Rede anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel für die Hutterischen Märtyrer
Schloss Rattenberg, 13.10.2015
aus dem Gedächtnis Niedergeschrieben von Christoph Haidacher am 17.11.2015

  

Man kann Geschichte nicht ungeschehen machen und man sollte sie sich auch nicht zurechtschreiben. Jedoch muss man sich das Vergangene bewusst machen, sich mit dem Geschehenen auseinandersetzen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Das Schicksal der Hutterer hier in Rattenberg fordert als Beispiel für das Spannungsfeld zwischen Verfolgung und Toleranz eindringlich dazu auf.

Das Mittelalter und die frühe Neuzeit waren keine Epochen der Toleranz, auch wenn die Geschichtswissenschaft auf manche Ausnahme verweisen kann. Die herrschenden Eliten fühlten sich zur Bewahrung der vermeintlich gottgewollten Ordnung berufen, ein Platz für andere Lebensentwürfe war nicht denkbar. Während partiell Angehörigen anderer Religionen Freiräume – allerdings immer wieder unterbrochen von Ausgrenzung und Verfolgung – zugestanden wurden, gab es für „Abtrünnige“ der eigenen Religion kein Pardon (auch heute passiert in manchen Teilen der Welt Ähnliches). Lediglich die Härte der Verfolgung variierte: Manchmal war Widerruf möglich, oft blieb nur die Wahl zwischen Ausweisung, Flucht oder Tod.

Die Grafschaft Tirol bildete im 16. Jahrhundert ein Zentrum der Täuferbewegung, insbesondere das Pustertal und das Unterinntal. Im Unterschied zu anderen Regionen begegnen in Tirol Täufer vor allem am Land, meist sind es Angehörige der unteren Schichten. Die damals herrschende Unzufriedenheit, die sich bereits im Bauernaufstand unter Führung von Michael Gaismair artikuliert hatte, suchte nach dessen Niederschlagung und der Ausmerzung der Reformation in Tirol ein Ventil und fand dieses in den Ideen der Täufer.

Die Verfolgung der Täufer war hierorts sehr heftig, ja grausam und brutal, womit Tirol in gewisser Hinsicht ein Spezifikum, einen Sonderfall darstellt, denn andere Vorgangsweisen wären möglich gewesen und wurden auch andernorts angewandt. Was bewog die damals in Tirol Herrschenden zu diesem Vorgehen? Man sah durch die Täufer die damals bestehende weltliche Ordnung radikal in Frage gestellt: Die Ablehnung von Eidesleistung, Steuern und Kriegsdienst stellte in den Augen der damaligen Obrigkeit eine ungeheuerliche Anmaßung dar. Die katholische Kirche verurteilte neben den reformatorischen Ansichten vor allem die Erwachsenentaufe, die die Kinder der Gottlosigkeit und damit dem Verderben auslieferte. Auf der anderen Seite fehlte die Unterstützung durch den Adel, der in manchen Regionen sehr machtvoll war, dem Herrscher die Stirn bot und gleichzeitig den Täufern Schutz gewährte – beispielsweise in Mähren. So wie Martin Luther die revoltierenden Bauern verurteilte, so versagten auch die protestantischen Fürsten den Täufern ihre Duldung bzw. Unterstützung. Der Tiroler Landesfürst in der Person Erzherzog Ferdinands I. wiederum fühlte sich in seinem harten und brutalen Vorgehen bestätigt, zumal sich dieses gegen Michael Gaismair und die reformatorischen Bewegungen als äußerst erfolgreich erwiesen hatte.

Den rund 20.000 Tiroler Täufern blieb nur die Möglichkeit der Bekehrung oder des Verlassens der Heimat, sonst drohte der Tod. 6.000 ergriffen die Flucht (der Begriff Auswanderung wäre zu beschönigend), 600 fielen der Verfolgung zum Opfer und wurden hingerichtet, so wie hier in Rattenberg Lienhard Schiemer, ein Prediger aus Vöcklabruck, mit weiteren seiner Glaubensbrüder.

Im Wechselspiel von Duldung und Verfolgung gelangten die Täufer über Mähren, Oberungarn ( = Slowakei), Siebenbürgen, die Walachei und Russland schließlich in die Vereinigten Staaten und nach Kanada, wo ihnen heuten ein Leben nach ihren religiösen Vorstellungen möglich ist.

Wir leben heute im Jahr 2015, die Welt ist eine andere, vielfach eine bessere geworden: Wir können das vor einem halben Jahrtausend Geschehene nicht ungeschehen machen, wir müssen jedoch das Unrecht benennen, wir müssen es bedauern, so wie es die führenden Repräsentanten Tirols auch getan haben, vor allem aber müssen wir daraus unsere Lehren ziehen: Dies heißt zum einen, Einstehen für Toleranz, zum anderen aber auch Wille zur Verteidigung unseres Wertesystems.

Dieses Wertesystem – basierend auf Antike, Christentum und Aufklärung – konnte erst nach viel Kampf, nach vielen Opfern und unter Hinnahme vieler Rückschläge durchgesetzt werden: Es definiert sich durch Freiheit, Vielfalt, Toleranz und Gleichberechtigung. Es ist ein schützenswertes Gut, da erst dieses Wertesystem die obgenannten Errungenschaften gewährleistet kann. Daraus folgt, dass Toleranz nicht mit Relativismus und Beliebigkeit verwechselt werden darf; Toleranz benötigt ein Wertefundament, dessen Teil es selbst ist.

Toleranz ist auch nicht teilbar: Wir stellen immer wieder Tendenzen fest, dort liberal und tolerant zu sein, wo sich dies mit den eigenen Ansichten deckt, sind jedoch bei anderen Meinungen und Lebensentwürfen nicht bereit, dies ohne Wenn und Aber zuzugestehen. Toleranz findet erst ihre Grenze, wenn sich jemand außerhalb unserer Wertevorstellungen begibt und diese in Frage stellt.

Im Angesicht der damaligen zahlreichen unschuldigen Opfer eines falsch verstandenen Verständnisses von Herrschaft und Religion mahnt uns dieses Gedenken eindringlich zur Bewahrung dieser zentralen Werte und zum Leben echter Toleranz.