Annemarie
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Wien, im April 2002
Liebe große Familie der Spender für Bosnien!
Noch im November 2001 konnte ich die Eröffnung der neuen Europaschule in Tuzla miterleben. Gebaut wurde das Gebäude für die Grundschule und das Gymnasium von der Deutschen Organisation "Renovabis", aber auch wir Österreicher waren hilfreich. Bücher, ein Mikroskop und eine Gitarre konnte ich damals übergeben. Bei dieser Fahrt im November konnte ich auch wieder Hausbesuche bei unseren Patenkindern in Tuzla und Umgebung machen und dabei Vorkehrungen für den Winter treffen (Lebensmittel und Heizmaterial). Der heurige Winter war in Bosnien besonders kalt und schneereich.
Schon zu Winterende bereitete ich die 140. Fahrt vor, diesmal mit drei Autos plus eines dazu von Graz bis Zagreb. Alle, die diesmal mitfuhren, waren "Bosnienneulinge". Wir starteten am Ostermontag und nannten diese Reise "Emmausfahrt".
Mag. Hans Reisenberger hat seine Eindrücke in seinem Reisebericht so gut aufgezeichnet, und so finde ich, diese wirken besser als meine Wiederholungen. Wo Spendengelder übergeben wurden, haben wir den Namen hervorgehoben (fett gedruckt).
Alle diese Aktionen (Projekte) sind nur möglich mit Hilfe der vielen Spender (seien es Geld- oder Sachspenden), und ich kann wieder versichern, diese Spenden kommen wirklich zu den Ärmsten. Seit ich wieder zurück bin, denke ich an das notwendige Weiterführen der Patenschaften, an ein weiteres Ziegenprogramm, an die Hausverbesserung für Delfa und Hilfe für das behinderte Kind Samra.
Ich bin überzeugt, dass sich wieder Quellen auftun. So danke ich allen für die immer wieder eingehenden, großzügigen Spenden.
Mit ganz lieben Grüßen, Annemarie Kury
Bosnienfahrt vom 1. bis 10. April 2002 (aufgeschrieben von Mag. Hans Reisenberger)
Vom 1. bis zum 10. April 2002 begleiteten wir Annemarie Kury auf ihrer 140. Fahrt nach Bosnien. "Wir" steht für Gerhard Beuchert, Hans und Erda Reisenberger. In Gralla, der letzten Raststätte vor der österreichisch-slowenischen Grenze, stießen noch Josef und Renate Posch zu uns, die den ersten Tag mit dabei sein wollten. Mit ihnen brachen wir in vier Autos zu unserer Hilfsaktion auf.
Vorausschicken muss ich, dass ich zum ersten Mal in Richtung Bosnien unterwegs war (Gerhard und Erda übrigens auch) und weder Land noch Leute von früheren Reisen her kannte. Umso beeindruckender waren für mich die Bilder entlang der mehr als 2500 km langen Autofahrt. Außerdem muss ich sehr beschämt zugeben, dass ich bosnischen Flüchtlingen, mit denen ich hier in Wien im Gespräch war, nicht geglaubt habe, dass sie nicht in ihre Häuser und Dörfer in Bosnien zurückkehren können. Heute weiß ich es besser und will mit diesem Bericht auch für die damals gehegten Zweifel Abbitte leisten.
In weiten Teilen Bosniens muss eine systematische Zerstörung aller Häuser stattgefunden haben. Haus um Haus wurde während des Krieges geplündert und von innen heraus mit Dynamit gesprengt. Eine Rückkehr in diese Häuser sollte unmöglich gemacht und damit ganze Regionen ethnisch gesäubert werden. Die anschließende Verminung der Straßen, der Ruinen und Felder macht diese Absicht noch deutlicher. Von den damals geschehenen Massenmorden will ich hier nicht berichten, nur soviel, dass gegenwärtig auffallend viele Frauen ohne Männer und erwachsene Söhne dastehen und in einzelnen Ortschaften überhaupt keine Männer den Krieg überlebt haben.
