Dalibor Ilić (dalibor.ilic@gmx.at)

Wien, 21.02.2006

Wenn ich ein paar Zeilen zum Bosnienbericht schreiben darf, möchte ich gerne meine Eindrücke über die gesellschaftlich-politische Situation und die Gemütslage der Menschen in Bosnien, insbesondere derer, die wir besucht haben, berichten.

Mehr als zehn Jahre nach dem Kriegsende habe ich zutiefst auf eine positive Änderung im politischen Leben meiner Heimat Bosnien-Herzegowina gehofft. Tatsächlich wurde in der Politik breit über Änderungen des Dayton-Vertrages diskutiert, leider ohne eine Einigung zu erzielen. Ich muss zugeben, dass es für mich eine Enttäuschung ist, dass die Zwangsjacke, die in Dayton diesem Land angezogen wurde, wie es einige ausländische Diplomaten in Bosnien bildlich ausgedrückt haben, weiter bleibt. Die Zwangsjacke hat tatsächlich den Verdienst gehabt, den Krieg zu stoppen; ist sie aber heutzutage auch eine gute Therapie für Bosnien? Der unwirksame bürokratische Apparat bleibt weiter bestehen, die regierenden Parteien kämpfen um Erhaltung ihrer Positionen, die als Erhaltung der heilig gewordenen, nicht berührbaren nationalen Rechte dem Volk oder den drei Volksgruppen serviert wird.

Für dieses Volks sieht es im praktischen Leben so aus: zwei Paten aus den Familien, die vor mehreren Jahren nach Bijeljina (Republika Srpska) zurückgekehrt sind, und jetzt dort krankenversichert sind, können nicht zu Augen- bzw. Hüftoperation in die nächstgelegene bosnische Universitätsstadt Tuzla (die aber in der Föderation liegt), weil sie keine ärztliche Einweisung aus einer Entität in die andere bekommen können. Ihnen bleibt es übrig, die Operationen entweder in einer Privatordination in Republika Srpska selber zu finanzieren (da diese dort noch nicht im öffentlichen Krankenwesen durchgeführt werden) oder in der Föderation (auch im Spital) diese zu bezahlen. Von den Politikern wird zugleich als vital die Erhaltung der nationalen Rechte z.B. durch den getrennten Unterricht für die Schüler verschiedener Nationalitäten erachtet.

Wie tief greifend die Nachkriegsfolgen sind, wurde mir beim letzten Besuch noch bewusster. Es ist kein Zufall, dass viele Flüchtlinge und Rückkehrer uns diesmal über ihr erlebtes Kriegstrauma erzählt haben. Schlussendlich hat der Krieg im Frühling 1992 angefangen, und viel Dokumentationsmaterial aus dem Krieg wurde in den Medien zu der Zeit unseres Bosnienbesuches gebracht. Einige der Paten erzählten uns, dass sie bei der Identifikation der exhumierten Überreste ihrer Verwandten waren. Die einen möchten nicht zurückkehren, die anderen, die zurückgekehrt sind, erzählten, dass diejenigen, die im Krieg zugezogen sind und sie geschlagen und aus dem eigenen Zuhause vertrieben haben, ihre neuen Nachbarn, die frei leben, geworden sind. In der Kultur schlägt sich diese Vergangenheitsverarbeitung in den Filmen (wie der in Berlin preisgekrönte Film „Grbavica“) nieder; es werden die Spenden für den Bau eines Belagerungsmuseums in Sarajevo gesammelt.

Nach so einem schweren Krieg braucht es zweifellos eine lange Zeit für die Erholung. Leider sind die Möglichkeiten für die Investitionen aus dem Ausland, für eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung dortzulande mit den bestehenden politischen Strukturen erheblich erschwert. Trotzdem spürt man eine langsame Erholung der Wirtschaft. Für mich, den Bosnier, der vor dem Krieg noch als Kind einen Staat mit funktionierendem Sozialsystem erleben konnte und dank der Großzügigkeit der Österreicher in Wien Medizin studiert hat, ist die wirtschaftliche Entwicklung zu langsam, und jene gesellschaftlich-politische geht leider in die falsche Richtung. Die Verhandlungen über Reformen des Dayton-Vertrags wurden unter der Segnung der US-Diplomatie geführt. Es ist mir klar, dass die Zeit der Tutorenschaft der Großmächte in der Politik vorbei ist. Trotzdem habe ich mir von der EU mehr Vermittlung erwartet, um aus Bosnien-Herzegowina einen normalen Staat zu bilden. Denn die bosnischen Politiker alleine sind es, wie es sich zuletzt gezeigt hat, nicht imstande. Oder sie wollen es nicht, denn es fällt ihnen leichter, unter bestehenden Umständen ein manipuliertes, verschüchtertes Volk zu regieren und ihre Positionen zu bewahren.

Als Angehöriger dieses Volkes möchte ich an dieser Stelle allen Spendern für die Unterstützung danken. Die Menschen, die Annemarie jahrelang besucht, brauchen weiterhin nicht nur ihre finanzielle Hilfe. Das Gefühl, in der schwierigen Situation nicht verlassen zu sein, ist mindestens genauso wert.

 

annemariekury@hotmail.com