, das sie einem Europäer spenden können, besteht darin, diesem zu sagen, dass er bereits so gut wie ein Grönländer ist oder bald sein wird. Auch die Tungusen nennen sich selbst „Menschen“. Die anderen werden oft als nicht richtige Menschen angesehen. Die Ainu leiten ihren Namen vom ersten mythischen Menschen ab, den sie auch als Gott verehren. Die Stammesbezeichnung der Ovambo bedeutet „die Reichen“. Die Seri von Lower California misstrauen allen Fremden und verhalten sich diesen gegenüber feindselig. Es ist auch strengstens verboten einen Außenseiter zu heiraten. Die Juden bezeichneten sich als „auserwähltes Volk“. Die Griechen nannten alle Fremden „Barbaren“; in Euripides' Tragödie „Iphigenia in Aulis“ sagt Iphigenia, dass es richtig sei, dass die Griechen die Barbaren regieren und nicht umgekehrt, denn die Griechen seien frei, während die Barbaren Sklaven seien. 1896 gab der chinesische Erziehungsminister ein Buch mit folgender Aussage heraus: "Wie groß und ruhmvoll ist doch China, das Reich der Mitte! Es ist das größte und reichste Land der Welt. Die größten Männer der Welt kommen alle aus dem Reich der Mitte." In russischen Büchern und Zeitungen wurde die zivilisatorische Mission Russlands hervorgehoben; nicht viel anders verhielt es sich mit den Büchern und Journalen Frankreichs, Deutschlands und der Vereinigten Staaten. Jeder Staat betrachtet sich selbst als Anführer der Zivilisation, als der beste, freieste und weiseste, während alle anderen als inferior bezeichnet werden (17).
  2. Ursprungsmythen: Gott habe die Welt nur für das eigene Volk geschaffen.
  3. Positiv gesehen stärkt der E. die Gefühle bezüglich der eigenen Kultur und nicht nur das Ich des betr. Individuums; darüber hinaus stärkt er die Bindungen des Ich zur eigenen ethnischen Gruppe (fördert Integration und Anpassung an die Wir-Gruppe).
  4. Das eigene Dorf, der eigene Stamm bilden den Mittelpunkt des Universums. Strenge Unterscheidung und Gegenüberstellung von Endosphäre und Exosphäre (Beispiel: Die Sammler-Jägergesellschaft der Anak Dalam/Kubu von Sumatra kontrastieren ihre Dunia dalam = „Innere Welt“ / Rimbo = Wald mit der Dunia terang = „helle Welt“ der sesshaften Malaien). Dieser Sicht zufolge steht die eigene Gruppe im Zentrum und alle anderen werden nur in Bezug auf die Eigengruppe gesehen, eingestuft und bewertet.
  5. Genealogien der Ursprungsmythen unterstreichen den Prioritätsanspruch der eigenen Gruppe (Zugang zu Ressourcen ist nur den Stammesangehörigen vorbehalten etc.)
  6. DesinteresseMissachtung von allem und jedem, was von den eigenen Selbstverständlichkeiten abweicht
  7. Inferiorisierung der ausgeschlossenen Anderen, i.e. die Tendenz, die eigenen Lebens-formen, Normen, Wertorientierungen, Techniken, religiösen Überzeugungen und ästhetischen Standards als die einzig natürlichen oder/und richtigen oder/und wahren anzusehen (Vorurteile einer Wir-Gruppe gegenüber einer Sie-Gruppe). Daraus kann dann ein Superioritätsbewusstsein resultieren (hohes Selbstwertgefühl), ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber allen anderen Kulturen. Funktion der ethnischen Vorurteile ist, durch gezielte Auswahl und Hervorhebung bestimmter kultureller Besonderheiten sowie Leugnung und Missachtung anderer Informationen die Überlegenheit der eigenen ethnischen Gruppe glaubwürdig erscheinen zu lassen. Kann, aber muss nicht in einer absoluten Geringschätzung des Fremden, ja sogar Xenophobie münden = fundamentalistischer Ethnozentrismus (18) (Gegenteil: „Defensiv-Ethnozentrismus). In bezug auf die Außengruppen entwickelt diese Form des E. militaristische und aggressive Tendenzen sowie das Bestreben der mehr oder minder gewaltsamen Verbreitung der eigenen Kultur und Religion.

3. Rechtfertigung der Verdrängung von Sammler-Jäger-Völkern
durch die sesshaften Bodenbauern (ab 11.000 Jahre v.u.Z.)

Aufgrund der sog. neolythischen Revolution (Sesshaftwerdung + Züchtung von Pflanzen und Tieren) und aus deren Expansionsbewegung (9.000 v.Chr. im Nahen Osten, 5.000 v.Chr. in der Neuen Welt) resultierte das fortschreitende Verschwinden von Sammlern und Jägern, die entweder gezwungen wurden, ihre Subsistenzweise aufzugeben und sesshaft zu werden, oder langsam in marginale ökologische Bereiche, die sich als ungeeignet für Ackerbau und Viehzucht erwiesen, abgedrängt wurden. (Es konnten aber auch relativ fortgeschrittene Ackerbaugesellschaften von anderen, ebenfalls Ackerbau treibenden Gruppen von den Flussufern ins Hinterland abgedrängt worden sein und zu sekundären Sammlern und Jägern geworden sein, wie z.B. im Fall der Guayaki, Tukana, Cashibo etc. Südamerikas; Punan Borneos, Kubu /Anak Dalam Sumatras). Tatsache ist jedoch, dass diese nun seit ca.11.000 Jahren anhaltende Expansionsbewegung der sesshaften Bodenbauern auf Kosten der Sammler und Jäger mit einer Überlegenheitsideologie legitimiert wird. Die Sesshaften setzen dann im Namen der „Überlegenheit“ ihres ökonomischen und sozialen Systems das „Recht“ durch, diese Gesellschaften militärisch zu „befreien“ und sie zu „zivilisieren“ (19). Aufgabe der Sozialanthropologie ist es daher die bis auf das Neolithikum zurückgehenden und die Expansion der Agrikulturvölker rechtfertigenden Vorurteile zu „entlarven“, denen zufolge die Sammler und Jäger sich permanent am Rand des Existenzminimums befänden und ihr hartes Leben ganz vom Kampf um die Sicherung des Lebensunterhaltes ausgefüllt sei, und durch das neue Bild der „ursprünglichen Überflussgesellschaft“ zu ersetzen (20).