Die Spuren dieses Krieges sind auch jetzt, sieben Jahre nach Kriegsende, kaum zu übersehen, und wenn auch in den letzten sieben Jahren viel Hilfe geleistet wurde und viel Wiederaufbau geschehen ist, die Menschen in Bosnien brauchen weiterhin unsere Hilfe, neben dem aktuellen Weltgeschehen dürfen wir ihr Schicksal nicht vergessen!
Erste Station machen wir bei Familie Klepo in Jankomir bei Zagreb. Zagreb macht auf mich einen hektischen Eindruck, mit viel Verkehr auf den Straßen, und auf den ersten Blick kann ich keine Spuren von Armut und menschlichem Elend erkennen. Doch dann kommen wir in ein Barackenviertel und besuchen dort die Familie Klepo. Die Unterkunft ist eigentlich nur ein Anbau zu einer Baracke. Beim Betreten der Innenräume ziehen wir instinktiv die Köpfe ein, so niedrig ist die Decke. In den Fenstern ersetzt Plastikfolie die fehlenden Glasscheiben, das Dach ist undicht, die Mauern sind feucht und deswegen innen mit Styroportafeln notdürftig abgedeckt. Hier lebt die Familie Klepo mit vier Kindern, zwei älteren Mädchen und zwei noch schulpflichtigen Buben. Die Kinder schlafen jeweils zu zweit in einem Bett. Der Vater (47-jährig, wir hätten ihn für über 60 geschätzt) hat zwar Arbeit beim Straßenbau, seine Firma steht aber vor dem Konkurs und ist ihm den Lohn seit Jänner schuldig geblieben. Er weiß nicht mehr, wie er die notwendigsten Lebensmittel bezahlen soll. Josef und Renate Posch haben sich diese Familie für ihre Hilfe ausgewählt. Sie überreichen Geld für die dringende Dachreparatur und laden die mitgebrachten Hilfsgüter ab, dann trennen sich unsere Wege.
Mit den verbliebenen drei PKWs erreichen wir noch am ersten Tag Tramosnica. Bei den ersten Hausruinen will ich noch stehen bleiben, um sie zu fotografieren. Doch ich werde davon abgehalten mit der Vertröstung, ich werde noch genug davon zu sehen bekommen. Am nächsten Morgen sehe ich sie auch, ganze Dörfer von "Skeletthäusern". So habe ich diese Ruinen getauft, da von den Häusern durch die Sprengung nur die Betonteile (Ecksteher und Zwischendecken) stehen geblieben sind. Die Ziegelwände hat der Druck der Detonation nach außen geworfen, die Dächer haben dabei abgehoben. Familien, die zu ihren Häusern zurückkehren, müssen zuerst den Schutt wegräumen und dann die Wände wieder aufmauern, um überhaupt die Häuser wieder beziehen zu können. Wenn sie Glück hatten, hält das Betonskelett noch der statischen Beanspruchung stand. Manche Häuser müssen überhaupt völlig neu gebaut werden. Familie Dadic ist eine der ersten Familien, die zurückgekehrt ist. Bei ihr bringen wir die erste Nacht zu. Sie erzählen uns, wie ihre Häuser vor dem Wiederaufbau ausgesehen haben und dass es etliche Minenopfer gegeben hat. Bei meinem Morgenspaziergang entdecke ich auch mitten auf dem Feld eine Gedenkstätte für die dort zu Tode gekommenen Bauern. Annemarie Kury hat vor einem Jahr Ziegen für einige Familien in Tramosnica gekauft. Mit Freude zeigen sie uns den Nachwuchs, ein kleines Rudel ist daraus geworden. Jetzt brauchen sie das Geld für Saatgut, das für Unter-Tramosnica Pero Dadic und Fra Mija übernehmen. In Tramosnica (es gibt ein Ober- und ein Unter-) besichtigen wir auch die beiden Kirchen. Dort hat die Soldatesca "ordentliche" Arbeit geleistet, es wurden auch die Säulen gesprengt, damit die Gebäude ganz einstürzen. In Ober-Tramosnica kommen wir gerade Recht zum Beginn der Wiederaufbauarbeiten, die mit ausländischer Hilfe durchgeführt werden. Fra Valeria hat zumindest durchgesetzt, dass wenigstens einige Arbeiter auch aus der örtlichen Umgebung eingesetzt werden, um die spürbare Arbeitsnot ein wenig zu lindern. Annemarie Kury macht ihm klar, dass wir nicht hier sind, um den Kirchenneubau zu unterstützen, sondern die Not der Mensch lindern helfen wollen. Wir überlassen Fra Valeria Geld für die zehn ärmsten Familien in seiner Obhut, dann verlassen wir ihn in Richtung Tuzla.
