Seit Jahren engagieren sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz viele Männer und Frauen für die leidgeprüften Menschen am Balkan. Eine von diesen Helfern ist die Wiener Krankenschwester Annemarie Kury. Eine Reportage von GEORG MOTYLEWITZ.
Seit fünf Jahren schweigen die Waffen in Bosnien. Doch von einer
Normalisierung des Lebens in dieser Region kann keine Rede sein. Immer noch
werden etwa 14.000 Menschen vermisst und es werden ständig neue Massengräber
entdeckt. Erst kürzlich fand man im Osten Bosniens ein Massengrab am Ufer des
Flusses Drina in der Nähe von Visegrad. Unter den zerstreut liegenden Knochen
wurden Patronenhülsen gefunden, einem der Opfer wurden die Hände mit Draht auf
dem Rücken zusammengebunden.
In Bosnien gibt es kaum funktionierende Betriebe und kein greifendes Sozialnetz.
Menschen, die in ihre Häuser zurückkehren, stehen meistens vor dem Nichts.
Ihre Häuser sind entweder Ruinen oder von anderen Vertriebenen bewohnt. Da es
kaum Arbeitsplätze gibt, funktioniert auch die Krankenversicherung kaum. Die
Menschen ernähren sich von dem, was sie auf ihren
Feldern selbst anbauen. Doch die Arbeit auf dem eigenen Feld ist gefährlich,
denn ganze Landstriche sind immer noch vermint. Ohne Hilfe aus dem Ausland
würden viele nicht überleben.
Annemarie Kury aus Wien hilft bereits seit sechs Jahren den Armen in Bosnien.
Mit einem Kreis von Bekannten und Förderem hat sie eine Patenschaft über 60
Familien in Bosnien übernommen.
Wir begleiten Annemarie Kury auf ihrer bereits 132. Reise nach Bosnien. Die
Zentralwäscherei der Gemeinde Wien hat ihr Spitalwäsche zur Verfügung
gestellt. So fährt sie diesmal nach Tuzla im Osten des Landes. Unsere erste
Station ist das dortige städtische Krankenhaus. Die Sachen werden von den
Krankenpflegern vom Wagen abgeladen und in ein Wäschelager gebracht.
Wir gehen zum Spitalsdirektor. Muhamed Rifat Begovic ist in seinem Büro und
schildert uns die Probleme in seiner Anstalt.
Die finanzielle Situation des Spitals ist katastrophal. Der Schuldenberg
wächst. In Bosnien gibt es zwar eine Krankenversicherung, aber dadurch, dass
nur wenige Menschen offiziell beschäftigt sind, bekommt das Spital kaum Geld
von der Versicherung. So werden für jede Untersuchung bei den Patienten
Gebühren eingehoben. Ein zehntägiger Aufenthalt im Spital kostet DM 70. Bis
jetzt hat das Spital viele Arzneimittel als humanitäre Hilfe bekommen. Doch
große Transporte, wie in früheren Jahren, gibt es kaum mehr. So hat sich die
Situation im Gesundheitswesen dramatisch verschlechtert.
Wir verlassen das Krankenhaus. Unsere zweite Station ist das Haus einer
Kriegswitwe. Sie wohnt in einem Vorort von Tuzla. Es liegen noch 20 Kilometer
vor uns. Annemarie Kury erinnert sich an die Anfänge ihres Engagements in
Bosnien. "Als 1991 der Krieg in Kroatien ausgebrochen ist, hat sie in den
Medien verschiedene Berichte aus diesem Krisengebiet gehört. Dabei wurde immer
auch um Hilfe gebeten. Annemarie, selbst eine vertriebene Sudetendeutsche und
Witwe mit 5 Kindern, konnte nachempfinden, was es bedeutet, sein Zuhause
plötzlich zu verlieren. Zu dieser Zeit war sie noch als Krankenschwester
tätig. Ohne viel nachzudenken, beschloss sie, ihren VW Golf mit Lebensmitteln
zu beladen und nach Kroatien zu fahren. Sie verfasste ein Schreiben, dass sie
beauftragt ist, wichtige Sachen in das Krisengebiet zu bringen (mit Datum,
einigen Stempeln und ihrer eigenen Unterschrift)*. Dann zog sie
sich ihre Krankenschwesterntracht an und fuhr nach Zagreb. Die Reise dauerte
lange, weil sie Panzersperren und zahlreiche Kontrollen passieren musste. In
Zagreb angekommen, wandte sie sich an die Mitarbeiterin der Caritas, Jelena
Brajsa, die sie bereits von verschiedenen Vorträgen in Österreich kannte. Als
sich ein Jahr später der Krieg in Bosnien ausbreitete, begann sie, den Menschen
auch dort zu helfen. Dank der Mithilfe von Bekannten und zahlreicher Förderer
unterstützt sie bis heute etwa 60 Familien in Bosnien.
