Annemarie
Kury
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Wien, im Oktober 2004
Besuchsprotokoll der Bosnienfahrt vom 17. bis 26. September 2004, 149. Fahrt
1.) Familie Klepo lebt immer noch mit ihren vier Kindern in einer baufälligen Baracke am Rande von Zagreb. Geld für Lebensmittel und Heizmaterial.
2.) Oma Mirjana in Sibinj bei Slavonski Brod: großes Leid, da ihr Sohn (mit fünf Kindern) mit seinem Installationsgeschäft in Konkurs gegangen ist. Die Enkel kommen daher jetzt oft hungrig zum Essen, was die Oma mit ihrer ganz kleinen Pension nicht bewältigen könnte.
3.) Erstkontakt mit Fatima in Bijeljina/Bosnien, 36 Jahre, schweres Down-Syndrom (früher nannte man es mongoloid) und jetzt auch eine beginnende Erblindung. Geld für Augenarzt, der einen grauen Star feststellte.
4.) Die gelähmte Mirsarda und ihre Mutter finden wir auch in Bijeljina, sie sind in ihr Häuschen nach Jahren der Vertreibung zurückgezogen und werden heuer den ersten Winter dort verbringen. Eine Nachbarin kümmert sich um Mutter und Tochter und verdient sich dadurch im Monat 15.- Euro. Mit Patenschaftsgeld und Heizzuschuss werden sie überleben.
5.) In Janja besuchen wir Saliha mit ihren vier Kindern, die in ihrem von uns neu errichteten Haus lebt. Leider kann sie sich noch immer nicht richtig freuen, weil sie weiterhin unsagbar unter den Nachwirkungen der Kriegsgräuel leidet. Vater, Mutter, Brüder, Mann, Schwager sind alle getötet worden (z. T. in Srebrenica). Die älteste Tochter hat die Schulbildung abgeschlossen und ist jetzt arbeitslos, ist aber sehr begierig, weiter zu lernen. Es fehlt die Finanzierung, aber auch die Eigeninitiative.
6.) Im selben Ort lebt auch die Familie von Senada mit Mann und fünf Kindern, die auch von Tuzla in ihre Heimat gezogen sind. Vater und Söhne arbeiten an dem Häuschen, das rund 40 m2 in zwei Etagen Platz bietet, wo die ganze Familie wohnt. Bewundernswert sind der Optimismus der Eltern und die Fröhlichkeit der Töchter. Diesen letzten beiden Familien wurde heuer von uns je ein Feld gekauft, doch die Anrainerin nahm die vom Geometer gesteckten Grenzpflöcke weg, da sie die Grenze anzweifelte. Ein nochmaliges Vermessen bestätigte jedoch die Grenze, eine Besprechung mit der Anrainerin mit uns und den beiden von uns betreuten Familien hat jetzt Frieden gebracht. Ein Bauer mit Pflug wird jetzt das Feld pflügen, im Frühjahr möchten wir die Saat und im Herbst die Ernte sehen. Leider geht es nicht immer ohne Druck.
7.) In Brcko, 75 km von Tuzla entfernt, gab es die erste Begegnung mit Sadija. Diese alte Frau ist von Österreich (Flüchtlingslager Neuhaus) zurückgekehrt, ist alleinstehend, wird von niemandem unterstützt und muss jetzt ihre Wohnung in einem „Gemeindebau“, die sie vor dem Krieg jahrzehntelang bewohnt hat, dem Staat abkaufen. Das ist bosnische Privatisierung! Sie hat eine Pension von 80.-Euro, für Heizmaterial, Stromrechnung, Medikamente, ja nicht einmal für genug Lebensmittel langt das Geld aus.
8.) In Tuzla besuchen wir die Lehrerfamilie mit fünf Kindern. Der Besitzer des Hauses lebt im Ausland und will das Haus jetzt verkaufen. Das Haus muss bis Ende des Jahres geräumt sein. Die Familie ist so anständig, die Armut verstecken sie, aber die Kinder sind sooo dünn. Mit einem Lehrergehalt kann in Bosnien eine 7köpfige Familie nicht überleben. (Zwei Kinder hat die Kriegswitwe in die Ehe gebracht.) Große Sorge um die Wohnung oder ein altes Haus!