4. Instrumentalisierung der Vorurteile im Rahmen der kolonialen Expansion (16. Jh.)

Im Rahmen der Eroberung der Neuen Welt (Conquista) kollidieren zwei innerhalb der Kirche entwickelte Rechtsauffassungen: Nach der Augustinischen Rechtsschule ist das menschliche Recht direkt vom göttlichen Recht abgeleitet; m.a.W.: Ein Herrscher in der Neuen Welt ist nur dann ein souveränes Oberhaupt, wenn seine Herrschaft sowie das von Menschen ausgeübte Recht auf dem Christentum, der einzig wahren Religion, gründen. Ein „heidnischer“ Herrscher wie auch die in diesem Landstrich geltenden Gesetze können folglich nicht anerkannt werden. Die Thomas von Aquin folgenden Thomisten unterscheiden menschliches und göttliches Recht, wobei ersteres nicht mit letzterem begründet werden muss. Einheimische („heidnische“) Souveräne konnten demnach von Vertretern der thomistischen Rechtsschule rechtlich anerkannt. Schließlich hat sich dann die zweite, radikalere und ethnozentrischere augustinische Version durchgesetzt, da nur diese die Legitimation für die Entmachtung der einheimischen Führer lieferte.

1537 erklärt Papst Paul III. in seiner Bulle Sublimus Deus, „dass die Indianer/Wilden wirkliche Menschen sind; zwar sind sie noch nicht in der Lage den katholischen Glauben zu verstehen, doch wünschen sie dringend, diesen vermittelt zu bekommen.“ Ganz im Gegensatz zur Bulle dominierte der Gedanke, dass die Indianer den Europäern absolut unterlegen wären. Die Missionare verteidigten oft bis zu einem gewissen Grad die Indianer, während Politiker und Geschäftemacher zu Hause, die die Indianer eher als Tiere denn als Menschen betrachteten, beabsichtigten, die Indianer zu versklaven und ihres Landes zu berauben (21). Man darf aber eines nicht vergessen: Hätte der Papst die Indianer der Neuen Welt NICHT als Menschen erklärt, erübrigte sich auch eine christliche Mission in Lateinamerika! Ethnisch-religiöse Vorurteile und Stereotype waren nicht nur in Europa, sondern auch in der neuen Welt weit verbreitet. Entscheidend ist jedoch, dass mit dem Beginn des Kolonialismus diese Vorurteile auf der europäischen Seite mit den kolonialen Interessenskonstellationen aufs engste verknüpft sind. Eine Überwindung dieser Vorstellungen kann daher nicht nur durch bloß moralische Appelle oder theoretische Belehrungen geleistet werden, sondern (kurz- und mittelfristig) nur durch eine Analyse der gesellschaftlichen Beziehungen, die durch ungleiche Machtverteilungen gekennzeichnet sind, und à la longue durch eine eine Beseitigung der bestehenden irrationalen Machtverhältnisse erfolgen (Defizite des Bewusstseins = nicht nur das Resultat von Unwissenheit, Selbsttäuschung und Täuschung. (1) Täuschung, (Unwahrheit) (2) Selbsttäuschung, (3) (Interessen)

Bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden außereuropäische Völker als „savages“, „barbariansoder „primitives“ bezeichnet. Erste Ansätze, sie als Gleichwertige und Angehörige der Menschheit zu betrachten, gab es auf breiterer Ebene erst im 18. Jh. (Aufklärung) (22)

Im 19. Jh. waren die Europäer (bes. die Briten des viktorianischen Englands) überzeugt davon, dass ihre westliche Kultur allen anderen Zivilisationen überlegen sei. Das Verhalten und die Kultur der anderen wurden demnach nach den Maßstäben der eigenen, als überlegen geltenden Kultur beurteilt (23). Ein Begleitumstand des Kolonialismus ist der fundamendalistische Ethnozentrismus, d. h. der Glaube, dass die eigene Kultur besser als die der anderen sei. ETHNOZENTRISMUS wurde von England, Frankreich, Niederlanden, Spanien und US-Amerika in den jeweiligen Kolonien praktiziert (24).

5. Theorien zum Vorurteil / zur Ideologie im Verhältnis zur Beschäftigung mit außereuropäischen Gesellschaften

Nach Michel Montaigne (1533-92), dem skeptischen Relativisten („Que sais-je?“) sind die Sitten und Gebräuche der eigenen Gesellschaft nicht mehr oder weniger vernünftig als die der anderen. Montaigne vertritt Weltoffenheit und religiöse Toleranz (25). In seinem Essay über die Kannibalen wendet er sich gegen den Terror der barbarischen Justiz der Christen in Europa: „Ich meine, es ist barbarischer, einen Menschen lebendig aufzufressen, als ihn tot aufzufressen; barbarischer, einen Körper, der noch voll Empfindung ist, in Martern und Höllenqualen zu zerreißen, ihn langsam zu rösten ... als ihn zu rösten und aufzufressen, wenn er schon hin ist.(26) Die Mächtigen der Christenheit rangieren demnach tiefer als die Menschenfresser.

