Israels Politik nährt den Krebs des Antisemitismus
"Es ist eine Lüge, dass die Ablehnung des Zionismus, wie er heute praktiziert wird, ein Erbe von Hitlers Rassismus ist. Paul Oestreicher, Guardian, 20. Februar 2006" Paul Oestreicher, anglikanischer Priester und Quaker,
(In England ist eine scharfe Kontroverse entfacht über die Entscheidung der Synode der Anglikanischen Kirche, Rücklagen aus Firmen zurück zu ziehen, die aktiv bei der Durchführung der Politik Israels in Gaza und der Westbank beteiligt sind. Paul Oestreicher, anglikanischer Priester und Quaker, der sich viele Jahre in Coventry für Aussöhnung zwischen den kriegsführenden Ländern im zweiten Weltkrieg eingesetzt hat, hat dazu im Guardian einen Aufsatz geschrieben.)
Der Hauptrabbiner, Sir Jonathan Sacks, hat recht. Seine Reaktion auf den Aufruf der anglikanischen Synode nach Sanktionen gegen Israel ist verständlich. Der Judenhass - heute Antisemitismus genannt - ist ein Virus, der das Christentum zweitausend Jahre lang infiziert hat. Er verbreitet sich trotz des virulenten Ausbruchs im Nazideutschland weiter durch die Welt. Er darf nicht unbehandelt bleiben. Zu viele Menschen haben die Lektion des Holocaust noch nicht gelernt. Er sollte anständige Christen noch Generationen hindurch heimsuchen. ....
....Ich sage das als Kind eines jüdischen Deutschen, der rechtzeitig entkommen ist. Seine Mutter nicht. Ich sage es als halbjüdisches Kind, dass auf einem britischen Spielplatz im zweiten Weltkrieg herum gehetzt und gehänselt wurde, "er ist nicht nur deutsch, sondern auch Jude". Eine doppelte Beleidigung. Ich sage es aber auch als christlicher Priester, der die historische Schuld aller Kirchen teilt. Alle Christen teilen dieses blutige Erbe.
Wenn ich das alles in mir fühle und im Kopf weiß, kann ich nicht daneben stehen und als unbeteiligter Beobachter den Israel-Palästinakonflikt anschauen - eines der gefährlichsten Ausbrüche kollektiven Hasses. Ich kann nicht ruhig zuhören, während ein iranischer Präsident von der Eliminierung Israels spricht. Jüdische Angst sitzt tief. Sie ist nicht irrational. Ich kann aber auch nicht ruhig zuhören, wenn viele israelische BürgerInnen von PalästinenserInnen so denken und sprechen, wie sehr viele Deutsche über Juden dachten und sprachen, als ich einer von ihnen war und fliehen musste.
Wenn der Christ in mir guten Grund zur Scham hat, so nun auch der Jude in mir. Ich glaube leidenschaftlich, dass Israel das Recht hat und sein Volk das Recht hat, in Frieden und sicheren Grenzen zu leben. Ich weiß aber auch, dass das moderne Israel im Terror geboren und seine gegenwärtige zionistische Form durch Töten und Maßnahmen ethnischer Säuberung ermöglicht wurde. Das ist Geschichte. Erzählt mir von einem Land mit unschuldiger Geschichte! Aber beim Zionismus im Kern israelischer Politik geht es um die Gegenwart und die Zukunft. Ich mache mir Sorgen um die Seele Israels heute und das Überleben seiner Kinder morgen.
Das Israel, das Golda Meir durch die Worte charakterisiert hat: "so etwas wie Palästinenser gibt es nicht ...sie existierten nicht" ist ein Israel, das unvermeidlich von Feinden umgeben ist und heute nur militärisch und wirtschaftlich als Klientelstaat der einzigen Supermacht überlebt. Auch sein Kernwaffenmonopol im Nahen Osten wird nicht ewig andauern. Frieden kann nicht durch eine auf palästinensischem Land erbaute Mauer hergestellt werden, die das Leben der elend Besiegten noch elender macht. Ein palästinensisches Bantustan wird eine ewige Quelle für Unruhe und Gewalt bleiben.
Ich sage das alles aus Verzweiflung um das Israel, das ich liebe. Sein Volk ist mein Volk. Die PalästinenserInnen sind meine NachbarInnen. Ich wünschte, sie hätten stärkere und bessere Führer. Ich wünschte ihre verzweifelte Jugend wäre nicht in die Gewalt getrieben worden. Genauso wie ich jüdische Ängste verstehe, verstehe ich ihre Ängste. Nur ein Israel, das das auch versteht, kann es verändern. Und es gibt Juden und Jüdinnen in Israel und in der Diaspora, die es wissen. Aus Angst für illoyal gehalten zu werden, fürchten die meisten auszusprechen, was sie als wahr erkennen.