9.) Vehid, bei dem wir immer liebevoll als Gäste aufgenommen und versorgt werden, kam Mitte August ins Krankenhaus Tuzla, wurde nach drei Tagen (!) operiert, wo sich herausstellte, dass ein Blinddarmdurchbruch zu einer Sepsis geführt hat. Fünf Wochen war er nun im Tiefschlaf zwischen Leben und Tod in der Intensivstation. Ich konnte ihn dort besuchen, er ist in der Aufwachphase und hat mich sogar erkannt.
10.) Vehids Schwester Nefa hat seit vier Monaten keine Pension ausbezahlt bekommen. Da Serbien die Überweisungen umstellt, ist es ungewiss, wann das Geld ausgezahlt wird.
11.) Der achtjährige Sejfo im Kinderheim malt nach wie vor sehr gern, liebt jetzt aber auch Fußball. Es war ein Vergnügen, mit ihm einen Fußball zu kaufen und ihm einmal den Herzenswunsch eines Pizza-Essens zu erfüllen. Er aß die große Pizza mit viel Ketchup mit herzerfrischendem Appetit auf.
12.) Sevko, der MS-Patient, kann sich fast nicht mehr bewegen, ist ganz bettlägerig, lebt mit seinen alten kranken Eltern in einer kleinen Wohnung. Der Vater hat eine Pension von 90.- Euro (für drei Personen) und die Miete kostet 60.- Euro. Sevko hat seine Krankheit angenommen, die Stimme ist so schwach, dass man ihn schwer versteht, er ist so geduldig und jetzt mit sich im Reinen, er sagt, er schläft jetzt gut weil er ein reines Gewissen hat. Er geht seinem Ziel entgegen und meint: „Wir werden unseren schönsten und höchsten Berg des ehemaligen Jugoslawiens, den Triglav, wo ich viel als Bergrettungsmann geklettert bin, von drüben sehen.“ Diese Gespräche von Gemeinsamkeiten über einen muslimisch–christlichen Himmel bei diesem einem GOTT gehören zu den schönsten Augenblicken für Sevko und für mich.
13.) Im Tagestherapiezentrum Koraci nade = Schritte der Hoffnung fand am 20. September 04 die feierliche Übergabe „unseres“ Transportbusses statt. Der Bürgermeister von Tuzla, der Sozialminister von Kanton Tuzla, Abgeordnete und Vertreter von sozialen Einrichtungen hielten Reden und dankten uns für den langen Einsatz und das vorbildliche Engagement. Am meisten beeindruckte uns der gelähmte 16jährige Nirmel, der aus dem Rollstuhl zuerst in Deutsch und dann Bosnisch einfache, doch so von Herzen kommende Worte des Dankes sagte. Anschließend gab es das berührend von den behinderten Kindern gespielte Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“. Der Rollstuhl „unserer“ Medina wurde zum Thron, denn sie spielte souverän die Königin.
14.) Schon im März lernten wir im Therapiezentrum die Familie Karamujic aus Teocak kennen. Sie kamen mit ihrem behinderten Kind, benötigten Saatgut und bekamen das Geld dafür. Nun wollten wir die Familie und die Ernte sehen und fuhren zu ihnen nach Teocak. Das Saatgutgeld haben sie für das Begräbnis der Schwiegermutter ausgegeben und konnten daher nicht anbauen. Die Kinder sind 7, 6, 4 und zwei Jahre alt, das 5. Kind kommt Anfang November in diese Welt: ein desolates Haus, davor sitzt der verwirrte Schwiegervater und sucht seine vor fünf Monaten verstorbene Frau. Er ist aggressiv und beschimpft alle. In einem Zimmer war einige Tage vor unserem Kommen ein Brand, die Fenster sind verbrannt, die Decken liegen angebrannt zwischen Essensresten, die Kinder sind fast ohne Kleidung, ohne Windeln im Dreck, die Kinder und die Mutter haben Hunger, es gibt kein einziges Möbelstück. Es stinkt. Der Vater ist arbeitslos. Wie kann man da helfen? Wo soll man anfangen? Wir geben den Kindern unsere Jause, beauftragen einen Tischler, die Fenster, eine Tür, einen Kasten mit Fächern und eine Stellage zu machen, lassen ein wenig Geld für Mehl dort und überlegen, was wir machen können.
