... meine wahre Religion
Tenzin Gyatso, der 14 Dalai Lama
Die Kluft zwischen Arm und Reich
Zu den schlimmen Problehmen, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind, gehören die Kluft zwischen Arm und Reich. In den USA zum Beispiel haben frühere Generationen den Ideen von Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Chancengleichheit für jeden Bürger Geltung verschafft. All dies wird durch eine wundervolle Verfassung verbürgt. Doch nimmt in diesem Land die Zahl der Milliardäre zu. Zugleich bleiben die Armen weiter arm, ja in manchen Fällen werden sie immer ärmer. Das ist höchst
bedauerlich.
Unter anderem hat mir einer meiner älteren Brüder, der inzwischen nicht mehr lebt, von diversen Erfahrungen bei seinem Aufenthalt in den USA berichtet. Er führte ein bescheidenes Leben und erzählte mir von den Sorgen und Schwierigkeiten, den Morden, Diebstählen und Vergewaltigungen, unter denen die Menschen dort zu leiden haben. Meiner Meinung nach sind diese Dinge eine Folgeerscheinung der ökonomischen Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. Natürlich führt es zu Problehmen, wenn wir Tag für Tag ums Überleben kämpfen müssen, während ein anderer Mensch, der so ist wie wir, in Saus und Braus leben kann. Das ist eine ungesunde Situation, und infolgedessen leben auch die Reichen - die Milliardäre und Millionäre - in ständiger Angst. Darum so meine ich, ist diese gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich etwas ganz Verhängnisvolles.
Auch Global gesehen gibt es reiche und arme Nationen: eine ebenso verhängnisvolle, nicht nur aus ethnischer Sicht zu
missbilligende Situation. Selbst unter rein praktischen Gesichtspunkten erweist sich diese Schieflage als Unruheherd und als Ausgangspunkt von Problemen, die wir letztlich vor der eigenen Haustüre wieder finden werden.
Grundlagen für eine viel versprechende Zukunft
Eines Tages hat mich eine wohlhabende Familie aus Bombay aufgesucht. Die Großmutter hatte einen starken Hang zur Spiritualität und den Wunsch, von mir eine Art Segen zu erhalten. Ich erklärte ihr: "Ich kann Ihnen keinen Segen geben. Eine derartige Fähigkeit besitze ich
nicht." Dann sagte ich ihr: "Sie entstammen einer wohlhabenden Familie, und das ist ein sehr glücklicher Umstand. Es ist das Resultat Ihrer verdienstvollen Handlungen der Vergangenheit. Die Reichen sind wichtige Mitglieder der Gesellschaft. Sie bedienen sich kapitalistischer Methoden, um mehr und mehr Profit anzuhäufen. Nun sollten sie
mit Hilfe sozialistischer Methoden den Armen zu Bildung und zu einer medizinischen Versorgung verhelfen." Wir sollten die dynamischen Methoden des Kapitalismus nutzen, um Gewinn zu machen - und diese dann auf umso nützlichere und sinnvollere Weise anderen zugute kommen lassen. Aus ethischer wie aus praktischer Sicht ist dies eine der besten Möglichkeiten, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.
Vor einigen Jahren war ich zu Besuch bei einer unter ärmlichen Verhältnissen lebenden
schwarzen Familie in Soweto, Südafrika. Ich wollte mich ungezwungen mit den Leuten unterhalten,
mich nach ihrer Situation erkundigen, wollte sie fragen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können und dergleichen. Zunächst sprach ich mit jemandem aus der Familie, der sich mir als Lehrer vorgestellt hatte. Im Verlauf unserer Unterhaltung
kamen wir darin überein, dass Rassendiskriminierung ein großes Übel sei. Aber da ja nun die Schwarzen in Südafrika über gleiche Rechte verfügten, so sagte ich anschließend, böten sich ihm jetzt neue Möglichkeiten. Und er müsse sich bemühen, sie durch Weiterbildung und harte Arbeit zu nutzen. An ihm sei es nun, wirkliche Gleichberechtigung herzustellen. Leise und voller Traurigkeit erwiderte der Lehrer, er glaube, die Schwarzafrikaner seien den Weißen verstandesmäßig
unterlegen: "Mit den Weißen können wir es nicht aufnehmen", sagte er.
