Annemarie Kury
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Wien, 4. April 200l

Liebe Freunde, liebe große Familie der Flüchtlingshelfer!

Mein letzter Bosnien-Bericht ist wirklich vom Oktober 2000! Ich hatte mir auch vorgenommen, nur mehr halbjährlich nach Bosnien zu fahren - doch es kam anders.
Im November erfuhr ich, dass in der Zentralwäscherei der Gemeinde Wien gebrauchte reine Spitalswäsche für Bosnien zur Verfügung gestellt wird, und ich wusste, dass in der Klinik Tuzla dies dringend benötigt wird. Da hieß es rasch handeln: einen großen VW-Bus ausborgen, einen lieben Bergkameraden, Franz P., bitten, mit mir zu fahren und die nötigen Grenzpapiere besorgen. Es ergab sich, dass der Journalist Georg M. als Begleiter, Dolmetsch und Beobachter auch mitfuhr. Am 22./23. November 2000 war diese "rasche Fahrt" zur Klinik Tuzla. Leider konnte meine Bitte um einen Arbeitsplatz für unser Patenkind Nermina (frisch diplomierte Krankenschwester, Vollwaise, Vertriebene) vom Krankenhausdirektor nicht erfüllt werden. "Eher könnte ich Ihnen mein letztes Hemd geben als einen Arbeitsplatz." Wir sehen, wie schwierig es ist, Arbeit zu bekommen.
In der Vorweihnachtszeit dachte ich schon an unsere Aufgaben, Hilfen für das Frühjahr. Wir brauchen Baumaterial, Saatgut, Ziegen und das weitere Patenschaftsgeld Dank der treuen Spender und mit Medienhilfe ("Dialog" und Rundfunk) füllten sich im Kassabuch zwölf Seiten mit Einnahmen.
Die nächste Überlegung, die Beschaffung und Verteilung von Saatgut und Ziegen: Ende Jänner erhielt ich Rückmeldungen aus Bosnien, wo ich Ziegen bekommen könnte und wo sie am dringendsten gebraucht werden. Binnenvertriebene, die jetzt in ihre zerstörten Häuser zurückkehren, stehen im wahrsten Sinn des Wortes vor dem Nichts. Außer dem Materiellen fehlen oft die im Krieg getöteten Männer (Väter, Söhne, Brüder). Laut Friedensvertrag von Dayton (Ende 1995) soll/kann jeder in seine Heimat, in sein Haus, in seine Wohnung, zurückkehren. Doch es fehlen viele Häuser.
Am 1. Februar fuhr Eva Ch. mit ihrem, mit Schuhen, Kleidung, Hausrat und Medikamenten vollgepackten, und ich mit meinem vollgepackten Auto wieder nach Bosnien. In Kozluk bei Zvornik konnten wir unsere Sachen an Rückkehrer verteilen, Ziegen kaufen und sie ebenfalls verteilen. Da hätten wir gern alle Spender dabei gehabt! 20 Ziegen, 27 kleine Geißlein und einen stinkenden Ziegenbock, den eigentlich niemand haben wollte, da er zur Zeit, saisonbedingt, arbeitslos ist, wechselten den Besitzer. Abschiedstränen bei den Frauen, die ihre Ziegen verkaufen mussten, da sie zurück in ihre Stadtwohnungen ziehen; Freudentränen bei den Beschenkten. Wir übergaben mit den Ziegen auch die volle Verantwortung für die Tiere, und die Zurückgekehrten versprachen uns, ganz besonders achtsam zu sein. Bosnisches Fernsehen und Zeitungen berichteten ausführlich von dieser Aktion. - Schon mit der Sorge, ob bald genug Futter für die Ziegen vorhanden sein würde, fuhren wir nach zwei Tagen wieder nach Wien zurück.