In Tuzla treffen wir auf Miroslav Krstic und Dalibor Ilic, die uns von da an bei unseren Fahrten abwechselnd als Dolmetscher begleiten. Die beiden studieren mit einem Stipendium des Rotary Clubs Medizin in Wien. Bei deren Eltern können wir uns zwischen den anstrengenden Fahrten immer wieder stärken und erholen. Dort wartet Annemaries Sorgenkind Nermina auf ein Gespräch. Unser Nachtquartier schlagen wir aber etwas außerhalb von Tuzla in Bikode auf, wo wir unsere Autos bei Vehid und Fadila Marhosevic gut geschützt wissen. Annemarie kennt diese Familie noch aus Wien, Gersthof, wo sie während des Krieges als Flüchtlinge gelebt haben. Von Bikode aus starten wir in den nächsten Tage unsere Besuche.
Der erste Besuch gilt der Europaschule "Katholisches Schulzentrum Sv. Franjo" in Tuzla. Dort liefern wir gebrauchte Computer, Musikinstrumente und Bücher für die Schulbibliothek ab. Bücher sehen wir nur sehr wenige in den Regalen, trotzdem müssen unsere Bücher erst von der Schulleitung überprüft werden, ob man sie als Lehrbehelfe auch verwenden darf. Die Schule selbst wurde mit EU-Geldern neu gebaut, und mich interessiert (ich hatte selbst jahrzehntelang Leibesübungen unterrichtet) der Turnsaal. Ich stelle fest, dass es zwar eine schöne Übungsstätte, aber keine Geräte (weder Großgeräte, noch Matten und auch keine Handgeräte wie Bälle und dergleichen) gibt. Hier nehme ich mir für das nächste Mal vor, im Rahmen meiner Möglichkeiten Abhilfe zu schaffen.
Anschließend holen wir Saliha eine vertriebene Kriegswitwe, die mit ihren vier Kindern seit sieben Jahren in einer Notunterkunft in Pozarnica lebt, ab. Da diese Hausruine eigentlich Serben gehört, die zurückkehren, muss sie dieses Haus bis Ende Juni verlassen (Vertrag von Dayton). Für die Fertigstellung ihres eigenen Heimes in Janja hat Erda anlässlich ihres 60. Geburtstages Geld gesammelt, und wir wollen wissen, wie weit der Wiederaufbau fortgeschritten ist. Doch Saliha spannt uns auf die Folter, "wir werden es sehen", antwortet sie auf unsere Anfragen. Groß ist dann die Überraschung in Janja. Das Haus ist im Rohbau fertiggestellt. Mit dem Geld, das anlässlich des 80. Geburtstags von Dr. Otto Schönherr in Wien gesammelt wurde, hat Saliha das Dach decken, Fußböden legen und den Sanitärraum installieren lassen können. Wir erfahren, dass es noch keinen Wasseranschluss gibt, und entscheiden uns spontan, für diesen unser Gesammeltes dazulassen. Es fehlen auch noch die Möbel, um wirklich einziehen zu können. Zurijeta, die siebenjährige Tochter trägt mit viel Freude das erste Bett (Puppenbett!) in den Rohbau. Wir bringen Saliha wieder nach Pozarnica zurück, wo sie ihre Kinder bereits erwarten. Wir plaudern noch über Zukunftspläne und Schulbesuche der Kinder. Als wir sehen, dass die Mädchen im Englischunterricht mit kopierten Blättern aus österreichischen Lehrbüchern arbeiten, also den Text nicht einmal übersetzt lesen können, beschließt Gerhard, ihnen ein Wörterbuch zu besorgen, was er während unseres Aufenthaltes in Tuzla auch noch bewerkstelligt.