Ich war erschüttert und tief betrübt. Denn mit einer derartigen Einstellung hat man keine Chance, die Gesellschaft zu
verändern. Aussichtslos! Darum begann ich mit ihm darüber zu diskutieren und sagte: "Meine eigenen Erfahrungen und die meines Volkes sind gar nicht so viel anders als Ihre. Wenn wir Tibeter die Möglichkeit dazu haben, können wir ein sehr erfolgreiches menschliches Gemeinwesen aufbauen. Während der letzten vierzig Jahre haben wir als Flüchtlinge in Indien gelebt und sind dort zur erfolgreichsten Flüchtlingsgemeinschaft
geworden. Wir sind gleich! Wir haben das gleiche Potential. Wir sind Menschen! Die andere Hautfarbe spielt dabei keine große Rolle. Infolge der Diskriminierung standen Ihnen in der Vergangenheit die entsprechenden Möglichkeiten nicht offen. Doch ansonsten verfügen Sie über das gleiche Potential."
Mit Tränen in den Augen erwiderte er mir schließlich leise flüsternd:
"Nun fühle ich, dass wir gleich sind. Als Menschen sind wir gleich. Wir verfügen über das gleiche Potential."
Ich empfand große Erleichterung. Mein schmerzliches Unbehagen war von mir gewichen. Ich hatte einen kleinen Beitrag dazu leisten können, dass im Geist eines Menschen eine Veränderung eingetreten war. Das spürte ich. Und ich hatte ihm geholfen, Selbstvertrauen zu entwickeln, die Grundlage für eine viel versprechende Zukunft.
Die menschliche Familie
Als Menschen sind wir alle gleich. Daher ist es nicht nötig, irgendwelche künstlichen Schranken zwischen uns zu errichten. Meine persönliche Erfahrung zeigt zumindest, dass es für jemanden mit dieser Haltung keine Schranken gibt. Ich kann ausdrücken, was immer ich empfinde. Ich kann Sie "meinen guten Freund" nennen. Es gibt nichts zu verbergen und keinen Grund, nicht offen zu sprechen. Das gestattet mir eine geistige Offenheit, mit dem Ergebnis, dass ich anderen gegenüber nicht ständig misstrauisch sein muss. Und das gibt mir wirklich innere Befriedigung und inneren Frieden.
Dieses Gefühl nenne ich eine "echte Erkenntnis der Einheit der gesamten
Menschheit". Wir alle sind Mitglieder einer einzigen menschlichen Familie. Dies zu verstehen ist meiner Ansicht nach sehr wichtig, besonders jetzt, da die Welt immer kleiner wird. In früheren Zeiten waren die Leute selbst in kleinen Dörfern in der Lage, mehr oder weniger selbstständig zu überleben. Man war nicht so sehr auf sie Zusammenarbeit mit anderen angewiesen. Heutzutage hat sich die Wirtschaftsstruktur völlig
gewandelt; die moderne Wirtschaft, die sich auf Industrie und Technik stützt, kennt ganz andere Abläufe. Wir sind hochgradig aufeinander angewiesen, und durch die Massenkommunikationsmittel sind die Beschränkungen der Vergangenheit so gut wie aufgehoben.
Aufgrund dieser überaus komplexen gegenseitigen Abhängigkeit ist heutzutage jede
Krise auf diesem Planeten mit jeder weiteren verknüpft - wie in einer Kettenreaktion. Infolgedessen lohnt es sich, jede Krise als ein globales Phänomen zu betrachten. Hier sind Schranken wie "diese Nation" oder "jener Kontinent" einfach nur hinderlich. Für die Zukunft der Menschheit ist es darum wichtiger als je zuvor, dass wir ein echtes Gefühl von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit entwickeln. Meist nenne ich das ein
"Gefühl von universaler Verantwortung".