15.) Die Grundschule in Stari Teocak bekam Hefte, Kugelschreiber und Bleistifte, die Rudi Speil aus seiner Schule mitgenommen hatte. Bei uns in Wien bleiben jedes Jahr eine Menge Schulsachen übrig, die die Gemeinde Wien zur Verfügung stellt. Auch Fundgegenstände aus Volks- und Hauptschulen gibt es jedes Jahr. Alles wird gebraucht hier, das Problem ist nur der Transport.
16.) Samira und Munib bringen ihre beiden Kinder, die operierte Samra (4) und die frühgeborene Azra (2 Jahre) weiterhin regelmäßig zur Therapie nach Koraci nade. Die Kinder machen gute Fortschritte, aber beide können noch nicht alleine gehen. Die finanzielle Lage ist weiterhin katastrophal, der Mann hilft immer wieder bei Baustellen. Die Frau Samira hatte vor einem Monat eine Nierenoperation (eine Niere musste entfernt werden). Und nie gibt es ein Jammern dort!
17.) Muniba ist die Schwester von Munib, eine schwere Diabetikerin mit einem zweijährigen behinderten Kind Aida, sie konnte von uns ein Blutzuckermessgerät bekommen, dann konnte ihr der Gebrauch des Gerätes erklärt werden und Muniba machte die erste selbständige Messung.
18.) Neu ist der vierjährige Ramo in Teocak, er ist geistig und körperlich schwerstbehindert, gelähmt, kann nicht sprechen, hört nicht, bewegt sich auch im Bett nicht. Der Vater ist von Geburt an schwerhörig, das Hörgerät hat er mit zehn Jahren bekommen und ist jetzt kaputt. Sie haben eine staatliche Unterstützung von 50.- Euro für diese drei Personen zusammen. Davon ist ein neues Hörgerät nicht zu bezahlen. Wir haben eine Patenschaft für das Kind von monatlich 25.- Euro vereinbart.
19.) Im Katholischen Schulzentrum konnten wir Eprouvetten und andere Glasbehälter für den Chemieunterricht abgeben. Sie werden in Wien in der Bundeslehr- und Versuchsanstalt/Rosensteingasse nicht mehr benötigt. Über Notenhefte und CDs freute sich dort die Musikprofessorin.
20.) Delfa ist glücklich in ihrem neuen Häuschen, sie bekam ihr Patenschaftsgeld und einen Heizzuschuss.
21.) Unsere schon lange betreute, jetzt 23jährige, seit vielen Jahren ohne Eltern oder irgendwelchen Verwandten allein in der Welt stehende Nermina hat ihre Darmrückoperation gut überstanden, die Verdauung funktioniert normal, der kleine fast zweijährige Zlatko gibt ihr Kraft und Freude. Sie hat aus Eigeninitiative beim Ministerium angesucht, die letzte Prüfung für das Krankenschwesterndiplom wiederholen zu dürfen. Bewilligung ist mit der Auflage, das sechsmonatige Praktikum auch zu wiederholen, gekommen. Wir, die wir schon 10 Jahre sie begleiten, freuen uns alle mit ihr.
22.) Begzada mit ihren beiden Söhnen Ibrahim u. Muhamed, die sehr darunter litt, dass ihr Mann behauptete, das behinderte Kind könne nur vom Teufel sein, hat es jetzt mit unserer Hilfe ein wenig ruhiger. Die Vaterschaft konnte nachgewiesen, die Ehe geschieden werden. Der Mann ist jetzt nicht auffindbar, so bekommt sie kein Geld, aber auch keine Schläge von ihm.
23.) In Tuzla ist eine alte bettlägerige Frau Zineta G. zuckerkrank, mit Herzproblemen. Ihr konnten wir ein Zuckermessgerät und einen Rollstuhl übergeben.
24.) Unsere Pflegemutter Mevluda betreut sieben Kinder, davon fünf Kinder behindert. Vanja und Sheherezada (Dada) gehen in die normale Schule, Miso ist blind, Advia ist schwerstbehindert, Medina blüht auf, seit sie ins Therapiezentrum darf, Samet ist psychisch gestört und hat es besonders schwer in dieser Gemeinschaft, Fikreta ist geistig behindert und hilft im Haushalt. Mevluda sieht man die jahrelange Arbeit mit den behinderten Kindern an, sie wird müde.