Inzwischen ist unser Wagen schon in der Nähe des Hauses, in dem Saliha
Halilovic wohnt. Das Haus gehört eigentlich ihrer Schwägerin. Saliha, eine
Kriegswitwe, und ihre vier Kinder haben hier nur eine vorübergehende Zuflucht
gefunden.
Sie hat uns von weitem gesehen und begrüßt uns auf der Treppe des Hauses. Wir
gehen hinein. Kurz danach kommt auch die Schwägerin Rahima. Sie ist krank und
leidet an Magengeschwüren. Eigentlich müsste sie operiert werden. Sie hat
sogar schon im Spital nachgefragt, was diese Behandlung kosten würde. Die
Ärzte haben ihr gesagt, erzählt sie uns, "die Operation wird etwa 500 DM
kosten. Wenn du das Geld hast, wirst du behandelt, wenn nicht, geh nach Hause,
leide weiter und sterbe."
Während unseres Gesprächs kommt auch Salihas Sohn Hajrudin. Annemarie hat ein
Geschenk für ihn, eine Bohrmaschine. Bis jetzt hat der 20-jährige Mann
Ziegelsteine aus den Hausruinen geputzt und auf der Straße verkauft. Mit der
Bohrmaschine hofft er, leichter eine Beschäftigung zu finden. Im vergangenen
Jahr hat er Glück gehabt, erzählt er, denn er konnte auf verschiedenen
Baustellen arbeiten. Aber diese Art Arbeit ist nur sporadisch möglich, das
heißt, wenn Bosnier zurückkehren und ihre Häuser aufbauen lassen. Da kann man
am Tag um die 20 DM verdienen. Mit diesen Ersparnissen konnte Hajrudin einen 20
Jahre alten VW Golf kaufen. Jetzt will er damit Taxi fahren. Doch seine Pläne
sind ungewiss. Sicher ist nur die Hilfe von Annemarie - 50 DM im Monat.
Hajrudins Mutter Saliha ist psychisch krank. Seitdem ihr Mann von eigenen
Landsleuten erschossen wurde, nachdem er aus einem serbischen Lager ausgebrochen
war, leidet sie an Depressionen und ist nur ungern zu einem Gespräch bereit.
Sie erzählt, dass sie in ihren Heimatort Janie zurückkehren will. Doch das ist
derzeit unmöglich. Eine serbische Familie, die jetzt im Nachbarhaus wohnt, hat
aus ihrem Haus einen Kuhstall gemacht. Saliha hat während des Krieges fast alle
ihre Verwandten verloren. Dank der Hilfe von Annemarie wurde sie als Kriegswitwe
anerkannt und bekommt monatlich 34 DM Sozialhilfe für ihre Kinder.
Wir verlassen Saliha. Annemarie gibt ihr noch etwas Geld. Es wurde von den
Patenfamilien in Österreich gesammelt. Von Menschen, die sich verpflichtet
haben, monatlich etwa 50 DM für Arme in Bosnien zur Verfügung zu stellen.
Annemarie Kury hat einen Termin im Franziskanerkloster Tolisa. Dort erwartet sie
der Pfarrer der Ortschaft Tramoschnica. Vor dem Krieg lebten dort etwa 2000
Menschen. Doch als hier vor acht Jahren der Krieg ausgebrochen war, wurde die zu
100 Prozent kroatische Tramoschnica über Nacht menschenleer. Bis heute sind
etwa 160 Familien zurückgekehrt.
Nachdem die Hilfsgüter, vor allem Winterbekleidung, im Pfarrhof deponiert
wurden, führt uns Pfarrer Valerij zur Familie Boschanovic.