Interreligiöse Verständigung
Als buddhistischer Mönch versuche ich immer, ein besseres Verständnis zwischen den
verschiedenen Religionen zu fördern. Schließlich soll Religion das Heilmittel zum Abbau geistiger Spannung sein. Leider wird manchmal jedoch die Religion selbst zum Anlass für Zerwürfnisse, Streitigkeiten und Konflikte zwischen Menschen. Wie tragisch. Daher halte ich einen eingehenden Dialog und Harmonie unter den verschiedenen Religionen für unbedingt notwendig und versuche Wege zu finden, die zu einem besseren Verständnis führen.
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Glaubensrichtungen, und manche davon sind ziemlich fundamental. Zum Beispiel gehen die Anhänger des Buddhismus und des Jainismus nicht von einem Gott oder Schöpfer aus. Viele andere Religionen wie das Christentum, das Judentum und der Islam finden ihren grundlegenden Glauben in Gott, dem Schöpfer. Ich neige dazu, diese Unterschiede von einem anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Wir kommt es, dass zwei so unterschiedliche Lehren nebeneinander existieren? Ich glaube, weil es unter den Menschen ganz unterschiedliche Mentalitäten gibt, ist eine bestimmte Lehre für gewisse Personen wirkungsvoller und passender. Für andere Menschen wiederum ist eine andere Religion angemessener und effektiver.
Schauen sie sich nur an, wie unterschiedlich die Dinge sind, die wir essen. Zwar
ist der menschliche Körper nicht so kompliziert und anspruchsvoll wie der
menschliche Geist. Trotzdem haben die Menschen unterschiedliche geschmackliche
Vorlieben und bevorzugen dementsprechend andere Speisen. Der Grund ist
allerdings viel weiter entwickelt, und so findet man eine große Vielfalt von
verschiedenen Mentalitäten. Eine Religion allein könnte einfach nicht alle
Menschen zufrieden stellen. (Und um den Weltfrieden zu verwirklichen, ist eine Religion
allein auch nicht imstande.*) Aufgrund dieser Verschiedenartigkeit der Menschen ist meines Erachtens die Existenz unterschiedlicher Lehren und Philosophien von großem Vorteil.
Die wichtigste Einsicht werden wir aber beim Blick auf die Resultate gewinnen. Denn in jeder der großen Religionen können wir gute, sehr warmherzige Menschen finden, die uns einen Eindruck davon vermitteln, zu welchen Ergebnissen diese religiöse Praxis führt. Das zeigt uns, dass alle Glaubensrichtungen, wie unterschiedlich ihre Philosophien oder Lehren auch sein mögen, in gleichem Maße gute Menschen hervorbringen. Daher macht es keinen Sinn, der einen oder anderen Religion keinen Respekt entgegenzubringen.
Dies verdient, sorgfältig und aufmerksam untersucht zu werden. Denn so könnten wir zu einem Verständnis gelangen, das uns hilft, aufrichtigen Respekt für all die unterschiedlichen Religionen zu entwickeln.
Hier bietet sich also ein weites Feld um zusammenzukommen, zusammenzuarbeiten und uns gemeinsam um den Frieden in der Welt zu bemühen, indem wir Frieden in der Familie und Frieden
im Geist jedes Einzelnen entstehen lassen. Denn das - und nicht der Bau von Kirchen, Tempeln oder Kathedralen - ist der Sinn von Religion. Das wichtigste Ziel der
verschiedenen Religionen besteht darin, positive Empfindungen zu erzeugen, positive menschliche Eigenschaften zu verstärken und negative zu verringern. Daher lehrt uns jede große Religion Liebe, Mitgefühl, Vergebung und ein Gefühl von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit.