Der Staat Israel ist eine grausame Besatzungsmacht geworden.
Besatzungen, denen Widerstand geleistet wird, sind nie wohltätig. Sie korrumpieren den Besetzer moralisch. Die mutige Gruppe israelischer Militärdienstverweigerer sind die wahren Erben der Propheten Israels. Sie sind die wahren Patrioten. Welches Land hat seine Propheten je geliebt?
Aber der Hauptgrund meines heutigen Schreibens ist, die der Lüge zu bezichtigen, die behaupten, dass die Ablehnung des Zionismus, wie er heute praktiziert wird, tatsächlich Antisemitismus sei und ein Erbe von Hitlers Rassismus. Dieses Argument, mit dem Holocaust im Hintergrund, ist nichts anderes als moralische Erpressung. Sie ist sehr effektiv. Sie verurteilt viele zum Schweigen, die Angst haben, als antisemitisch zu gelten. Sie sind oft das Gegenteil. Sie sind oft Menschen, deren Herz beim Verrat Israels an seinem wahren Erbe blutet.
Ich fing an zuerkennen, dass der Krebs des Antisemitismus nicht geheilt ist. Tragischerweise wird er von Israels Politik genährt. Und wenn dass Weltjudentum israelische Politik - ob recht oder unrecht - verteidigt, dann wendet sich Zorn nicht nur gegen Israel, sondern gegen alle Juden. Ich wünschte, es wäre reine Rhetorik zu behaupten, dass israelische Politik von heute übermorgen einen Holocaust glaubhaft mache. Wenn die ganze islamische Welt Israel hasst, dann ist das keine müßige Spekulation. Sich auf arabische Uneinigkeit, moslemische sektiererische Konflikte und einen dauerhaften amerikanischen Schutzschild zu verlassen, ist kein Rezept für nachhaltige Sicherheit.
Es gibt Israelis, die dass alles wissen, und Juden in der ganzen Welt, die es wissen. In Großbritannien arbeiten die Jews for Justice for Palestinians dafür, dem Judentum ein menschliches Gesicht zu geben. Sagt man ihnen, sie seien Antisemiten, werden sie bitter lachen, denn die Anschuldigung ist tief verletzend und eine Lüge. Propheten wie Uri Avnery drücken das alles eloquent aus, werden aber nur von wenigen gehört. Die Medien haben vor einer Lobby Angst, die bereit ist, ihnen ernsten Schaden zuzufügen.
Sicherlich, es gibt viele, die ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk aussprechen. Manche sind Christen - sie verdienen Respekt. Wenn sie, weise oder nicht, nach Sanktionen rufen, macht sie das nicht zu Judenhassern - weder in der Theorie noch in der Praxis. Meine Sorge ist es aber, Solidarität mit dem Israel auszusprechen, das weder von seinen Führern noch von der öffentlichen Meinung repräsentiert wird. Einst, in den Tagen Hitlers, gab es auch ein anderes Deutschland, das durch die repräsentiert wurde, die neben Juden und Zigeunern in den Konzentrationslagern waren und die heute als Märtyrer gefeiert werden. Es gibt auch ein solches Israel. Seine Stimmen haben noch die Freiheit, zu sprechen, auch wenn sie oft verleumdet und missverstanden werden.
Jenem Israel gilt meine Solidarität, wie allen Juden meine Liebe und meine Gebete gelten.
paul_oestreiche at yahoo.co.uk
(dt. und etwas gekürzt: A. Schneider / E. Rohlfs)
Original: http://www.guardian.co.uk/comment/story/0,,1713544,00.html
Paul Oestreicher, Sohn eines jüdischen Kinderarztes, floh 1938 mit seiner Familie aus Deutschland nach Neuseeland. Nach dem 2. Weltkrieg arbeitete erals Journalist für den britischen Sender BBC, wurde Pastor und leitete von 1947 bis 1979 die englische Sektion von Amnesty International. Ab 1986 warer der Direktor des internationalen Versöhnungszentrums in der von 1940 vondeutschen Bombern zerstörte Stadt Coventry. Als "Aussenminister" der Church of England war Paul Oestreicher lange Jahre aktiv im Dialog mit den Regimen des russischen Einflussbereichs um Versöhnung und aktive Friedenspolitik bemüht. Im Auftrag von Bischof Desmond Tutu suchte er als "Botschafter der Versöhnung" eine Einigung der in gewaltsame Konflikte verstrickten Bewegungen des ANC und der Inkhata in Südafrikas Provinz KwaZulu-Natal. Für seine Verdienste um die Versöhnung zwischen Deutschland und Großbritannien wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und erhielt 2004 den Sächsischen Verdienstorden.
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Pfarrer Andreas Maurer, Nahostreferent
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