Nach knapp drei Wochen die Nachricht: Futternot bei den Ziegen! So fahre ich am 22. Februar wieder nach Bosnien, um Heu und Mais zu kaufen. Ich konnte "unsere" Ziegen und Geißlein besuchen - sie waren wohlauf, aber benötigten Futter. Am Morgen des 24. Februar sah ich in Kozluk aus dem Fenster: 8 cm Neuschnee. Das Futter war also ganz notwendig. Noch einmal konnte ich Ziegen kaufen, diesmal für das Dorf Tramosnica in der Posavina (unter der Save). Ein alter Kombi fuhr ganz vorsichtig mit den Ziegen und Geißlein, mit abgefahrenen Sommerreifen vor mir, auf der schneeglatten Fahrbahn von Kozluk nach Tramosnica. 17 Ziegen und 7 Geißlein konnte ich in Tramosnica verteilen. Tags darauf, am Sonntag, dem 25. Februar, waren es schon 9 Geißlein ... Das war ein freudiges Meckern in den selbstgebastelten, einfachen Ruinen-Ziegenställen. Neues, hoffnungsvolles Leben in den Armen der Frauen, die ihre Liebsten (Männer und Söhne) verloren haben, bedeutet Lebenshilfe. Oft ist dies mehr, als Geld oder Mehl in ihren Händen. Die Kinder tollten mit den Geißlein und lachten und jauchzten vor Freude. In vier Tagen war ich wieder zurück in Wien.
Am 20. März begann meine planmäßig halbjährlich stattfindende Fahrt zu den Patenkindern. Wir sind zwei Autos: eins ist mein Golf mit den Paketen und Geld für die Patenkinder, mit Geld für Saatgut, für Ziegen und Hausaufbau und, vor allem, mit Werner B. als wichtigem Begleiter und Beschützer. Das zweite Auto von und mit dem Journalisten Georg M. und seinem jungen polnischen Kameramann Przemek P. Sie möchten die Situation in Bosnien für den ORF filmen.
I. Station: Benediktinerinnenabtei St. Gabriel bei Pertlstein in der Steiermark. Wir bekommen dort zum sechsten Mal eine Osterkerze für Bosnien. Mutter Basilia hat das Kreuz als blühenden Baum auf die Kerze gemalt. Woher bekommt der Baum jedes Jahr wieder die Kraft zu erblühen? - neues blühendes Leben kommt - der blühende Baum verheißt Ernte. Wir fahren weiter über Slovenien, Kroatien bis Novska; von dort mit der Fähre über die Save nach Bosnien.
II. Station: Sanski Most. Patenkind, Großmutter, Mutter und Tochter weiter ohne Einkommen, ohne Arbeit, ohne Männer, ohne Heimat, ohne Krankenversicherung, ohne Zähne.
III. Station: Donje Vakuf in Zentralbosnien. Nächtigung bei Patenfamilie: Vater, Mutter, zwei Kinder - ohne Arbeit, ohne Einkommen ...; sie sehen keine Zukunft in Bosnien und möchten auswandern.
IV. Station: Zenica. Resada lebt als noch nicht anerkannte Kriegswitwe mit ihrer sehr kranken Mutter, ihren vier Kindern, ihrer Schwägerin und deren Kind in einem fremden, kleinen Häuschen: ohne Arbeit, ohne Einkommen ...
V. Station: Wir fahren mit Resada in ihren Heimatort Kotor Varos, um den Aufbau ihres Hauses zu besprechen. Als wir hinkommen, werden von ihrem zweiten Haus ( = ein kleines Kaffeehaus) gerade die Ziegel vom Dach genommen. Eine spannungsgeladene Diskussion endet doch mit der Vereinbarung, dass der Ziegelnehmer die Ziegel wieder auf das Dach gibt und wir die Arbeit bezahlen.
VI. Station: Gastfreundschaft für drei Nächte in einem Dorf bei Tuzla. Unsere Gastgeber, Vehid und Fadila, waren acht Jahre Gäste (Flüchtlinge) in Wien-Gersthof (Am Morgen stehen unsere Schuhe geputzt bei der Haustür.)
VII. Station: Patenschaftsbesuche bei der Pflegemutter Mevluda und den behinderten Patenkindern. Die schwerstbehinderte Advia will meine Hände nicht loslassen. - Besuche bei Saliha, Rukija, Delfa, Jaga und Faruk: sie bekommen ihre Pakete und Geld. Alle sind ohne Arbeit, Einkommen ...
