Wien, 31. Dezember 1997
Ich bin Annemarie und bin sehr, sehr reich. Reich nicht im üblichen Sinn. Ich habe eine imaginäre Schatztruhe, die ich mitgebracht habe. Ich soll euch erzählen, wie ich zu meinem Reichtum gekommen bin. (Es dauert sicher nicht so lange wie die Registrierung bei der Quartierverteilung).
Die Schatztruhe ist voll mit Goldstücken, Prätiosen, diese sind alt, schwer, haben Gewicht und liegen am Grund. Immer noch gewinnen sie an Wert. Es ist mein Leben, meine Lebensgeschichte. Die oberste Schichte, meine "Jetzt-Zeit", sind die erfüllten letzten sechs Jahre. Sie sind erfüllt mit der mir zugefallenen Aufgabe, humanitäre Hilfe nach Kroatien und vor allem nach Bosnien zu bringen.
1991 hat der Krieg in Kroatien, 1992 in Bosnien begonnen. Das häufigste Gesprächsthema war, "wer was tun sollte". Es wurde viel Gutes getan. Ich selbst hatte die Möglichkeit, mit humanitärer Hilfe in Krisengebiete (oft zwischen den Fronten) zu fahren. Ich erlebte immer mehr Menschen in bitterster Not, immer mehr Menschen, die halfen. Doch bald merkte ich, dass wir alle nicht vom Brot allein leben können. So erweiterte sich das Projekt "Humanitäre Hilfe für Bosnien" mit neuen Aufgaben: Die grenzenlose Hoffnung zu leben, vorzuleben, zu verschenken an die, die in einer begrenzten Hoffnung oder gar in Hoffnungslosigkeit leben. Die Aufgabe, Menschen, nahezu zerstörte Menschen, in diesem zerstörten Land Bosnien zu suchen, aufzuspüren, um ihnen Hoffnung zu geben und Mut zu machen - ganz gleich, welcher Volksgruppe, welcher Religion sie angehören. Es sind nur ein paar winzige Tropfen für dieses unendliche Leid, und von diesen 112 Fahrten kam ich jedesmal reich beschenkt von menschlichen Begegnungen zurück.
Warum ich dies mache, ist sehr leicht zu beantworten: Weil es mein Weg ist. Mein Weg, der vor fast 66 Jahren begonnen hat. Damals wurde ich in eine wirklich reiche mitteleuropäische, deutschsprachige, katholische Familie hineingeboren.
Vor 60 Jahren, am 13. Dezember, starb neben mir mein eineinhalb Jahre älterer Bruder. Ich liebte ihn sehr. So war mein einziger Weihnachtswunsch, dass das Christkind mir meinem Bruder zurückbringen solle. Der Wunsch ging nicht in Erfüllung. Ich war so zornig an diesem Heiligen Abend, wie es nur enttäuschte Fünfjährige sein können.
Als ich 13 Jahre alt war, ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Für uns deutschsprachige Minderheit in Böhmen begann eine schwere Zeit. Ein Jahr lang waren wir im Schlossturm unter Hausarrest. Nur zwei Stunden am Tag durften wir, gekennzeichnet, den Turm verlassen. Es war gefährlich für mich, betteln zu gehen.
1946 kam die Vertreibung aus der Heimat, und es kam der Hass auf die, die uns vertrieben haben. Nach schwierigen Anfangsjahren in Österreich, wo nur die Liebe und Zuwendung liebender Menschen meine Vertreibungswunden heilen konnten, kamen glückliche Jahre mit Mann und fünf Kindern. Vor 20 Jahren verunglückte mein Mann tödlich in den Bergen des Himalaya. Da war kein Zorn, kein Hass, da waren Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Heimatlosigkeit, Verzweiflung.
Vor zehn Jahren starb mein jüngerer Bruder in meinen Armen. Ich musste mich wieder mit den Plänen Gottes auseinandersetzen, besser gesagt: zusammensetzen, und begann langsam zu begreifen, was Leid bedeuten und bewirken kann. Jetzt weiß ich, warum ich dies alles erleben musste: Damit ich die Zornigen, die Hasserfüllten, die Vertriebenen, die Hoffnungslosen besser verstehen kann. Jetzt höre ich gelassen auf die Regieanweisungen dieses großen, lebendigen, liebenden Gottes für meinen Weg.
Ich möchte euch jetzt einladen, in Stille etwas aus meiner imaginären Schatztruhe herauszunehmen, mitzunehmen oder auch etwas hineinzulegen - sie ist offen ...