80 Prozent der Flüchtlinge sind männlich und unter 30 Jahre alt. Sie nehmen große Gefahren auf sich, um im
»Wunderland Europa« ihren Status zu verbessern. Das birgt Chancen, doch der Testosteronüberschuss könnte auch
Probleme bereiten.
03.10.2015 | 17:27 | von Karin Kneissl (Die Presse)
Die Statistik der Asylanträge bestätigt die Beobachtung: 80 Prozent der nach Europa strömenden Flüchtlinge sind
allein reisende junge Männer zwischen 17 und 30 Jahren. Warum kommen so viele Männer, und welche Folgen könnte
dies haben, lautet eine der meistgestellten Fragen. Und sie ist berechtigt.
Junge Männer sind risikobereiter, sie blenden mögliche Gefahren aus, vor allem aber sind sie auf der Suche nach
Status. Also sind auch bereit, durch die Wüste zu marschieren, einen Neuanfang zu wagen. Ganz ähnlich verhielt es
sich mit jenen Europäern, die einst etwa Richtung Amerika strebten. Es entstand ein Männerüberschuss, der nach
1848, als die jungen Männer ohne Zukunft in Europa den Aufstand probten, nochmals anstieg. Denn wer unter den
Revolutionären nicht hingerichtet wurde, emigrierte. Die Geschichte des Wilden Westens mit seiner Gewalt ist auch
eine Geschichte des lang andauernden Männerüberschusses.
Status und die Illusion vom Wohlstand
Auf der Suche nach einer "neuen Welt" sind seit Jahren Millionen auf Wanderung. "Der Druck ist hoch in einer Reihe von Herkunftsländern", heißt es in dem jüngsten Ausblick der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. So geben in Nigeria 44 Prozent der über 15-Jährigen an, dauerhaft auswandern zu wollen. In Albanien sind es 39, im Senegal 37 und in Syrien 31 Prozent. Bei
fast allen dieser Länder wird mindestens ein EU-Land unter den ersten drei bevorzugten Zielen genannt.
Die Menschen träumen von Aufstieg und Wohlstand. Das Flüchtlingshochkommissariat UNHCR startete schon vor 15
Jahren Videokampagnen, um eindringlich zu warnen, dass für viele Afrikaner die Auswanderung mehr im Elend als in
der Erfolgsstory endet. Doch offensichtlich holt uns in turbulenten Zeiten eine andere Konstante ein, nämlich jene
von der sozialen Ungleichheit. Die viel zitierte Kluft zwischen Nord und Süd, an deren Vergrößerung auch eine
völlig fehlgeleitete Entwicklungszusammenarbeit ihren Anteil hat, steht als eine der wesentlichen Bedrohungen für
den Weltfrieden beinahe jährlich auf der Agenda des Davoser Weltwirtschaftsforums. Wir kennen die Bruchlinien am
Mittelmeer, im Osten Europas und auch zwischen dem Zentrum und der Peripherie vieler Großstädte. Es liegen Welten
zwischen den Flaniermeilen der Zentren und den No-go-Areas der Vorstädte, die oftmals aber eine U-Bahn verbindet.
Nun ziehen junge Männer voller Tatendrang und erfüllt von der Sehnsucht, so richtig erfolgreich zu werden, ob als
Pizzakoch, Fußballer oder auch Bandenchef, nordwärts. Die Einladung der deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel,
Mitte September, dass in Sachen deutscher Aufnahmekapazität "noch Luft nach oben ist", sprach sich via WhatsApp
bis in die Slums von Karachi durch. Auch hier machten sich junge Pakistani alsbald mit dem Bus auf den Weg nach
Westen.
Siegertypen?
Ob nun diese Menschen vor dem Krieg fliehen oder schlicht vor der Ausweglosigkeit, viele eint der
Traum von Status, den sie daheim nie erreichen werden. Mangels Arbeit kein Wohnraum, und damit kaum Aussicht auf
Hochzeit. In den meisten traditionellen Gesellschaften kommt der Mann aber nur über Heirat zur Frau und kann
Sexualität ausleben – oder durch Vergewaltigung, wie die vielen bekannten und noch mehr die unbekannten Dramen
berichten.
Ein inneres Zusammenwirken zwischen Testosteron und Status haben Mediziner in zahlreichen Studien immer wieder
bestätigt. Unabhängig von der Sicht auf das Testosteron – ob negativ als das "Hormon für Aggression und Dominanz"
oder eher positiv als das "Hormon der Fürsorge und Verantwortung" – es geht stets um Status. Und es sind nicht
zuletzt wiederum die Frauen, die Männer mit bestimmtem Status beziehungsweise potenziell erfolgreichem Lebensweg
auswählen, um ihre Nachkommenschaft versorgt zu wissen.
Diese uralten, von der Evolution vorgegebenen Rollenbilder halten sich auch in der Globalisierung. Die Familie mit
der breiten Skala akzeptierter Formen gewinnt teils neu an Gewicht, denn in schwierigen Umbruchzeiten bietet
Verwandtschaft soziale Auffangnetze, die der Staat nicht garantieren kann. In einer Welt, in der Millionen in
Flucht und Migration überleben müssen, helfen Familienbande, denen oft der Untergang prophezeit worden war. So
ziehen teils die Jungen voran, um dann die Sippe nachzuholen.
Haus? Auto? Kein Problem!
Im Frühjahr kümmerte ich mich um drei Syrer Mitte 30 und einen zehnjährigen Buben, die
alle bereits im Februar über die Balkanroute nach Österreich gekommen waren. Von Österreich wussten sie zwar bei
ihrer Ankunft gar nichts, doch waren sie überzeugt, demnächst Haus und Auto erwerben zu können. Sie baten mich,
Ausschau zu halten, welches Haus sie beziehen könnten. Dann wollten sie jedenfalls die restliche Familie
nachholen.