In der Nähe schauen wir gleich noch bei Familie Mesic vorbei, einer vertriebenen Familie mit fünf Kindern, 2 Mädchen und 3 Buben. Groß ist die Wiedersehensfreude mit Annemarie und herzlich die Begrüßung. Dann beginnt die Mutter, ihr Leid auszuschütten. Ihr Mann hat keine Arbeit, die erwachsenen Söhne finden ebenfalls keine. Die Familie lebt von Selbstversorgung vom Feld und von Kleintierhaltung. Der Frau sieht man die harte körperlich Arbeit an. Sie hat nur mehr schwarze Zahnstummeln im Mund. Von dem Zeitpunkt an schau ich den Leuten auf die Zähne, die Armen erkennt man meist schon an den Zahnlücken. Mit der älteren Tochter, sie geht in die siebente Klasse, ist demnach 13 Jahre alt, unterhalte ich mich in Englisch, sie kann sich gut verständigen und hat eine perfekte Aussprache. Gerhard bringt auch ihr drei Tage danach ein Wörterbuch für Englisch-Bosnisch vorbei.
Der nächste Tag, es ist bereits Donnerstag, der 4. April, ist einer offiziellen Exkursion gewidmet. Fadil Banjanovic, Minister für Rückführung Heimatvertriebener in über 600 Ortschaften, zeigt uns die Probleme in seinem Land und was bereits erreicht wurde. Ihn verbindet mit Annemarie Kury bereits sieben Jahre Zusammenarbeit mit etlichen gemeinsamen Hilfsaktionen. Bereits am nächsten Tag erscheint in der bosnischen Zeitung "Oslobodenja" ein Artikel über Annemarie und ihre humanitäre Delegation aus Österreich.
Zunächst suchen wir Serben in Pozarnica auf, die erst vor kurzem zu ihren Ruinen zurückgekehrt sind und denen es noch an allem fehlt. Wir lassen ihnen das restliche Installationsmaterial, Kleider und Schuhe zurück. Annemarie verspricht Soforthilfe durch den Ankauf von Hühnern und Ziegen. Die Durchführung dieses Projektes übernimmt Minister Banjanovic und ist auch bereits geschehen. Als Erfolg kann vermeldet werden, dass die Grundschule in diesem Ort wiedererrichtet worden ist. Fadil Banjanovic erklärt den Serben, dass eine Verbesserung ihrer Situation nur in kleinen Schritten erfolgen kann. In ihren Reihen steht auch ein Bosniake, deutlich erkennbar an seiner Kopfbedeckung, das lässt für die Koexistenz beider Volksgruppen hoffen.
Nächste Station ist ein Flüchtlichgslager in der Nähe von Teocak. Die Häuser sind dort neu gebaut, die Flüchtlinge müssen sie aber bis zum Sommer verlassen. Unsicherheit und Sorge vernimmt man aus ihren Wortmeldungen.
Doch das soziale Elend und menschlicher Schmerz kommen an diesem Tag noch intensiver. Über eine im Bau befindliche steile Bergstraße fahren wir hinter dem von UNHCR bereitgestellten Geländewagen nach Tursunovo Brdo. Wir besichtigen dort drei Häuser: Im ersten kann man die Not und den Hunger an den schmalbrüstigen, blassen Kindern erahnen. Sie bekommen Schnitten und Schokolade von uns. Vor dem zweiten Haus sitzt eine Großmutter mit ihrer Enkelin. Die schwerbehinderte Samra Alic, geboren am 20.7.2000, war noch nie in ärztlicher Behandlung. Es ist schmerzlich, das Leid der Familie mit ansehen zu müssen. Auch wir können hier im Augenblick nicht helfen (aber unterdessen sind in Österreich Gespräche über eine medizinische Versorgung des Kindes angelaufen). Im dritten Haus werden wir konfrontiert mit einem alten Ehepaar. Er ist 88 Jahre alt und völlig taub, seine Frau sitzt auf dem Boden und kann sich nur robbend weiterbewegen, weil ihre Gelenke kaputt sind. Die beiden haben weder Rente noch Krankenversicherung und sind auf Nachbarschaftshilfe angewiesen. So stelle ich mir das Gemeinsam-Altwerden allerdings nicht vor.