Montaigne antizipierte bereits im 16. Jh. den Kulturrelativismus. Es sei nur an folgende Worte von Montaigne erinnert: "Gewöhnlich freilich wird alles als Barbarei bezeichnet, was ungewohnt ist. Eigentlich lassen wir ja als richtig und vernünftig nur das gelten, was in dem Lande, wo wir sind, vorkommt und was zu den hier üblichen Anschauungen und Gebräuchen passt."

Der italienische Forscher Giambattista Vico (1688-1744) hat in seiner „Scienza Nuova“ / „Neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker“ (1725) auch die ethnographische Literatur bearbeitet und die schriftlosen Völker als den Europäern ebenbürtige Menschen die funktionierende Gesellschaften und Kulturen aufbauen können und ihre Geschichte selbst machen, beschrieben (27). Im Gegensatz zur üblichen Herren- und Priestertrugslehre des 18. Jh. entspringen nach Vico „die für eine Periode charakteristischen geistigen Vorstellungen aus dem gesellschaftlichen Lebensprozess, bei dem Natur und Menschen in Wechselwirkung stehen(28). Aus der Furcht (vor sich selbst) haben die Menschen die Götter geschaffen. Vico geht davon aus, dass die Mythologie eine notwendige Vorform der Erkenntnis ist, aus der unsere Wissenschaft entstanden ist: Die Menschen, so sagt er, „begannen . . . ihrer natürlichen Neugier zu folgen, der Tochter der Unwissenheit und Mutter der Wissenschaft, welche den menschlichen Geist aufschließt und dabei das Staunen gebiert . . .(29)

François Marie Arouet Voltaire (1694-1778) schuf den Slogan „écrasez l’infâme“ (etwa: „zerstört die Mythologien / den Aberglauben“). Voltaire zufolge haben religiöse Vorurteile, Aberglauben, Kriege, Verbrechen und menschliche Torheit oft den sozialen Fortschritt behindert, der dadurch eher das Resultat glücklicher Umstände als von rationaler Planung ist (30). Voltaire fordert von zivilisierten und aufgeklärten Monarchen praktizierte Toleranz und religiöse Freiheit (31).

Für den französischen Encyclopädisten Claude Adrien Helvétius (1715-1771) sind die Vorurteile (préjugés) das notwendige Resultat des sozialen Drucks und des egoistischen Interesses: „Unsere Ideen sind die notwendigen Konsequenzen der Gesellschaften, in denen wir leben.(32) (Falsches Bewusstsein wird hier nicht – wie damals üblich - gleichgesetzt mit einem willkürlichen Irrtum, sondern als gesellschaftlich notwendiges Resultat gesehen, d.h. die objektive „Nötigung“ geht von der gesellschaftlichen Organisation aus!). Damit überwindet er zumindest ansatzweise die Herren- und Priestertrugtheorie der Aufklärung, die Vorurteile und falsches Bewusstsein auf Machinationen und Betrug der Mächtigen zurückführt, und nimmt die Marx’sche These von der objektiven Notwendigkeit der Ideologien („gesellschaftlich notwendiger Schein“) und der Verankerung des Bewusstseins in den realen gesellschaftlichen Bedingungen vorweg. Zugleich erkennt Helvétius auch die soziale Funktion der Vorurteile: Sie dienen der Aufrechterhaltung ungerechter Zustände und verhindern die Verwirklichung des Glücks sowie die Herstellung einer vernünftigen Gesellschaft: „Die Vorurteile der Großen", schreibt Helvétius in 'De L‘Esprit', „sind die Gesetze der Kleinen.(33) Illusionslos konstatiert er ferner in „De L’Homme“: „. . . die Erfahrung zeigt uns, dass fast alle Fragen der Moral und der Politik durch Macht und nicht durch Vernunft entschieden werden. Wenn die Meinung die Welt beherrscht, dann ist es auf Dauer der Mächtige, welcher die Meinungen beherrscht.(34) Der Machtlosigkeit der Vernunft zum Trotz setzt Helvétius auf diese und geht davon aus, dass die Vorurteile auf rationaler Basis identifiziert, durch die Vernunft erschüttert und die überkommenen (hauptsächlich religiösen) Vorurteile durch die Erziehung überwunden sowie durch die Einsicht in die wahre Natur des Menschen und seiner Umwelt ersetzt werden könnten (35).

Unzufrieden mit den Ergebnissen der französischen Revolution und den Werten ihrer Zeit, betonten Johann Gottfried Herder (1744-1803) (36) und die Vertreter der romantischen Bewegung nicht mehr die Vernunft und den Fortschritt (wie die Aufklärer), sondern verklärten die früheren, viel harmonischeren, weniger beschwerlichen und weniger bedrohlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Zwar konnte man zuhause das Rad der Zeit nicht zurückdrehen; doch konnte man die früheren Zustände rekonstruieren. Schriftlose Kulturen wurden als die besten Relikte der Vergangenheit angesehen. „Primitive“ Völker außerhalb Europas wurden nicht mehr länger als abergläubische Fanatiker, die arm an materiellen Techniken und Ressourcen, halbverrückt vor Furcht und dauernd im Kriegszustand sind, beschrieben. Im Gegensatz dazu wurden sie als von Natur aus gut, von den Früchten der Natur lebend, gut an ihre Umwelt angepasst und v.a. als poetisch und kreativ beschrieben. Die Bewohner moderner Städte, die „policierten Nationen“ hingegen werden als Sklaven ihrer Institutionen und Gesetze, als korrumpiert durch ihre eigenen Technologie und Wissenschaft sowie als moralisch dekadent gebrandmarkt (Studium der Volksdichtung / Mythologie und Volkskunst/Lieder). Herder betonte die Verschiedenartigkeit dieser harmonischen „Volks“-Kulturen, die alle ihren eigenen schöpferischen Volksgeist („genius“, Nationalcharakter, ethos) entwickelt hätten (37).