. . . meine wahre Religion
Dass wir jetzt die letzten Zeilen dieses Beitrages erreicht haben, erinnert uns auch an die Vergänglichkeit des Lebens. Wie schnell zieht es vorbei, und wie schnell ist unser letzter Tag gekommen. In nicht einmal fünfzig Jahren werde ich, Tenzin Gyatso, der buddhistische Mönch, allenfalls noch eine Erinnerung sein. Ja, es ist unwahrscheinlich, dass auch nur einer jener Menschen, die diese Worte lesen, in einhundert Jahren noch am Leben sein wird. Die Zeit verrinnt und lässt sich nicht aufhalten. Wenn wir etwas falsch machen, können wir die Uhr nicht zurückdrehen und es noch einmal versuchen. Aber wir können die Gegenwart sinnvoll nutzen. Wenn wir dann an unserem letzten Tag Rückschau halten und feststellen, dass wir etwas geleistet, ein erfülltes und sinnvolles Leben geführt haben, so wird uns das immerhin Trost spenden. Andernfalls werden wir vielleicht sehr unglücklich sein. Doch welche der beiden Möglichkeiten sich vor uns auftut, liegt ganz bei uns.
Um nicht von Reue überwältigt zu werden, wenn wir uns dem Tod nähern, sollten wir uns vergewissern, dass wir anderen gegenüber verantwortungsbewusst und mitfühlend eingestellt sind; nicht weil wir uns davon für die Zukunft etwas versprechen, sondern weil es tatsächlich unser Anliegen ist. Mitgefühl gehört, wie wir gesehen haben, zu jenen elementaren Dingen, die unserem Leben Sinn verleihen. Es ist die Quelle der Freude und allen dauerhaften Glücks. Und es bildet das Fundament für ein gutes Herz - für eines, das aus dem Bedürfnis heraus handelt, anderen helfen zu wollen.
Mit Freundlichkeit, mit Zuneigung, mit Ehrlichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit, die wir in der Begegnung mit allen anderen Menschen walten lassen, sorgen wir für unser eigenes Wohl.
Das hat nichts mit komplizierten Theorien zu tun, ist eine Sache des gesunden Menschenverstandes. Zweifellos lohnt es sich also, an andere zu denken. Auch lässt sich nicht bestreiten, dass unser Glück unauflöslich mit dem Glück der anderen zusammenhängt: Wir selbst leiden, wenn die Gemeinschaft leidet, und es geht uns umso schlechter, je mehr unser Herz und unser Kopf von Böswilligkeit blockiert werden. Daher können wir alles andere von uns weisen: Religionen, Weltanschauungen, Ideologien, alle Weisheiten und alles Wissen dieser Welt, doch um Liebe und Mitgefühl kommen wir nicht herum.
Und das ist meine wahre Religion, mein schlichter Glaube. Unter diesem Gesichtspunkt brauchen wir keine Tempel oder Kirchen, keine Moscheen oder Synagogen, keine komplizierte Philosophie, keine Doktrin, kein
Dogma. Unser Herz, unser Geist - das ist der Tempel. Mitgefühl ist die Doktrin. Liebe zu anderen und der Respekt vor ihrer Würde und ihren Rechten, gleichgültig, wer oder was sie sind, das ist letztlich alles, was wir brauchen. Praktizieren wir das in unserem Alltag, dann spielt es keine Rolle, ob wir gebildet oder ungebildet sind, ob wir an Buddha oder Gott glauben, ob wir uns überhaupt einer Religion zugehörig fühlen oder nicht - solange wir Mitgefühl zeigen und uns aus Verantwortungsbewusstsein selbst beschränken, werden wir glücklich sein.
Zum Schluss möchte ich ein kleines Gebet mit Ihnen sprechen, eines, das mir in meinem Bemühen, anderen zu helfen, immer sehr hilfreich ist.
Möge ich jetzt und immer so sein:
ein Beschützer für diejenigen, die niemand beschützt,
ein Führer denen, die sich verirrt haben,
ein Schiff für jene, die über die Meere ziehen müssen,
eine Brücke für die, die Flüsse überqueren müssen,
ein Asyl für alle, die in Gefahr sind,
eine Lampe für die, die kein Licht haben,
eine Zuflucht für die Schutzlosen und ein Diener all denen, die Hilfe brauchen.
* Anmerkung der Redaktion