Bei der Rückfahrt über die Bergstraße bleibe ich mit dem Auto hängen, Erda und Gerhard müssen aussteigen und anschieben. An anderer Stelle springen die Straßenarbeiter rasch zur Seite, damit sie mir den Schwung nicht nehmen, den ich zum Durchkommen benötige. Wie ich später von Minister Banjanovic höre, arbeiten diese Männer hier freiwillig ohne Lohn, damit die Straße gebaut werden kann.
Den Nachmittag haben wir reserviert für den Besuch bei Mirsada. Der Fall "Mirsada" ist ein besonders tragischer. Die von ihrer Geburt an spastisch gelähmte Frau hängt mit besonderer Liebe an Annemarie. Wir kennen bereits ihre Geschichte, Annemarie hat sie uns schon in Wien erzählt, um uns auf dieses Zusammentreffen vorzubereiten. Mirsada und ihre Mutter wurden wie viele andere aus ihrem Heimatort vertrieben, wo ihre Familie drei Häuser besitzt. Mit einem Lastwagen wurden sie eines Tages im Krieg fortgeführt. In einem Waldstück hielt das Fahrzeug und die Vertrieben wurden fortgejagt. Mirsada, die von ihrer Mutter getragen werden musste, schaffte die Flucht nicht. Gemeinsam sanken sie zu Boden und blieben dort kauern. Die Soldaten hetzten Hunde auf die beiden, doch die Hunde taten ihnen nichts. Daraufhin schlugen die Soldaten mit Gewehrkolben auf die Mutter ein. Sie blieb mit einer Gehirnblutung liegen und erblindete. Mirsada spricht wegen ihrer spastischen Behinderung undeutlich, nur ihre Mutter kann sie verstehen. Im Dezember des heurigen Jahres wird Mirsada 50 Jahre alt. Um die ärgste Not zu lindern, wird Patenschaftsgeld und Geld für die Miete übergeben.
Den 5. Tag unserer Fahrt beginnen wir bei Mevluda, einer Pflegemutter in Tuzla. Auf unsere Frage, wie viele Kinder sie schon bei sich aufgenommen hat, kann sie nicht exakt antworten, aber es waren mehr als hundert. Derzeit hat sie sieben Pflegekinder, fünf von ihnen sind mehrfach behindert. Medina, ein spastisch gelähmtes Mädchen singt uns mit wunderschöner, zarter Stimme ein Lied vor. Als sie so singt und mit ihren eingeschlagenen Beinen auf dem Bett sitzend im Rhythmus des Liedes federt, male ich mir aus, wie man dieses Kind mit Hilfe der Musik auch körperlich fördern könnte. Mit den Spendengelder der Österreicher wurde für Mevluda bereits das Haus erweitert, und die Kinder müssen heute nicht mehr wie früher wie in einem Stall hausen. Sie werden von Mevluda gepflegt und mit Nahrung versorgt, aber heilpädagogische Maßnahmen liegen für diese Kinder noch in unerreichbarer Ferne.