6. Vorurteile

Zur Analyse von Vorurteilen und Stereotypen bedarf es nach Horkheimer und Adorno sozialpsychologischer Methoden, denn: „Die großen gesellschaftlichen Bewegungsgesetze walten ja nicht bloß über den Köpfen der Einzelnen, sondern vollziehen sich immer zugleich auch durch die Einzelnen selber hindurch. Dem Anteil des Psychologischen an diesem Kräftespiel zwischen Gesellschaft und Einzelmensch galten die Forschungen über das Vorurteil.(38)

Definition: „Vorurteile sind falsche stereotype Meinungen – zumeist über Personen und Personengruppen - , die mit großem psychischen Energieaufwand auch gegen bessere Erfahrung meist deshalb festgehalten werden, weil sie eine Scheinorientierung ermöglichen: Die Welt wird klar und übersichtlich, hier, wo man selbst steht, sind die – im Prinzip jedenfalls – Guten, dort die – im Prinzip jedenfalls – Bösen.(39)

Definition: „Ein STEREOTYP ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht.(40)

Der Begriff Stereotyp wurde von dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann geprägt (in seinem Buch „Public opinion“, 1922). In Analogie zur Herstellung von Druckbuchstaben, die in eine Form gegossen werden, verfügen laut Lippmann die Menschen über kognitive Formen, in denen sozusagen Bilder über andere Gruppen gestülpt („gegossen“) werden. Wenn wir einen Menschen treffen, den wir als Mitglied einer bestimmten Gruppe kategorisieren, gießen wir diese Information gleichsam in eine Form und projizieren unsere vorgeformte Meinung auf diese Person. Stereotypenbildung und Ethnozentrismus allein erzeugen jedoch noch keine feindselige Haltung gegenüber Fremdgruppen; hinzutreten muss eine affektiv-negative Besetzung der kategorialen Urteile über Fremdgruppen.

Ethnische Stereotype umfassen nicht nur Heterostereotype, i. e. Stereotype über Angehörige ANDERER ethnischer Gruppen, sondern auch Autostereotype, d.h. Stereotype über die EIGENE ethnische Gruppe. Jedes Heterostereotyp ist notwendig mit einem Autostereotyp verbunden.

Im folgenden Textabschnitt beziehe ich mich auf die ausgezeichnete Studie der deutschen Sprachwissenschaftlerin Uta Quasthoff mit dem Titel „Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps.“. Diese aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts stammende Analyse, die den damaligen Forschungsstand zusammenfasste und kritisch sichtete, ist bis heute unübertroffen und hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Vorurteile sind nicht angeboren: „Vorurteile entstehen im 4./5. Lebensjahr des Kindes, bzw. – vorsichtiger ausgedrückt – vor diesem Zeitpunkt lässt sich kein vorurteilsartiges Reagieren bei kindlichen Vpn. Feststellen. Der Beginn der Entwicklung von sozialen Vorurteile fällt also zusammen mit der Phase, in der sich nach der Freudschen Theorie durch Identifikation mit den Eltern beim Kind das Über-Ich herausbildet.(41)

Vorurteile werden weniger durch direkte, persönliche Kontakte, sondern in stärkerem Ausmaß über die INDIREKTEN, über VORBILDER, ELTERN, ERZIEHER und über MEDIEN vermittelten Erfahrungen gebildet und geformt: „Die Vorurteile der Kinder entstehen nicht durch entsprechende Erfahrungen mit Angehörigen der inkriminierten Gruppe, sondern durch Kontakt mit Personen – meist Eltern, seltener Lehrer oder Mitglieder der peer-group – die solche Vorurteile haben und sie in Sprache und Verhalten äußern. . . .(42) Vgl. dazu die Untersuchung Allport’s, der das Beispiel von Kindern einer 5. Klasse anführt, die täglich Kontakt mit chinesischen Altersgenossen haben und sich dennoch ihr Chinesenbild anhand von Filmen, Geschichten über China und Karikaturenserien“ bildeten.

Stereotypmuster nach dem Modell der Erwachsenen entwickeln sich erst im Alter von ca. 9 Jahren: „Die Ergebnisse der Vorurteilsforschung an Kindern ... lassen sich wie folgt zusammenfassen: Spätestens im Alter von 9 Jahren beginnen die Kinder, die Muster von „Stereotypen“ zu entwickeln, die ihnen von den Erwachsenen vorgegeben sind. Die Tendenz, Weiße den Schwarzen vorzuziehen, lässt sich in sehr viel früherem Alter feststellen, obwohl man auf der Altersstufe von 3 bis 4 Jahren noch nicht von der Existenz von Vorurteilen sprechen kann. Die rassischen Präferenzen, die in Tests zum Vorschein kommen, haben noch keine Konsequenzen im Verhalten der jeweiligen Fremdgruppe gegenüber. Das Zurückziehen von Angehörigen der anderen Gruppe beginnt viel später und erreicht seinen Höhepunkt ungefähr auf der Altersstufe von 10 Jahren.(43)

