DIE FURCHE Nr. 25 - 21. 06. 2007
DOSSIER: Hutterer: Bergler in der Prairie
Flughafen Winnipeg, Kanada: Ich suche den Hutterer Fred Kleinsasser, der mich abholen und auf einen Bruderhof bringen
will. Aber alte, bärtige Männer mit Hut und Hoseltträgern gibt es viele, einen Hutterer stelle ich mir anders, fremder,
auffälliger vor. Erst bei zwei weiter weg sitzenden Frauen werde ich stutzig: Schwarze Kopftücher, das könnten Hutterer sein?
Und sie waren es, Kathi und Anne Kleinsasser, Frau und Tochter von Fred; eine Woche lang zeigen sie mir von da an das
hutterische Leben, "des guate und des nid so guate".
Wolfgang Machreich
Bei den "apostolischen Kommunisten"
Die Hutterer-Brüderhöfe in Nordamerika leben in Gütergemeinschaft. Warum? Weil es Gott so will, antworten jene Hutterer,
die an ihrem Glauben und diesem Lebensmodell festhalten. Doch viele Hutterer wollen das nicht mehr und steigen aus. VON
WOLFGANG MACHREICH
Glaube kann Berge versetzen - ihr Glaube hat die Hutterer von den Tiroler und Kärntner Bergen in die kanadische Prairie
versetzt. Doch kaum ein Hutterer-Wohnzimmer dort, in dem nicht irgend ein Bergbild hängt: gemalte oder fotografierte
Gipfel, Grate, Schluchten, Gletscher ... Auf einer Kommode beim Hutterer Fred Kleinsasser zuhause findet sich sogar ein
Bildchen von Innsbruck, die verschneite Nordkette im Hintergrund, vorne das Goldene Dachl - am Platz darunter hat vor bald
500 Jahren alles begonnen. Fred Vetter - alle Hutterer reden sich gegenseitig mit Vetter oder Basel an! - hat im Februar
dieses Jahres die Heimat seiner Vorfahren besucht, und seit seiner Rückkehr, sagt der 76-Jährige, hat er "Heimweh nach den
Bergen".
Büffel, kein Adler im Wappen
In der kanadischen Provinz, Manitoba, wo Fred Vetter und Tausende andere geistige Nachfahren des Tiroler Wiedertäufers
und 1536 in Innsbruck auf dem Scheiterhaufen verbrannten Jakob Huter leben, sind Ackerschollen die höchsten Erhebungen,
und das Wappentier ist kein roter Adler, sondern ein schwarzer Büffel. Die ursprünglich hier lebenden Assiniboine-Indianer
waren große Büffeljäger - ihr Name bedeutet: "Jene, die auf Steinen braten".
Heute erinnert an diese frühen Freunde eines guten Steaks nur mehr der nach ihnen benannte Assiniboine River, ein gerade
Hochwasser führender rotbraun-dreckiger Fluss, der das brettflache Land von Westen nach Osten durchquert. "Im Assiniboine
ist der Bruada meiner Frau ertrunka, gell Muata!", sagt Fred Vetter hinter dem Steuer seines Autos sitzend, als wir auf einer
Brücke der Transkanada-Autobahn den Fluss überqueren. "Jo Voter, des is scho lang her", antwortet Katharina Basel vom
Rücksitz des Wagens. Gemeinsam mit mir, dem "deitschn Vetter" ist das alte Hutterer-Ehepaar unterWegs zu einer Hochzeit
in der "James Valley Colony".
Eine "Colony" bezeichnet eine Hutterer-Farm, auf der rund zwanzig Familien und an die hundert Menschen zusammenleben.
472 solcher Kolonien mit geschätzten 47.000 Hutterern gibt es in Nordamerika. Auf Hutterisch heißen diese Bruderhöfe
"Gmah" - "aber bloß Gmahschoft", erklärt Fred Vetter, "haben die Mennoniten und die Amish auch, was die Hutterer
b'sunders mocht, ist die Giatagmahschoft", und dass es der Gast ja versteht, wiederholt er das Wort auf Hochdeutsch: "die
Gütergemeinschaft". Zusammensein und Zusammenhalten sind die hutterischen Lebensprinzipien. Deswegen sind sie auch
von den Amerikanern bei ihrer Einwanderung vor 150 Jahren "apostolische Kommunisten" genannt worden. Und Fred Vetter
ist stolz auf diese Zuschreibung: "Wir sand die wirklichen, die echten Kommunisten, wir hoben olles z'samm - des is
Gmahschoft!"
Hutterer singen beim Reden
Die Sprache der Hutterer ist eine Mischung aus Kärntnerisch und Tirolerisch. Vor allem ersteres, denn von Kärntnern heißt es,
dass sie beim Reden singen - und die Hutterer singen genauso, wenn sie das" Wosa lafn losn" oder "a Liedlan
singan". Sprachforscher haben zudem herausgefunden, dass sich im Hutterischen auch bayerische, hessische und schlesische
Sprachspuren mit rumänischen und russischen sowie heute vor allem englischen Einsprengseln finden. Die Herkunft und der
fast 500-jährige Siedlungs- und Flucht- und Leidensweg der Hutterer spiegelt sich in dieser Sprache wieder: Aus dem
Pustertal und Oberkärnten kommend über Mähren, Siebenbürgen und die Ukraine bis nach USA und Kanada (siehe Info-Kästen auf der nächsten Seite).
