Annemarie Kury
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Wien, im Oktober 2003

Liebe Freunde, liebe Helfer für Bosnien!

Nach einem wunderschönen Sommer war es im September höchste Zeit, wieder eine Fahrt zu unseren Schützlingen in Bosnien zu machen. Es war meine 146. Reise.

Schon bald nach der bosnischen Grenze zwischen Orasje und Tuzla wurde ich in die Nachkriegsrealität eingefangen: rechts und links der Straße die Absperrungen mit Plastikschleifen mit der Aufschrift "Mine", lange stehende Autoschlange, da gerade entmint wurde, tiefe Spurrinnen im Asphalt von den vielen Lastwagen, die Hilfe nach Bosnien bringen.

Der heiße, trockene Sommer hat die Spurrinnen noch tiefer gemacht und die spärliche Ernte noch kleiner werden lassen.

Unweit von Tuzla habe ich bei einer Rückkehrerfamilie für zehn Tage mein Standquartier. Ich werde dort immer liebevoll verwöhnt, obwohl sie von einer minimalen Rente leben. Mein volles Auto ist in der Nacht im Garten gut geschützt und wird vom Hund bewacht.

Die nächsten Tage sind mit 21 Hausbesuchen / 37 Patenschaften ausgefüllt. Mit Besuchen bei Menschen in tiefster Not, die sich allein nicht helfen können, da sie krank, alt oder behindert sind und das Sozialnetz in Bosnien noch immer nicht funktioniert. "Meine" zwei bosnischen Medizinstudenten, die in Wien studieren, begleiten mich täglich abwechselnd, sie helfen mir, übersetzen, tragen, und wir können gemeinsam die Situationen besprechen. Ein Rotary Stipendium ermöglicht ihnen das Studium.

Für den 46jährigen MS-kranken Sevko konnten wir eine kleine Wohnung finden und die Miete bis Frühjahr 2004 voraus bezahlen (sonst hätten wir die Wohnung nicht bekommen). Seine Eltern sind im Altersheim, kommen täglich und pflegen ihn ganz. Sevko spürt seinen Körper nur mehr vom Nabel aufwärts, aber auch seine Arme, Hände folgen ihm nicht mehr, daher muss er gefüttert werden. Das Reden strengt ihn an. Doch sein Geist, seine Seele sind ganz wach. Er ist so zufrieden, auch dass er nun nicht Angst haben muss, auf der Straße zu landen. Sein Gesundheitszustand ist erschütternd, das Hinnehmen seines Schicksals, seine Dankbarkeit ist berührend.

Nermina, das Waisenkind, ist schon jahrelang unser Patenkind, sie ist jetzt 22 Jahre, hat einen bald einjährigen Sohn, und bei meinem letzten Besuch dachte ich: die hat sich errappelt. Seit Mai weiß sie und ich auch, dass sie an Darmkrebs erkrankt ist, operiert wurde, jetzt einen künstlichen Darmausgang hat, jeden Monat 5 Tage hintereinander Chemotherapie bekommt und sie und wir alle auf ihre Gesundung warten.

Mit dem in Österreich verheirateten und arbeitenden Kindesvater habe ich persönlich gesprochen und ihn an seine Zahlungsverpflichtung für das Kind erinnert.

Zwei unserer binnenvertriebenen Familien konnten in ihre Heimat, in ihr Haus im serbisch verwalteten Teil Bosniens zurückkehren: Saliha und ihre vier Kinder sind ihn ihrem von uns aufgebauten Haus in Janja glücklich: "Jetzt können wir nicht mehr delogiert werden, und ich kann wieder ruhig schlafen". Im Mai 1995 ist ihr Mann und dessen Bruder erschossen worden, sie musste sie identifizieren, im Juli 1995 sind ihr Vater und ihre drei Brüder und die Mutter in der Nähe von Srebrenica umgekommen. Man hat dieses Massengrab noch immer nicht gefunden, und sie möchte auch nie mehr zu einer Identifizierung gehen müssen. Da sie nur eine winzige Rente hat, die auch nicht jeden Monat kommt, planen wir im Frühjahr ein Feld (für Kartoffel, Kraut, etc.) zu pachten.

Die Familie Mesic, mit fünf Kindern, war glücklich, als sie erfuhren, dass auch sie in ihre Heimat, in ihr Haus zurück könnten. Als sie vor einem Monat hinkamen, waren die Fenster, die Türen, die elektrische Leitung, der Fußboden, die Brunnenpumpe, der Herd, die Möbel alles weg. Ein Schock - Verzweiflung! Zum Glück war Vehid, der Baumeister (bei dem ich wohne), mit, und wir konnten ihr diese Hoffnungslosigkeit mit einer Krisensitzung und Verhandeln mit Tischler etc. nehmen. Auch für Familie Mesic möchten wir ein Feld pachten.

Nicht weit von dort in Bijeljina lebt jetzt unsere schwer spastischgelähmte Mirsada mit ihrer Mutter. Sie sind glücklich im Vorjahr in ihr Haus zurückgekehrt und haben die Schäden mit unserer Hilfe behoben. Rente haben sie keine!