Positive Wirkung der Aufklärung durch Bildung? Stimmt die These, „dass akademische Aufklärung über die anthropologischen und kulturellen Eigenheiten von Fremdgruppen und über die Ursachen von Gruppenkonflikten eine Verminderung der Vorurteile durch ebendiese Information bewirkt. . . . Tatsache (ist) . . ., dass die Rate der Vorurteile keineswegs kontinuierlich mit ansteigendem Bildungsniveau abnimmt, sondern dass – zumindest soweit die Einstellungen gegenüber Schwarzen betroffen sind – eine deutliche Schwelle besteht, die erst mit der Ebene der College-Ausbildung überschritten wird.(44) Es bestehen also begründete Zweifel bezüglich der These des positiven Zusammenhangs zwischen sozio-ökonischem Status und Bildungsstand einerseits und geringer Ausprägung von Vorurteilen andererseits:

  1. Es ist kein sicherer Beweis vorhanden, dass Angehörige höherer sozialer Schichten weniger Vorurteile haben. Vielfach ist es eher umgekehrt.
  2. Der Einfluss von Bildung ist am stärksten und systematischsten bei Personen aus den unteren Schichten zu belegen.

Für den Abbau von Vorurteilen spielt die persönliche Erfahrung leider nur eine geringe Rolle: „Die persönliche Erfahrung des einzelnen spielt bei der Herausbildung feindlicher Einstellungen gegenüber Fremdgruppen und der mit ihnen verbundenen ‚Stereotype’ keine oder nur eine sehr geringe Rolle, . . .(45)

71: „Das Problem der Auswirkungen individueller Erfahrungen auf den Abbau sozialer Vorurteile lässt sich beschränken auf die Frage, inwieweit persönliche Kontakte mit Angehörigen der Fremdgruppe als die direkteste Form persönlicher Erfahrung eine Einstellungsänderung gegenüber der ganzen Gruppe auslösen kann. . . . (Resumée), dass sachliche Aufklärung über die Eigenart von Fremdgruppen, das „Widerlegen“ von Vorurteilen durch Gegeninformation allein wirkungslos bleibt. Etwas erfolgreicher sind Versuche interkultureller Erziehung, sofern sie Kontakte mit Angehörigen der entsprechenden Minderheit einschließen, so dass man mit Recht den persönlichen Kontakt als den einflussreichsten Faktor annehmen kann.“ (46)

In bezug auf die Rolle persönlicher Kontakte kann man jedoch die folgende Verallgemeinerung machen:

Lockere Kontakte verstärken, enge Kontakte verringern im allgemeinen soziale Vorurteile.(47)

Unterschiedliche Auswirkungen der Kontakte am Arbeitsplatz auf die Vorurteilsbildung: „Gerade der Kontakt am Arbeitsplatz birgt jedoch ein Gefahrenmoment in sich, das nach Möglichkeit bei allen interethnischen Kontakten ausgeschlossen werden sollte, um die Erfolgschancen zu erhöhen: Die Mitglieder verschiedener ethnischer Gruppen, die man einander näher bringen will, sollten nicht nur den gleichen Status haben, sie dürfen sich auch nicht in einer Situation der Konkurrenz oder gegenseitigen Bedrohung befinden.(48)

Bedingungen für den Abbau von Vorurteilen durch Kontakte:

(a) Das Verhalten der von Vorurteilen betroffenen Fremdgruppe darf die gängigen Stereotype nicht bestätigen

(b) Kontakte müssen häufig und eng genug sein (um ein Gegengewicht gegen die vorurteilsbedingte Verzerrung in der Wahrnehmung und Erinnerung darstellen zu können. Mit dieser Forderung trägt man dem sog. „selektiven Filter der Wahrnehmung“ Rechnung, der vorurteilsvolle Personen nur das sehen lässt, was ihr Vorurteil bzw. die damit einhergehenden negativen „Stereotype“ bestätigt. Wegen dieses psychologischen Mechanismus dürfte auch der lose und eingeschränkte Kontakt mit fremden Ethnien und Nationen innerhalb des modernen Tourismus leider kaum zur Verminderung von Vorurteilen beitragen) (49)

Hypothesen zum West-Ost-Gefälle der Vorurteile aufgrund der auffallend negativen Beurteilungen der Russen, Polen, Tschechen, Türken etc.:

(a) negative Bewertung der Türken: möglicherweise, da sie in Europa Jahrhunderte lang die Bedrohung der christliche Welt symbolisierte;.

(b) negatives Russenbild dominiert unter den „westlichen“ Nationen;

(c) ähnliches lässt sich bezüglich des negativen Polenbildes sagen;

(d) weniger eindeutig negativ ist die Bewertung der Chinesen: Schlagwort der „Gelben Gefahr“ ist erst um die Jahrhundertwende entstanden (1895, Kaiser Wilhelm II) (50).

Sozio-ökonomische Faktoren bei der Vorurteilsbildung und –änderung:

Der Ausbeutungsakt kommt zuerst; das Vorurteil folgt!“ Die Wurzel der Diskriminierung gegenüber den Schwarzen in den USA liegt demnach in der Tradition der ökonomischen Ausbeutung (51).

FUNKTION von Vorurteilen

(1) Sündenbock-Theorie: Ablenkung von Aggressionen auf schwache, an den eigentlichen Ursachen der Aggressionen schuldlosen Minderheiten oder Einzelpersonen (Frustration erzeugt Aggression à Aggression wird auf verhältnismäßig wehrlose „Sündenböcke“ verschoben. à Diese verschobene Feindlichkeit wird rationalisiert und gerechtfertigt durch Beschuldigung, Projektion und Stereotypisierung.