VIII. Station: Die schwerst spastische Mirsada und ihre blinde Mutter versuchen wir ein bisschen zu trösten und hinterlegen das Geld für einen ganz bescheidenen Unterhalt.
Mirsarda läßt die alte blinde Mutter für uns beten; ich frage sie, warum sie nicht selbst betet: sie kann doch nicht, da behindert. Für Muslime gehören körperliche Bewegungen zum Gebet dazu; ich sage ihr, dass jeder mit Gott reden kann. "Hat das dein oder unser Prophet gesagt?" - "Ich konnte mit keinen der Propheten direkt reden, aber ich weiß, dass jeder zu Gott reden darf." Die Mutter: "Wenn Annemarie das sagt, muss es stimmen, denn die wurde uns von Gott geschickt!" Seither betet Mirsarda für uns und ist glücklich, etwas für andere tun zu können ...
IX. Station: In Kozluk bei Zvomik sind sesshafte Roma in ihre Ruinen zurückgekehrt. Auch sie brauchen und bekommen Geld für Lebensmittel, Medikamente, Ziegenfutter und Saatkartoffel.
X. Station: Memici-Kalesija ("österreichisches Transitlager"). Zirka 100 Flüchtlinge leben dort im hintransportierten Baucontainer des Donaukraftwerkes Freudenau. Sie sind aus Österreich zurückgekehrt und warten das dritte Jahr auf die Möglichkeit, in ihren Heimatort zu kommen. Sie sind ohne Arbeit, ohne Einkommen ...
XI. Station: Jasmina bringe ich ein Foto ihrer kompletten Familie, das ich 1995 in Tuzla aufgenommen habe. Ihr Mann ist vor drei Jahren, noch nicht vierzigjährig, an Nierenversagen gestorben. Das Geld für eine Transplantation konnte nicht aufgebracht werden. Mit dem Mietzuschuss können wir ihr und ihrer achtjährigen Tochter ein wenig helfen.
XII. Station: Besuch bei der neunköpfigen Familie Mesic. Die Familie hat mit der von uns gekauften Kuh den Winter überlebt - ohne Arbeit, ohne Einkommen ...
XIII. Station: Die 20-jährige Nermina hat in den letzten zehn Jahren ihre Mutter, ihre Großmutter, ihre Tante, ihren Onkel, ihren Vater, ihre Heimat verloren. Sie hat gerade das Diplom als Krankenschwester gemacht. Wir suchen Arbeit für sie in Tuzla.
XIV. Station: Tramosnica - ein Dorf, das vor zwei Jahren noch ein Geisterdorf war: ein stark verminter Trümmerhaufen. Freude über Geld für Saatgut, Ziegenverteilung ... Zum ersten Mal sah ich dort einen Bauern aus der großen Schürze, mit weit ausholendem Arm, Samen auf sein entmintes, vorbereitetes Feld säen. - In der Ruinenkirche von Tramosnica Messe unter freiem Himmel, mit Übergabe der Osterkerze als Zeichen des Auferstehens für Tramosnica. Zirka 200 Menschen sind in ihr Dorf zurückgekehrt, haben entmint, bauen auf und freuen sich über das Aufblühen (zur Zeit Kirschblüte), über das Lachen der wenigen Kinder und über das Meckern der Ziegen.
Es gäbe noch viele "Stationen" zu besuchen, die wir nicht erreichen ...
Nach sechs Tagen wieder müde in Wien. lm September, nach meinem Auftanken auf der Frauenalm, melde ich mich wieder. Im Herbst 1991, bei meiner ersten Fahrt mit humanitärer Hilfe, schrieb ich: "Es sind nur Tropfen; aber viele Tropfen ergeben das Meer." 135 Fahrten waren seither nur möglich, weil viele Menschen so großartig und großherzig mitgeholfen haben und weiter mithelfen. Allen - allen: Dank, Dank, Dank und ein frohes Osterfest!

Mit ganz lieben Grüßen Eure

annemariekury@hotmail.com