Wir führten Streitgespräche auf Arabisch, denn im syrischen Schulsystem werden meist keine Fremdsprachen gelehrt.
Allerdings versuchte ich vergebens, sie auf den Boden der Realität zu holen. Auf meine Frage, warum sie nicht zu
ihren Geschwistern nach Kuwait gezogen waren, wo Familienanschluss und Sprache wie auch der dortige Boom ihnen
mehr Chancen bieten würden, bestanden sie dennoch auf Österreich, zumal sie die staatliche Wohlfahrt und
Hilfsbereitschaft hier schätzen gelernt hatten.
Säkulare Moslems in der Minderheit
Ich bezog Distanz, zumal auch der Vater des Buben darauf bestand, dass der Sohn nur mit Muslimen spielen solle. Von den Kindern, die ich nach Hause einlud, kannte ich die Religion nicht, da
mich diese auch nicht interessiert. Dies wiederum verstanden die Neuankömmlinge nicht, die sich fundamental von
jenen Syrern unterscheiden, die ich noch während meiner Studientage in Damaskus 1988 kennengelernt habe. Die
Säkularen sind heute die Minderheit, die Religion ist Dreh- und Angelpunkt allen Denkens und Handelns.
Als ich zum ersten Mal in Syrien lebte, zählte das Land rund neun Millionen Menschen. Heute sind es über 22
Millionen, deren Lebensumstände neben der politischen Repression im autoritären Polizeistaat zu den Aufständen im
März 2011 führten. Aufsehen erregte 2002 der Bericht über die menschliche Entwicklung, den die UN-Organisation
UNDP erstmals den arabischen Staaten widmete. Demografen warnten darin unter anderem vor einem Aufstand der
arbeitslosen Jugend, denn seit 1985 hatte sich in den arabischen Staaten die Bevölkerung verdoppelt, mit dem
Ergebnis, dass das Durchschnittsalter in Jordanien rund 18, in den meisten anderen sich zwischen 20 und 25 Jahren
bewegt. Saudiarabien verfügt gegenwärtig über die weltweit höchste Geburtenrate und ist mit massiver
Jugendarbeitslosigkeit konfrontiert.
Der Ölreichtum schiebt einen Deckel über den Zorn einer frustrierten Jugend, die dem IS-Gedankengut auch dank des
saudischen Unterrichtswesens sehr zuspricht. Die Geburtenkurve neigt sich in den Staaten von Nordafrika bis Nahost
allmählich nach unten. Doch die Herausforderung lautet: Arbeit für all die jungen Menschen zu schaffen. Die
Weltbank nennt 100 Millionen neue Arbeitsplätze als wesentliche Herausforderung der nächsten 15 bis 20 Jahre.
Allein in Ägypten müssen pro Jahr 500.000 Jobs geschaffen werden, um Junge mit Ausbildung zu versorgen. Staatschef
Abdel Fatah al-Sisi, von westlichen Moralisten gern gescholten, macht eines richtig: Er lässt eine Großbaustelle
nach der nächsten errichten, um Burschen körperliche Arbeit zu geben. Mit dem Lohn können sie sich vielleicht eine
Ehe leisten.
Dass es für hunderttausende Männer unmöglich ist, zu heiraten oder aufgrund der rigiden Gesellschaftsmoral eine
Freundin zu haben, ihre Sexualität zu leben, ist ein Dilemma. Es wäre verwegen und unredlich, viel von dem, was
als Krieg, Aufstand und auch Emigration passiert, auf eine hormonelle Explosion zu reduzieren, denn letztlich sind
die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen entscheidend. Doch genauso muss diese zutiefst menschliche Dimension
ihre Berechtigung in der Analyse haben. Viele Zeitgenossen vermeinen gar, in der Masseneinwanderung die neuen
Fachkräfte für Seniorenpflege zu erkennen. Von der Natur des Menschen scheinen diese wenig zu verstehen.
Die Gewaltbereitschaft junger Männer
Doch frei nach Kohelet: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Über die Revolutionen hinausgehend, lässt sich schon in viel früheren Zeiten die Gewaltbereitschaft junger Männer aus einer
gewissen Langeweile und historischen Umständen heraus studieren. Man denke an die Kreuzzüge: Die Kirche sah, dass
es nützlicher wäre, von Testosteron strotzende junge Männer, die sich in Europa in Bandenkriegen die Köpfe
einschlugen, mit ihrer Kampfbereitschaft im Namen des Kreuzes gegen die "Ungläubigen" umzulenken.
Die Geschichte geht also weiter. Und der Nahe Osten ist uns verdammt nah, denn man kann zu Fuß hinpilgern, wie
dies besonders Fromme stets taten, und man kann auch zu Fuß von dort fliehen, wenn Krieg und religiöse Fanatiker
das Leben vernichten. Zornige junge Männer haben sowohl in der Masse als auch als Individuen immer Geschichte
gemacht.
Zur Autorin
Karin Kneissl (*1965 in Wien) studierte Jus und Arabistik in Wien. Sie war 1991/1992 Studentin an der ENA in Straßburg, 1990 bis 1998 im österreichischen diplomatischen Dienst,
danach Lehrtätigkeit.
Zahlreiche Publikationen, darunter: "Die Gewaltspirale. Warum Orient und Okzident nicht miteinander können (2007,
Ecowin); "Mein Naher Osten" (2014, Braumüller); "Testosteron Macht Politik" (2012, Braumüller).
Quelle: Die
Presse 3.10.2015