(2) Projektion persönlichen Fehlverhaltens à Aggression à Verschiebung (nach dem Prinzip: „Ich tadle an der Fremdgruppe das, was ich in mir selbst abwehre, und ich tadle umso strenger, je stärker ich selbst unterdrücken muss.“ (d.h. verbotene Wünsche und Eigenschaften werden auf andere übertragen und dort umso härter bestraft = Extrapunitivität; besonders auf Gruppen projiziert, die den Triebverzicht (angeblich) nicht leisten) (52).

Die sozialen Vorurteile sind immer nur für die Mächtigen praktisch. Daher sollte man nach dem Zusammenhang von sozialen Vorurteilen / Stereotypen und Macht fragen (s.o. Helvétius!) (53)

Rassistische Ideologien sind Ausdruck eines verschärften Klassengegensatzes und treten besonders in Epochen eines geschichtlichen Umbruchs auf (54)

  

Studie Theodor W. Adornos und seiner Mitarbeiter (55) über den autoritären Charakter (56):

Im Mittelpunkt der Studie standen „Reize“, „allgemeine politische Ansichten“ und „private Charakterzüge“: Herausarbeiten und Untersuchung von „Reizen“, mit den Agitatoren, v.a. die dezidiert totalitären, arbeiten, um Menschen einzufangen. Dabei wurde unterstellt, dass diese Reize recht genau den Neigungen und Verhaltensweisen jener Typen entsprechen, die aufgrund ihrer Psychologie in besonderem Maße als Gefolgschaft in Frage kommen. Parallel dazu sind zahlreiche Personen daraufhin untersucht worden, ob zwischen ihren allgemeinen politischen Ansichten, ihrer Stellung zu ethnischen, sozialen und religiösen Minderheiten einerseits und privaten Charakterzügen andererseits eine Beziehung besteht und wie sie, wenn sie sich bestätigt, zu verstehen ist (57).

Ergebnisse:

autoritärer Charakter“ = vorurteilsvolle Persönlichkeit mit folgenden Merkmalen:

1. Antisemitismus

2. Ethnozentrismus gegenüber Schwarzen und anderen Minderheiten (gleichzeitig Erhöhung der eigenen Gruppe)

3. Konservative (antiliberale) Einstellungen im politischen und wirtschaftlichen Bereich

4. Autoritarismus, das Autoritätsgehorsam, Betonung von Stärke und Dominanz, Aggressionsbereitschaft zur Verteidigung der eigenen Werte und eine konventionelle Haltung

5. Anfälligkeit für charismatische Führer

Denk- und Verhaltensmuster:

1. rigides Festhalten an konventionellen Werten,

2. das Urteilen in Schwarz-Weiß-Kategorien, das Verherrlichen von Macht sowie willfährige Unterordnung

3. die Tendenz, in Minderheiten Sündenböcke zu sehen, die für ihre eigene Misere und für die Misere ihres Landes verantwortlich sind.

Die tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung des eigenen sozialen Status und der kulturellen Identität sind wichtige Motive für die Abwertung und den Hass gegen Minderheiten. Typischerweise sind die Sündenböcke Angehörige von Gruppen mit niedrigem sozialen Status, die noch ärmer, noch machtloser sind als man sich selbst fühlt.

Ursache der Entstehung des autoritären Charakters und der mit diesem verbundenen ethnozentristischen Einstellungen ist, laut Adorno ein bestimmter Typ der Sozialisation, wobei die Eltern besonderen Wert auf Erfolg, Karriere und Disziplin legen.


(1) Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980

(2) Creveld, Martin van: Die Zukunft des Krieges. München 1998:45ff. (Original: The Transformation of War. The Free Press: New York 1991).

(3) Creveld hinterfragt vor allem des sogenannte trinitarische Schema, die archaische Dreigliederung "Staat – Armee – Volk", welche das militärische Denken auch heute noch maßgeblich bestimmt. Die Clausewitz’sche Gedankenwelt beruhte nach Meinung Crevelds auf der Annahme, dass vorwiegend Staaten, oder genauer, Regierungen, Krieg führen (Trinität aus Volk, Heer und Regierung).

(4) „Der“ (?) Islam – so Creveld - breite sich als Weltreligion am schnellsten aus. Gewiss gibt es dafür viele Gründe, doch nach Creveld etwas einseitiger Sichtweise breite sich der Islam vor allem wegen seiner Militanz zusehends aus.

(5) Der Ayodhya-Konflikt ist ein Konflikt, der schon länger schwelt, auch wenn er erst in den letzten Jahren (etwa Anfang der 90er Jahre) zunehmend in der internationalen Presse Schlagzeilen gemacht hat. Im Grunde geht es darum, dass in Ayodyha eine Moschee steht, die für die Muslime sehr wichtig ist, während viele Hindus behaupten, dass diese Moschee auf einem Hindu-Tempel erbaut wurde, der für sie große Bedeutung hat (Parallelen mit Tempelberg in Jerusalem!). Die Vertreter beider Glaubensgruppen instrumentalisieren die Geschichte für sich, wie immer, wenn es ethnisch, nationalistisch oder religiös motivierte Auseinandersetzungen gibt. Das, was im geschichtlichen Prozess mit der eigenen Interpretation nicht übereinstimmt, wird ausgelassen oder abgeändert. Dazu der französische Sozialanthropologe Maurice Godelier: „Die Geschichte erklärt nichts, sie ist das zu Erklärende.“ Erst wenn man einen Schritt zurückweicht und sich aus der so gewonnenen Distanz nochmals der Geschichte nähert, kann man aus ihr - unter Einschluss der Kolonialgeschichte – neue Einsichten gewinnen. Beschäftigt man sich mit der Kolonialgeschichte Indiens, dann kann man sehen, wie die Briten rund um den schon damals aufgebrochenen Ayodya-Konflikt ihre Position gestärkt haben, indem sie – nach dem Prinzip des „divide et impera“ - einmal die einen, einmal die anderen unterstützt haben. Zudem konnten sie dadurch die beherrschte Bevölkerung als ständig streitend darstellen, bis die Bevölkerung selbst daran glaubte. Danach konnte sich die über allem stehende Kolonialmacht als neutrale Instanz präsentieren. Kurz: Dieser Konflikt kam nicht ohne Zutun der Kolonialmacht zustande und ist unter massivem Zutun der Kolonialherrschaft zu dem geworden ist, was er heute ist (Ein wichtiger Faktor war auch die Teilung des Vize-Königreichs Indien in die Staaten Indien und Ost- bzw. Westpakistan im Jahr 1949) [Nach einer Vorlesung von Prof. Gingrich, Inst. f. Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Wien]