Nun geht es zu einer Romafamilie. Das Schicksal hat Annemarie mit einem Mädchen aus dieser Familie zusammengeführt, sie heißt Safeta. Mit 14 Jahren hatte sie ihr erstes Kind bekommen, das in einem Kinderheim lebt. Im Dezember 1997 wurde sie beim Betteln auf der Straße von einem Autofahrer niedergestoßen und liegengelassen. Mit einem Beckenbruch, einer Wirbelsäulenverletzung und einem komplizierten Oberarmbruch wurde sie am nächsten Morgen von Kindern auf dem Schulweg gefunden. Mit einer temporären Querschnittlähmung landete sie bei Mevluda, die sich um das Mädchen annahm. Dort lernte Annemarie sie Anfang 1998 kennen und tat eine Patenschaft für sie auf. Nach einem Jahr bei Mevluda konnte Safeta wieder einigermaßen gehen und suchte wieder ihre Freiheit. Mehr durch einen Zufall fand Annemarie sie am 10.4.1999 wieder bettelnd auf einem Parkplatz in Tuzla. Sie erzählte, dass sie bei ihrem Onkel Safet Unterkunft gefunden hatte. Doch bei den nächsten drei Fahrten war Safeta unauffindbar. Erst im November 2000 findet Annemarie sie bei ihrem Onkel wieder, mit einer gerade 7 Tage alten Tochter. Dann verschwindet sie neuerlich samt Tochter. Es ist daher auch heute nicht sicher, ob wir sie antreffen werden. Sie ist zu Hause, auch ihr Onkel und dessen Frau Samanta. Voll stolz zeigt uns das Familienoberhaupt seine sechs Kinder. Safeta hat ihr drittes Kind an der Brust, den 3 Monate alten Adis. Ihr zweites Kind ist angeblich auch im Kinderheim gelandet. Mit Feingefühl für die Romas teilt Annemarie das mitgebrachte Patenschaftsgeld auf alle drei Erwachsenen aus. Das letzte Mal war das nicht ganz reibungslos gegangen. Trotzdem müssen wir befürchten, dass ein Großteil des Geldes letztlich vom Familienoberhaupt vertrunken wird.
Nicht weit von der Romafmilie entfernt lebt die vertriebene Semsa mit ihrem Enkel Faruk (ein Kriegswaise). Für ihn gibt es seit Jahren eine Patenschaft, und er ist ein guter Schüler. Wie wir aus Erzählungen erfahren haben, verbindet eine gemeinsame abenteuerliche Flucht aus dem Kriegsgebiet die beiden Frauen, Annemarie und Semsa.
Am Nachmittag besuchen Erda und Annemarie noch Jaga, die in einem Kellerraum haust, dann Rukija mit ihrem behinderten Sohn Muhamed (ihr Mann muss regelmäßig zu Dialyse ins Spital gebracht werden) und Jasmina, eine junge Witwe und deren Tochter. Ich begleite Gerhard in die Altstadt. Wir wollen die Wörterbücher für die Schulmädchen von Saliha und der Familie Mesic besorgen. Dabei stoßen wir auch auf die Gedenkstätte der 72 Toten, die bei einem völlig unsinnigen Granatenangriff, eigentlich während eines Waffenstillstandes am 25. Mai 1995 im historischen Zentrum von Tuzla ums Leben gekommen waren. Es hatte zum Großteil Jugendliche getroffen, die sich an diesem warmen Maiabend in der Altstadt am Tag der Jugend (ehemals "Titos Geburtstag") versammelt hatten.
Der Besuch des Kinderheimes ist unser erster Programmpunkt des nächsten Tages. Wir bringen Geld, Kinderkleidung, Schuhe, Schnitten und Schokolade mit. Vor allem aber wollen wir Sejfo, den mittlerweile 7 Jahre alten ersten Sohn von Safeta treffen. Annemarie unterhält sich eine Weile mit ihm, bis sie ihn mit Schnitten und ein wenig Taschengeld, mit dem er seine Freunde in die Konditorei einladen kann, entlässt. Von Safetas zweitem Kind wissen sie im Heim nichts, doch sie haben ein noch nicht identifiziertes kleines Mädchen, das dem Alter nach ihre Tochter sein könnte.
Zu Fuß gehen wir dann zu Delfa. Sie wohnt oben auf einem Hügel am Rande von Tuzla. Die Lage mit Blick hinunter ins Tal ist auch schon das einzige Schöne an ihrem Domizil. Eigentlich muss es ehedem ein Stall gewesen sein, den sie jetzt bewohnt. Als Tür wurde eine einfache Zimmertür verwendet, das Pultdach aus Well-Eternit springt kaum vor, sodass es bei schlechtem Wetter gegen die Tür regnet, das Dach ist nicht mehr dicht. Der Raum ist klein, die Decke niedrig und es ist so finster darinnen, dass wir kaum etwas erkennen können. Erda, die einen Schritt hinein gewagt hat, berichtet, dass neben dem Küchenherd gerade noch ein Bett Platz findet. Es gibt keinen Kamin, das Ofenrohr wird durch die Mauer nach außen geleitet. Es gibt kein Klo, lediglich auf dem Feld über einem Erdloch einen notdürftigen Verschlag aus rostigem Blech, Brettern und Fetzen. Delfa ist taub und spricht deswegen auch sehr undeutlich, das macht sie zur Ausgestoßenen. Wenn Annemarie nicht auf ihre Not hingewiesen worden wäre, sie wäre wahrscheinlich schon erfroren oder verhungert, weil sie damals im Jänner 1997 weder Holz zum Heizen noch Nahrungsmittel hatte. Sie bekommt seither aus einer Patenschaft Geld, um sich am Leben erhalten zu können, für die Verbesserung ihrer Wohnsituation sollte aber dringend noch mehr getan werden.
Im Franziskanerkloster von Tuzla ist das geistig behinderte Patenkind Branco. Dort treffen wir auch Pater Guardian Petar Matanovic zu einem guten Gespräch.
Am Nachmittag statten wir Ramo und Hanna in Zivinice einen Besuch ab. Sie lebten acht Jahre als Flüchtlinge in Wien, haben mit unserer und der Hilfe ihrer Kinder ein Haus aufgebaut, in dem sie ohne Miete leben können. Die Pension von Ramo beträgt 70 Euro.
Der nach einem Arbeitsunfall querschnittgelähmte Nezir hält sich gerade in seinem Heimatort Kalesija auf. Wir fahren auch dorthin. Da er ansonsten in Wien lebt, machen wir ein Wiedersehen aus. Wir wollen ihm die Möglichkeit für Rollstuhlfahrer in Wien zeigen, dass er die U-Bahn benützen lernt, und dass er auf der Donauinsel weite Strecken auf glattem Asphalt dahinrollen kann. Vielleicht gelingt es uns, in ihm wieder Freude an der Bewegung in freier Natur zu wecken, wir wollen es wenigstens versuchen.
Am Sonntag, dem 7. April, brechen wir nach Sarajevo auf, wo wir bei den Franziskanern in der Theologischen Fakultät (in der Nähe des Flughafens von Sarajevo) Quartier bekommen. Gespräche und Hinweise über die Situation in Derventa und Doboj mit Prof. Mile Babic und Fra Mirko Filipovic lassen uns für dort neue Ziegenprojekte planen. Völlig neu ist für mich der franziskanische Klosteralltag. Am darauffolgenden Tag finden wir uns zusammen mit 50 Theologiestudenten und 12 konzelebrierenden Theologieprofessoren bei der Frühmesse ein, dann erst gibt es ein schnelles aber fröhliches Frühstück.
Annemarie hat einen Gesprächstermin mit dem Ersten Botschaftssekretär der Österreichischen Botschaft in Sarajevo, Herrn Mag. Christian Ebner. Wir dürfen sie begleiten und benützen die öffentlichen Verkehrsmittel. Da die Straßenbahnen durch die Kriegseinwirkungen zerstört worden waren, haben die Schweiz und auch Österreich nach dem Krieg mit alten Garnituren ausgeholfen, jeder Zug schaut anders aus. Auf dem Weg zur Botschaft sehen wir die Spuren der Zerstörung. Arg getroffen hat es die Nationalbibliothek, die in der Nacht vom 25.-26. August 1992 von serbischen Terroristen in Flammen gesetzt wurde. Über 2 Millionen Bücher wurden damals ein Raub der Flammen, das Gebäude selbst brannte völlig aus. Die Österreichische Regierung hat mit viel Geld die ersten Sanierungen durch gewagte Stützungsmaßnahmen im Inneren der Nationalbibliothek durchgeführt. Das Gespräch mit Botschaftssekretär Ebner verläuft in angenehm lockerer Atmosphäre. Ich gewinne einen ungemein positiven Eindruck von Magister Ebner, diesem jungen Diplomaten und bin überzeugt, dass er in dieser Position im Namen Österreichs noch viel Gutes für das krisengeschüttelte Bosnien tun wird.
In der Altstadt von Sarajevo treffen wir uns mit der Mathematik-Studentin Suzanka und setzen uns zur Übergabe des Patenschaftsgeldes mit ihr in ein Kaffeehaus. Für Annemarie ist es der erste Kaffeehausbesuch in Sarajevo während ihrer zehnjährigen Tätigkeit in diesem Land. Auf dem Rückweg zum Kloster verweile ich einige Gedenkminuten beim Anblick des völlig zerstörten Medienhochhauses. Bis knapp vor dem Einsturz des Gebäudes wurde von hier aus während des Belagerungszustandes die Weltöffentlichkeit um Hilfe gebeten.
Ein zweites Mal nächtigen wir bei den Franziskanern, dann geht es weiter nach Kotor Varos. Man sucht dort bis heute Massengräber der Männer, denn erst dann werden die überlebenden Frauen als Kriegswitwen anerkannt. Bis dahin sind sie auf humanitäre Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Durch Patenschaften in Österreich wird hier seit Jahren zwei Frauen geholfen: Resada und Hamsija. Beider Häuser sind im Rohbau fertig und können bald bezogen werden.
Die erst 1991 fertiggestellt neu Kirche von Kotor Varos wurde 1992 völlig zerstört. Es war ein wunderschöner Sakralbau, ich habe Bilder davon gesehen, jetzt ragen nur mehr Betonpfeiler und Eisenteile gegen den Himmel. An diesem Tag schneit es heftig und wir sind froh, dass wir die Winterreifen noch aufgezogen haben. Nach einigen Grenzschikanen in der Provinz Srbska Republika erreichen wir Slavonski Brod, und dort ganz in der Nähe, in Podvinije, nächtigen wir in einem Rehabzentrum für Kindern.
Fra Ilija Jerkovic, der mit außerordentlich viel Organisationstalent hier in Podvinije ein Zentrum zur Therapierung behinderter Kinder geschaffen hat, erwartet uns schon. Nachdem er uns "sein" Spital gezeigt hat, schlägt er vor, Franziskanerinnen in Odzak zu besuchen. Die Schwestern leben in internationaler Gemeinschaft, auch eine Wienerin ist dabei. Wir können nicht widersprechen und machen uns neuerlich auf die Fahrt zurück nach Bosnien. Eine Stunde Hinfahrt, eine Stunde Aufenthalt bei den Schwestern, die zu ihrer Verständigung untereinander Französisch sprechen obwohl keine von ihnen Französin ist, eine Stunde für die Rückfahrt. Der Grenzübertritt bei der Retourfahrt wird für uns spannend. Mit einer Fähre überqueren wir mitten in der Nacht die Save, in unseren Kofferräumen Lebensmittel von den Franziskanerinnen für das Kinderspital in Kroatien.
Am nächsten Tag zeigt uns der Kinderarzt des Spitals noch die Therapieräume. Annemarie unterstützt das Therpiezentrum mit einer Geldspende für bosnische Kinder und bespricht mit Fra Ilija ihr nächstes Ziegenprojekt. Auf der Landkarte sehen wir, dass der derzeitige Aufenthaltsort von Schwester Mateja, einem "verlorengegangenen Schäfchen" von Annemarie, in nächster Nähe ist, und wir besuchen sie. Schwester Mateja, der ehemaligen Leiterin eines Kindergartens in Sarajevo, geht es nach erzwungener Veränderung psychisch nicht gut. Am liebsten wäre sie mit uns nach Wien gefahren. Annemarie beschäftigt das Schicksal dieser Frau noch lange.
Doch dann geht es endgültig zurück nach Österreich. Nach einer kurzen Jausenpause in "Plitvice" (gemeint ist hier eine Autobahnraststätte in Zagreb und nicht die Plitvicer Seen, wie wir es ursprünglich geplant hatten) bleiben wir nur mehr an den Grenzen und den Mautstellen stehen. In Gralla, wo unsere gemeinsame Aktion vor 10 Tagen begonnen hatte, verabschieden wir uns voneinender. Ich bin um eine gewaltige Erfahrung reicher, mein geographischer Horizont, vor allem aber mein Gefühl für Mitmenschen ist um einen riesigen Schritt weiter geworden. Sowie Gerhard meinen auch wir, Erda und Hans, dass wir nicht das letzte Mal in Bosnien gewesen sind.