Unsere im Vorjahr in Österreich operierte Samra macht im ambulanten Therapiezentrum in Tuzla "KORACI NADE = SCHRITTE DER HOFFNUNG" gute Fortschritte. Das Therapiezentrum wird von uns unterstützt und betreut zur Zeit vier unserer Schützlinge. Besonders wichtig und wertvoll war mir die Kontaktaufnahme mit dem (Ober-)Sozialarbeiter vom Sozialamt Tuzla, den ich im Therapiezentrum kennen lernte. Das Gesprächsklima war sehr gut, da der Sozialarbeiter Bergsteiger ist und sich sehr für österreichische Berge interessiert. Immer wieder beteuerte er die finanziellen und bürokratischen Schwierigkeiten in seinem Zuständigkeitsbereich. Auch dürfen sie nur Menschen, die in Tuzla geboren sind, betreuen. Mit einer Einladung nach Murau zum Berggehen und einem aufmunternden "Bergsteiger finden immer einen Weg auch durch den Bürokratismus" konnte ich ihm doch die Zusage für Hilfe entlocken.

Unterdessen ist auch ein behindertes Pflegekind unserer Pflegemutter Mevluda im Therapiezentrum ein- bis zweimal in der Woche zur Therapie. Großer Erfolg, da die Pflegemutter sich jahrelang gesträubt hatte, eine Therapie anzunehmen. Die Zeit, dass Behinderte nur Körperpflege, Essen und ein Bett haben, muss auch in Bosnien vorbei sein.

So vergingen die Tage in Bosnien schnell, viel zu schnell. Wir konnten viele Tonnen Kohle, Holz und Wasser für die Zisterne und vieles mehr kaufen und liefern lassen. Die Mehlsäcke, Speiseöl, Erdäpfel, Zucker, Reis und Teigwaren konnten wir selbst kaufen und verteilen.

Ich weiß jetzt, dass viele Menschen, die in großer Not sind, sich nicht selbst rühren, nicht die Kraft haben, sich zu rühren, sich oft auch schämen, dies zu sagen. Ich weiß jetzt, dass ich (wir) zu diesen Menschen gehen müssen. Vielleicht sagen sie ihre Not nur ihrer Ziege, die immer noch für viele in Bosnien auch ein Therapietier ist. Unsere Ziegen leben, gedeihen und vermehren sich und sind für die Menschen in Not ganz, ganz wichtig. Der kroatische Präsident Stipe Mesic hat heuer im Sommer aufgerufen, in Kroatien mehr Ziegen zu halten, damit die Macchia nicht zu sehr überwuchert und damit die Wald(macchia)brände nicht so überhand nehmen. Er nannte Bosnien als gutes Beispiel.

Zur Musiklehrerin des Gymnasiums brachten wir viele klassische und auch nicht klassische CDs, das war wieder große Freude. Die Professorin konnte es gar nicht glauben, dass die ganze Schachtel für die Schule ist. In der Schule gibt es für den Unterricht schon einen CD-Player, aber sie selbst besitzt keinen. Welcher Musikprofessor in Österreich hat wohl keinen CD-Player? Ich habe die Professorin nach Wien eingeladen, sie freut sich auf Musik hier. Da sie wie alle kroatischen Bosnier (das sind die Katholiken) auch einen kroatischen Pass hat, geht dies ohne Visumprobleme.

Leider ist für Bosniaken (das sind die Muslime) und für die Serben (Orthodoxe - alles Bosnier!!) für Österreich Visumpflicht und da sehr strenge Bedingungen. Diese Situation sorgt immer wieder für Spannungen und ist sicher nicht im Sinne von friedenserhaltend. Die Bosnier müssten die Möglichkeit haben, über ihre Grenzen - vor allem nach Europa - hinaus blicken zu können, um gegenseitiges Verständnis, gegenseitige Wertschätzung, zu pflegen. Die Menschen in Bosnien können doch nicht von Fortbildung, Tourismus und Familienfesten im Ausland ausgeschlossen werden.

Österreich macht viel für Bosnien, zur Reisefreiheit reichte es noch nicht.
Über zwei österreichische Firmen, eine Zementfabrik in Lukavac und eine Speiseölfabrik in Brcko, habe ich so viel Lob gehört. Die dort Arbeitenden fühlen sich wie Privilegierte, weil sie jeden Monat ihren Lohn bekommen. Staatsangestellte bekommen oft monatelang keinen Gehalt. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch 50%. Wenn doch mehr Investoren die Möglichkeit, das Geld und den Mut hätten zum Aufbau der Industrie.

Vieles gäbe es noch zu erzählen, es wäre zu viel. Als ich, in Wien zurück, meine Post öffnete, war ich überrascht und auch erfreut, dass ein Folder von der Gesellschaft für BEDROHTE VÖLKER (http://www.gfbv.at) dabei war. Vor Jahren standen die Tarahumara Indianer in Mexiko im Mittelpunkt. Heuer stehen die Frauen von Srebrenica als bedrohtes Volk im Mittelpunkt, in Europa, 700-800 km von uns entfernt. Srebrenica ist durch die Medien bekannt geworden, viele Dörfer hatten ein ähnliches Schicksal.

Wir können keine Berge versetzen, aber versetzen wir große und kleine Steine!

Ich danke für die vielen sichtbaren und unsichtbaren großen und kleinen Steine.

Mit ganz lieben Grüßen

 

annemariekury@hotmail.com