(6) Die Vergewaltigung von überwiegend chinesischen Frauen in Jakarta bei den blutigen Unruhen Mitte Mai 1998 werden von mehreren Kommissionen untersucht. Präsident Habibie hat sie schärfstens verurteilt. Was in der Hauptstadt auf einige Tage beschränkt war (die Zahl der Opfer wird auf mehr als 160 Frauen geschätzt, die meisten wurden mehrfach und in aller Öffentlichkeit missbraucht), ist in der weit entfernten früheren portugiesischen überwiegend katholischen Kolonie Ost-Timor mehr als 20 Jahre beinahe regelmäßig vorgekommen, seit 1975 indonesische Uniformierte einmarschierten.

(7) In seinem Vortrag vom 26.20.1995 zum Thema "Megatrends Asien" wies John Naisbitt auf die bedeutende Rolle der Auslandschinesen hin. Die 57 Millionen Auslandschinesen bilden die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt dieses Netzwerkes liegt zwischen 2 und 3 Bio. Dollar. In mehreren Ländern Asiens kontrollieren Auslandschinesen einen großen Teil des Kapitals – mehr als man auf Grund ihrer Zahl annehmen würde. Auslandschinesen dominieren in allen ostasiatischen Ländern mit Ausnahme Koreas und Japans den Handel und die Investitionstätigkeit. In Malaysia stellen sie 30% der Bevölkerung, kontrollieren aber zu mehr als 50% die Wirtschaft. In Indonesien sind nur 4% der Bevölkerung Chinesen, doch kontrollieren dies 70% der Wirtschaft. In Thailand kontrollieren 3% Chinesen 60% der Wirtschaft, auf den Philippinen kontrollieren 4% Chinesen 70% der Wirtschaft.

(8) Chinesenprogrome hat es in Indonesien auch früher immer wieder gegeben. Bereits im Oktober 1740 wurden innerhalb von 3 Tagen 5.000 – 10.000 Chinesen in Batavia (= kolonialer Name Jakartas) von niederländischen Kolonisten ermordet, nachdem sich Chinesen außerhalb (!) Batavias gegen ihre Versendung als Sklavenarbeiter nach Sri Lanka zur Wehr gesetzt hatten. Die in Indonesien regierende niederländische Handelsgesellschaft (VOC) zahlte sogar für jeden enthaupteten Kopf eine Belohnung. Danach durften die überlebenden Chinesen nur in für sie bestimmten Vierteln leben (z.B. Glodok in Batavia). Im Gefolge der Unruhen während des Sturzes von Sukarno im Jahr 1965 war die als kommunistenfreundlich geltende chinesische Minderheit blutiger Verfolgung ausgesetzt. Die Urgründe der tief verwurzelten Ressentiments reichen jedoch bis in die ferne Vergangenheit. Wie die Engländer in Indien oder die Spanier auf den Philippinen hatten auch die Holländer mit einer Politik des "teile und herrsche" Minderheiten favorisiert. Im holländischen Ostindien dienten Chinesen den Kolonialherren als Händler und Finanziers. Dafür erhielten sie wirtschaftlich einträgliche Privilegien, die den Einheimischen vorenthalten wurden.

(9) Indirekt durch einen Krieg ausgelöst: 1990 wurden 800.000 jemenitische Gastarbeiter von Saudi-Arabien ausgewiesen, nachdem die jemenitische Regierung im Golfkrieg den Irak unterstützte.

(10) Barth, Frederik (ed.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. London: George Allen & Unwin 1969

(11) Kritisch bleibt jedoch festzuhalten, dass im Gegensatz zur „primordialistischen“ Position hier i.d.R. die instrumentalistisch-rationalen und situationalen Aspekte der ethnischen Identität zu sehr betont werden.

(12) Kingsley, a.a.O. 525

(13) Wallerstein, Immanuel: Das moderne Weltsystem, Bd. I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1986; Wallerstein, Immanuel: Das moderne Weltsystem, Bd. II: Der Merkantilismus, Europa zwischen 1600 und 1750. Wien 1998

(14) Appadurai, Arjun: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press. (1996)