Aber nicht nur die Sprache ihrer Heimat haben sich die Kleinsassers und anderen Hutterer erhalten, auch ihre Gesichter, ihre
Statur, ihr Gehabe und Auftreten ist so, als würden die Tiroler- und Bergler-Gemälde eines Franz Defregger oder Albin Egger-Lienz oder Alfons Walde zum Leben erwachen. Und wenn Katharina Basel ihre Haare unter dem schwarzen Kopftuch zu
einem Gretelzopf geflochten hätte, dann wäre sie das Ebenbild einer klassischen Altbäuerin auf jedem Erbhof in den Alpen.
Die hutterischen "Dindlan" tragen eine "Mitz" als Kopfbedeckung, die älteren Mädchen, die "Dirnen", haben ein
"Tiachl" umgebunden, so wie die "Weiber". Alle aber haben sie lange Röcke an - immer: in der Küche genauso wie bei der Feldarbeit,
auch in der Sandkiste, auch wenn ein Dirndl mit den Buaben Fußball spielt und sich dabei von ihrem knöchellangen Rock
nicht aufhalten lässt. Die Männer wiederum tragen von ganz klein auf alle schwarze Hosen, ausnahmslos gehalten von
Hosenträgern, den "Latrn". Das war nicht immer so. Auch blaue und graue Hosen gab es früher unter den
Hutterischen, erzählt Fred Vetter, aber dann hat man in einer Colony schwarze Hosen eingeführt, und das "war stylish und olle hoben damit
ong'fangt". Einer Mode nachgeben? Ein für Hutterer ansonsten völlig undenkbares, ja frevelhaftes Vorgehen: Alles, was die
Augen zu viel "glusteln" kann, gilt als Hoffart, als von der Welt und damit vom Teufel. Bei allem sollen Hutterer
"demiatig" sein, "das ist gottgefällig, das ist hutterisch".
Hosenträger sind "demiatig"
Darum wurden auch die Gürtel abgeschafft, weiß Fred Vetter eine andere Geschichte: Zu groß, zu schön, zu sehr verziert
oder teuer gearbeitet sind die Gürtelschnallen bei einigen Hutterern geworden - das konnten die Prediger nicht dulden,
seither müssen die "Latrn" herhalten.
Der Weg von "Concord Colony", dem Heimathof von Fred Vetter und Katharina Basel, zur Hochzeit nach "James Valley" wäre
an und für sich nicht weit. In einer knappen Stunde Autofahrt ist man von hier nach dort, doch Fred Vetter will dem
"deitschn Vetter" so viele "Gmah wie meglich zagn, dass er siagt, wie unterschiedlich die Colony sand". Ein anderer Vorteil ist, dass
dieser Ausflug von Hof zu Hof für Fred und Katharina die Gelegenheit bietet, ihre Verwandtschaft zu besuchen. Und wenn
man weiß, dass alle heutigen Hutterer in Nordamerika nur ein gutes Dutzend Familiennamen haben. Und von kaum 200
Auswanderern abstammen, die vorher schon viel verwandt miteinander waren, dann kann man sich ungefahr vorstellen, in
welche Größendimension ein Verwandtenbesuch bei Kleinsassers ausartet - doch der "deitsche Vetter" ist froh darüber,
letztlich hab ich dadurch 15 Bruderhöfe gesehen, und was mir Fred Vetter schon vorher angekündigt hat, bewahrheitet sich
absolut: "Es is kana gleich, es sand olle onders!"
Die Prediger bestimmen
Die Hutterer sind über 40.000 Individuen sagt die Innsbrucker Historikerin Astrid von Schlachta im FURCHE-Interview (siehe
Seite 23) und warnt vor zu viel Gleichmacherei. So unterschiedlich präsentieren sich auch Höfe. Damit ist nicht so sehr die
Architektur oder die Anordnung der Häuser und Ställe und Werkstätten gemeint, die ist überall mehr oder weniger ähnlich: Es
gibt eine Kirche, eine Schule, eine Küche und dazu kommen die Wohn- und Wirtschaftshäuser - und der Schweinestall ist
immer so weit wie möglich weggebaut, denn der stinkt am meisten.
Die großen Unterschiede zwischen den Höfen betreffen die geistliche Ausrichtung, sind spiritueller Natur. Ob ein Hof
konservativ oder liberal ist - zum Beispiel Radios erlaubt oder verbietet, Armbanduhren zulässt oder nicht, Fahrräder und
Fußballspiel gepehmigt usw. - hängt von den jeweiligen Predigern und deren mehr oder weniger strengen Auslegung des
hutterischen Regelwerks ab. Jede Gemeinde hat im Normalfall einen ersten und einen zweiten Prediger; gemeinsam mit dem
"Diener der Notdurft", auch Hauswirt oder Säckelwart genannt, der die Kassa der "Gmah" betreut, und einem" Weinsedel",
der schaut, dass es weder an Essen und Trinken noch Maschinen und anderer Gerätschaft fehlt sowie mit zwei weiteren
Zeugbrüdern bilden sie den Rat, das Führungsgremium der Colony.
Von Sirene geweckt
Punkt 7 Uhr und 10 Minuten in der Früh geht auf Fred Vetters Heimathof "Concord" drei Mal die Sirene - Signal zum
allgemeinen Aufstehen. Um halb Acht ein weiterer Sirenenton: Zeit fürs Frühstück. