Annemarie
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Wien, 16. Oktober 2000
Liebe Freunde, liebe große Familie der Flüchtlingshelfer!
Ein abwechslungsreicher Sommer mit Kälte, Stürmen, Schnee, aber auch vielen warmen Sonnentagen habe ich auf der Frauenalm erlebt. Die kleine Alpenvereinshütte, die ich im Sommer bewarte, hat keinen Strom und kein Wasser. Die Quelle liegt tiefer, so ist das Wasser ca. eine Viertelstunde lang bergauf zu tragen. Heuer war es das erste Mal, dass das Brünndl trocken war - Gott sei Dank nur zwei Tage, dann kam der erbetete Regen.
Meine Gedanken waren viel in Bosnien; die Wassernot, die Wassersorge erlebe ich dort immer wieder. Seit sechs Jahren, Sommer und Winter, schleppt Saliha jeden Tropfen Wasser für sich und ihre vier Kinder zwanzig Minuten zum Teil bergauf zu ihrer Behausung. In Bosnien war der heurige Sommer sehr heiß (45°) und besonders trocken, so dass das bisschen Gemüse in den Gärten vertrocknete.
Im September drängte es mich schon zu unseren Patenfamilien. In den neun Jahren, in denen ich unterwegs bin (seit November 1991), hat sich schon viel verändert. Das Wichtigste: Seit fünf Jahren (November 1995) ist kein Krieg mehr. Die Waffen schweigen, doch wirklicher Friede kann noch nicht sein. Zu viel ist in diesem schrecklichen Krieg in Bosnien passiert.
LASST FRIEDEN WACHSEN!
In dem ca. vier Millionen Einwohner zählenden Land sind zweieinhalb Millionen vertrieben worden oder geflüchtet. 250.000 Menschen sind getötet worden. Die Hälfte der Häuser ist zerstört, verbrannt, geplündert; die Industrie ist zerstört; viele Gebiete des Landes sind vermint (ich weiß nicht, wie viele der sechs Millionen Minen schon entschärft sind). Um ein Stück Land in der Größe eines Fußballfeldes zu entminen, brauchen zwanzig Mann zehn Tage. 1 m² Boden entminen kostet 15 bis 20 Schilling. Der Staat hat nahezu keine Einnahmen. Die Millionen aus dem Ausland versickern. Führungskräfte fehlen, sie sind meist im Ausland, weil sie dort besser verdienen. 60 Prozent der jüngeren Bosnier möchten auswandern. Die Arbeitslosigkeit beträgt weiterhin 60 Prozent. Arbeit bekommt man nur mit Protektion und/oder Schmiergeld.
Ich habe eine hohe Politikerin nach den Sozialgesetzen gefragt. "Der Staat hat kein Geld, und wo nichts ist, kann auch nichts gegeben werden. Also debattieren wir nicht über Sozialgesetze", war ihre Antwort. Die Politiker diskutieren eher über das Aussehen des gemeinsamen Passes. Bosnien ist geteilt in die von Serben verwaltete Serpska Republika und in die von Kroaten und Bosniaken (Muslimen) gemeinsam verwaltete Föderation.
Nur die Arbeitenden sind krankenversichert, und diese müssen für jede Behandlung einen hohen Anteil zahlen. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist 300 D-Mark. Zahlungsmittel ist weiterhin die Deutsche Mark (DM oder wertgleich die Konvertible Mark (KM). In einer Aussendung der österreichischen Wirtschaftskammer heißt es bei den Reisetipps für reisende Wirtschaftsleute: "Durchschnittliche Aufenthaltskosten ca. DM 500 + DM 300 für Hotel pro Tag." Das heißt, dass ein österreichischer Wirtschaftsmann an einem Tag so viel ausgibt wie ein Durchschnittsbosnier in zweieinhalb Monaten verdient. Ich gönne den Bosniern das Geschäft mit den ausländischen Besuchern, aber stellen wir uns doch das Leben für den Durchschnittsbürger in Bosnien vor! Unseren Patenfamilien geht es schlecht. Sie sind ohne oder fast ohne Einkommen; dazu kommt jetzt die Sorge um eine Wohnung. Laut Dayton-Vertrag soll (kann) jeder in sein Haus zurück. Das ist aber oft von Vertriebenen einer anderen Volksgruppe bewohnt, oder das Haus ist zerstört. Im September ist es im Kanton Tuzla in drei Orten zu brutalen polizeilichen Delogierungen gekommen. Frauen und Kinder sind mit Schlagstöcken der bosnischen Polizei aus den Häusern auf die Straße getrieben worden. Ein Kind starb dabei. Die Angst und Unsicherheit ist dementsprechend groß.
Wir konnten mit dem Spendengeld Mieten, Lebensmittel, Kohle, Holz und Ziegen einkaufen und verteilen. 100 kg Mehl kosten 450 Schilling; 100 kg Zucker kosten 630 Schilling; 10 Liter Öl kosten 70 Schilling.
Eine Woche verbrachte ich mit Einkaufen und Verteilen in Tuzla, aber es gab keinen Tag, der durchgehend Wasser, und nur ganz wenige Tage, die durchgehend Strom hatten. Der Tank meines Autos war schon fast leer, aber es gab tagelang keinen Diesel. Bei der x-ten Tankstelle bat ich um 10 Liter, da ich humanitäre Hilfe liefere. Der Tankstellenbesitzer lotste mich hinter die Tankstelle und gab mir 10 Liter Diesel und, wie er sagte, für humanitäre Zwecke normalen Preis (1,5 DM pro Liter). Ich konnte dieses Spielchen vier Mal machen und mein Tank war wieder voll. So setzte ich die Besuche bei den Patenkindern fort und fuhr weiter nach Sarajevo.
Im Kindergarten Leptir (Schmetterling) in Sarajevo begrüßten mich die Kinder mit dem deutsch gesungenen Lied "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König". Eine Schwester betreut dort 22 Kinder; es sind dies Halbwaise und Kinder aus ganz armen Familien, die zum Teil nur wegen der warmen Mahlzeit gebracht werden. Ich konnte einen halben Tag mit ihnen zusammen spielen, singen, malen und ihnen die neuen Spiele und Farben erklären. Sie üben jetzt als neues Lied "Bruder Jakob, schläfst du noch?"
In Sarajevo traf ich mit österreichischen Journalisten zusammen, die von Pro-Europa/Österreichische Bischofskonferenz eingeladen wurden, um die Situation in Bosnien zu sehen und in den österreichischen Medien zu berichten (z.B. OÖ Nachrichten, Salzburger Nachrichten, Furche, Standard, Hörfunk). Es waren interessante Gespräche in der österreichischen Botschaft mit Politikern, kirchlichen Würdenträgern und Diplomaten. Besichtigt wurden Projekte, die von Pro-Europa unterstützt werden: Schulen und Pfarren. Eine unserer Familien konnten wir besuchen und somit die Journalisten auch die furchtbare Not im Alltag sehen lassen. Resarda mit vier Kindern, die Vater, zwei Brüder und Mann im Krieg verloren hat - ja verloren, denn sie weiß seit 1992 nicht von ihnen - bekommt für die fünfköpfige Familie 200 DM Sozialhilfe im Monat. Zusätzlich von unseren Paten 50 DM pro Kind pro Monat. Sie ist noch nicht auf der Liste der Kriegswitwen, da die Massengräber in Kotorvaros noch nicht gefunden sind, und erst dann wird die Frau zur Identifizierung geholt. Täglich wartet sie mit viel Angst auf diesen Augenblick. Zur Zeit möchten auch die Besitzer des Häuschen, in dem sie jetzt lebt, dieses verkaufen. Ob sie von der Polizei delogiert/vertrieben wird? Ihr Haus in Kotorvaros ist zerstört und sie hat keine Papiere davon.
In Bosnien kann man alles kaufen: Lebensmittel, Kleidung, Heizmaterial, Führerscheine, Zeugenaussagen, Dokumente, Militäruntauglichkeitsbescheinigungen usw. Um zu überleben, muss man sich Geld beschaffen. Wie kann man da anständig bleiben?
Mit unserer Hilfe ist es leichter:
So danke ich im Namen unserer insgesamt 22 Familien (ca. 60 Personen) für die großzügigen Spenden für Lebensmittel, Heizmaterial, Miete, Medikamente, Ziegen und vor allem für das Anständig-bleiben-Dürfen.
Neun Jahre mit humanitärer Hilfe unterwegs (131 Mal), fünf Jahre nach Kriegsende (November 1995 Dayton-Vertrag) und immer
noch hab ich Hoffnung, dass durch unsere Tropfen das Leben der Bosnier ein klein wenig besser wird.
Mit ganz lieben Grüßen Eure |