25.) Jaga empfängt uns mit den Worten: „Jetzt bin ich im Paradies!“ Sie hat 12 Jahre in einem Keller ohne Licht, ohne WC, ohne Heizung gehaust. Jetzt LEBT sie in einer kleinen Garçonniere im 5. Stock mit kleinem Balkon. Die Monatsmiete von 100.- Euro bezahlen wir vom Spendentopf, da Jaga nur 60 Euro Rente hat. Der Mietvertrag ist für zwei Jahre, das heißt bis Ende 2005, dann wollen die Besitzer die Wohnung verkaufen. Kommt Zeit, kommt Rat.
26.) Wir fahren nochmals zur „Katastrophenfamilie“ nach Teocak und gehen um professionelle Hilfe zum Sozialamt. Der Sozialarbeiter geht mit uns zur Familie Karamujic und ist auch entsetzt, leider hat bis dahin niemand vom Sozialamt die Familie besucht. Wir können einen Plan ausarbeiten und hoffen, dass er realisiert wird. Munib wird uns dabei helfen.
27.) In Teocak werden wir zu einer Frau Hatidza gerufen, ihr Mann hat sich nach dem Krieg in der Wohnung erschossen, sie selbst ist seither psychisch krank, die drei Söhne gehen in die Schule. Wir geben von unserem Notgroschen für Heizmaterial.
28.) Adis, unser guter Schüler in der 7. Klasse Gymnasium, kann mit Patenhilfe seine Schule weitermachen. Der Direktor des Gymnasiums legt uns diesen begabten und fleißigen Schüler besonders ans Herz, holt das Klassenbuch und zeigt uns das soeben eingetragene Sehr gut in Deutsch.
29.) Rukija mit ihrem bettlägerigen Mann Casim (seit 15 Jahren Dialysepatient) und dem behinderten Sohn Muhamed wartet immer schon auf uns und hat wieder AJVAR für uns gemacht.
30.) Vehid ist von der Intensivstation auf die Normalstation in ein 7-Bettenzimmer verlegt worden. Die Patienten werden nur, nachdem man den Ärzten und Schwestern Geld gegeben hat, beachtet. Wundpflaster, Lagerungspolster etc. muss man selbst bringen. Ich war erschüttert von der Pflege in diesem Krankenhaus. Vehid hat überlebt, seine Frau Fadila füttert ihn und er fragt, ob die Hunde genug zu trinken und zu fressen haben. Langsam kommt es Vehid, dass er sehr lange sehr krank war und freut sich auf das erste Aufstehen.
31.) Schon etwas müde fuhren wir nach Zentralbosnien zu Schwester Mateja in Bistrica bei Bugojno. Mit viel Freude und Liebe hat sie einen Kindergarten aufgebaut. Das Haus war jedoch für den Winter ungeeignet. Mit unserer Hilfe ist es wärmer geworden. Hoffentlich können die Kinder dort bleiben, denn die Besitzverhältnisse sind nicht ganz klar.
32.) Als letzten Besuch konnten wir noch eine große Freude erleben: Resada in Vrbanjci, bei Kotor Varos. Resada habe ich im Feber 1993 in einem Flüchtlingslager in Zagreb mit ihren drei Buben und der neugeboren Nedzada kennen gelernt. Der Mann, der Vater und der Bruder wurden im Dorf getötet, die Frauen und Kinder damals vertrieben. Nach Jahren gingen sie und ihre Schwägerin mit den zusammen fünf Kindern zurück nach Bosnien in ein kleines Häuschen in der Nähe von Zenica. In ihr Dorf konnten sie noch nicht, aber in Bosnien sein war wichtig. Im März 2001 konnte ich mit Resada das erste Mal in ihre Heimat fahren. Es war trostlos, alles zerstört, fremde Menschen, Misstrauen. Seit 2003 wohnt sie mit ihren Kindern im wieder aufgebauten, eigenen Haus, in der Heimat. Die Kinder gehen dort in die Schule, sind stolz jetzt, eine zweite Schrift (die kyrillische), gelernt zu haben. Es sind so natürliche, fröhliche Kinder mit einer wohl sehr abgearbeiteten, aber starken Mutter. Resada ist Vorbild für viele Frauen, auch wenn es nur wenige so bewältigen können. Für uns war es ein schöner positiver Abschluss dieser Reise zu den Menschen in Bosnien.
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