Bolescha Boschanovic hat mit seiner Frau und zwei erwachsenen Kindern den Krieg
in der Nachbarortschaft Spionica verbracht. Als einer der ersten ist er nach
Tramoschnica zurückgekehrt. Sein abgebranntes Haus hat er bereits erneuert.
Doch Hoffnung auf eine Arbeitsstelle gibt es nicht. Die meisten Menschen
arbeiten hier nur auf den eigenen Feldern. Aber auch diese Beschäftigung ist
mühsam. Es fehlt an Samen, Düngemitteln und Maschinen.
"Auch Zuchttiere sind teuer", erzählt Bolescha. "Ein Schwein
kostet etwa 400 DM, eine Kuh 1000 DM, eine Ziege 300 DM. Das ganze Geld, das wir
hier erwirtschaften, geben wir für Lebensmittel aus. Die Stromrechnung können
wir oft gar nicht bezahlen. Am schlimmsten geht es dabei den alten Menschen, die
nicht imstande sind, auf den Feldern selbst zu arbeiten. Sie müssen sich alles
kaufen. Ihnen muss am meisten geholfen werden, vor allem mit
Lebensmitteln."
Doch nicht nur der Mangel an Lebensmitteln ist ein großes Problem in Bosnien.
Auch Kohle und Holz sind Mangelware. Die Wälder in der Umgebung sind vermint.
"Und unsere Regierung unternimmt nichts, damit diese Minen entfernt
werden", beklagt sich Bolescha. "Niemand traut sich in den Wald zu
gehen, um Holz zu holen. Es ist bei uns in Tramoschnica öfters vorgekommen,
dass Menschen beim Baumfällen auf eine Mine getreten sind und ihnen dabei die
Beine abgerissen wurden."
Während der ethnischen Säuberungen wurden in Tramoschnica Serben
angesiedelt. Jetzt müssen sie die von ihnen bewohnten kroatischen Häuser
verlassen. Es kommt oft vor, dass sie beim Auszug alles Brauchbare, sogar Türen
und Fenster, mitnehmen. Das sorgt selbstverständlich für Spannungen. Pfarrer
Valerij Stipic gibt zu, dass es hier unter den zurückgebliebenen Serben viele
Extremisten gibt, doch er will dieses Problem nicht verallgemeinern und nennt
ein Beispiel. "Hier in der Nachbarschaft, in der Ortschaft Kosicni, gibt es
einen serbischen Bauern. Er hat uns schon einige Male geholfen. Er war drei Tage
lang bei uns und hat mit seinem Traktor Schutt von unserem zerstörten Pfarrhaus
weggeführt. So teilen wir auch mit ihm alle Sachen, die wir als humanitäre
Hilfe bekommen. Aber nicht nur er kommt zu uns. Als ich vor einem Monat einen
größeren Transport bekommen habe, habe ich gleich unsere muslimischen und
orthodoxen Brüder eingeladen und auch sie damit beschenkt."
Die Hilfsorganisation Annemarie Kury ist ein Ein-Frau-Betrieb. Da sie ihre
Fahrtkosten und alle damit anfallenden Ausgaben aus ihrer Pension finanziert,
kann sie das ihr anvertraute Geld zur Gänze an die betreuten Familien in
Bosnien weitergeben. Von ihren Geldgebern wird sie nicht zur Rechenschaft
gezogen, sie berichtet lediglich in Gesprächen oder in einem Rundbrief über
die Reaktionen der Beschenkten.
Annemarie Kury ist 70 Jahre jung. "Es gibt keinen Grund", sagt sie,
"meine Patenfamilien in Bosnien im Stich zu lassen. Mir macht es einfach
Freude, den anderen Freude zu berei ten. Ich gebe zu, dass die Vorbereitungen
und Fahrten sehr anstrengend sind, und ich öfters daran gedacht habe, damit
aufzuhören, aber mit den Fahrten ist es so, wie mit meinen Kindern. Nach meinem
ersten Kind habe ich mir gesagt, nie wieder Kinder, und dann sind noch vier dazu
gekommen".
* Die dipl. Sr. Annemarie Kury ist beauftragt, lebenswichtige Dinge ins Krisengebiet zu bringen. | |
Nov. 1991 | |
Das Schreiben wurde in Serbokroatisch, Deutsch und Englisch verfasst. |