(15) Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1988

(16) KULTURRELATIVISMUS: Die Doktrin, nach der kulturelle Phänomene nur in ihrem eigenen Kontext verstanden, beurteilt und bewertet werden können. Der Kulturrelativismus ist eine Variante des Historismus, der die gleiche Forderung für historische Epochen erhebt. Er wendet sich gegen den Evolutionismus, dem er die ungerechtfertigte Anwendung externer, aus der europäischen Wissenschaft stammender Maßstäben auf fremde Kulturen vorwirft (Ethnozentrismus). Der Kulturrelativismus hängt mit der Auffassung fremder Kulturen als Ganzheiten (Holismus) zusammen, die ihrerseits ein Leitprinzip der ethnographischen Feldforschung darstellt. In seiner Extremform verzichtet er auf jede Bewertung fremdkultureller Phänomene und damit auf jede Rechtfertigung für handelndes Eingreifen in fremde Kulturen. Hauptvertreter waren Westermarck, Boas und v.a. M.J. Herskovits. Erst der Kulturrelativismus, der etwa zwischen 1920 und 1950 die ethnologische Forschung dominierte, schuf die Grundlagen für das kontextbezogene Studium soziokultureller Phänomene. Die ethnologische Analyse soll die einheimischen Begriffe und Wertsetzungen der fremden Kultur verwenden. Ferner wird jede Kultur als ein einmaliges, in sich geschlossenes System, betrachtet. Alle Kulturen werden als gleichwertig angesehen. Bewertungen von außen sind aufgrund des Fehlens universaler Maßstäbe nicht zulässig. Im Rahmen dieser Betrachtungsweise ist alles, was die Menschen einer Kulturgruppe tun, nur aus der betreffenden Kultur selber heraus zu verstehen, da nicht vergleichbar mit Phänomenen anderer Kulturen. Letztendlich löst sich in diesem radikalen Relativismus Kultur in lauter nicht mehr vergleichbare „Einzelzüge“ auf, die nur durch Rekurs auf das einzigartige Kulturganze verständlich sind. Diese radikale kulturrelativistische Position verhindert damit jeden systematischen interkulturellen Vergleich.

(17) Vgl. Sumner, William Graham: Folkways: The Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores, and Morals. New York: Ginn and Co. 1906:13; nach Sumner ist Ethnozentrismus der “view of things in which one’s own group is the center of everything, and all others are scaled and rated with reference to it.

(18) Fundamentalismus: Die Überzeugung, dass es nur eine Wahrheit gibt, und dass die eigene Gruppe im Besitz dieser Wahrheit ist, die dann meistens bis ins kleinste Detail definiert und den anderen mit Druck und/oder Gewalt aufgezwungen wird.

(19) Godelier, Maurice: Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften. Hamburg: Rowohlt 1973:17, 113, 127-129

(20) Sahlins, Marshall: Notes on the Original Affluent Society. In: Lee, R.B . /DeVore, I. (eds.): Man the Hunter. Chicago: Aldine 1968; Sahlins, Marshall: Stone age economics. Chicago: Aldine-Atherton 1972; vgl. auch das Kapitel „Hunter Affluence?“ in Burch, Ernest. S. / Ellanna, Linda J. (eds.): Key Issues in Hunter-Gatherer Research. Oxford/UK., Providence/U.S.A.: Berg Publishers 1994:145-167

(21) Waal Malefijt, Annemarie: Images of Man. A History of Anthropological Thought. New York: Alfred A. Knopf 1974:216

(22) Haviland, William A.: Anthropology. Vermont: Holt, Rinehart and Winston 1974:5-6

(23) Haviland, a.a.O. 275-278

(24) Haviland, a.a.O. 579-580

(25) Waal Malefijt, a.a.O. 46; vgl. Horkheimer: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M., Hamburg: Fischer 1971:113

(26) Horkheimer: a.a.O. 113

(27) Horkheimer, a.a.O. 76, 78

(28) Horkheimer, a.a.O. 78

(29) zit. nach Horkheimer, a.a.O. 77

(30) Waal Malefijt, Annemarie: Images of Man.A History of Anthropological Thought. New York: Alfred A. Knopf 1974:82

(31) Waal Malefijt, a.a.O. 83

(32) De L’Esprit, zit. nach Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Soziologische Exkurse. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1972:165

(33) Vorurteile sind immer für die Mächtigen praktisch (Vorurteile ßà Macht)

(34) zit. nach Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Soziologische Exkurse. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1972:164

(35) Lichtheim, Georg: Das Konzept der Ideologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973:15f; vgl. dazu die Marx’sche Kritik an diesem aufklärerischen Ansatz, ebda 15, fn. 19: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihn erhaben ist – sondieren.“ („Thesen über Feuerbach“)

(36) „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791)

(37) Waal Malefijt, a.a.O. 1970:99f

(38) Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Soziologische Exkurse. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1972:152

(39) Acham, Karl: Vernunft und Engagement. Sozialphilosophische Untersuchungen. Wien: Europaverlag 1972:25

(40) Quasthoff, Uta: Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Frankfurt/M.: Fischer-Athenäum 1973:28

(41) Quasthoff a.a.O. 53

(42) Quasthoff a.a.O. 61 (Hervorhebungen von mir, H.L.)

(43) Quasthoff a.a.O. 56f

(44) Quasthoff a.a.O. 61-63

(45) Quasthoff a.a.O. 70

(46) Quasthoff a.a.O. 71

(47) Quasthoff a.a.O. 75 (Hervorhebungen von mir, H.L.)

(48) Quasthoff a.a.O. 77

(49) Quasthoff a.a.O. 80f

(50) Quasthoff a.a.O. 87-89

(51) Quasthoff a.a.O. 96-98

(52) Quasthoff a.a.O. 117-119

(53) Quasthoff a.a.O. 128

(54) Quasthoff a.a.O. 137

(55) Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford (1950) waren eine Gruppe exilierter Mitglieder der sog. Frankfurter Schule, die nach dem Krieg in den USA herausfinden wollten, wie die Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten in einem zivilisierten Land zustande kommen konnte.

(56) Das sind Menschen, die ein Oben und ein Unten brauchen, ein Oben, das ihnen Befehle gibt, und ein Unten, an dem sie sich abreagieren und auf das sie treten können.

(57) Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Soziologische Exkurse. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1972:152f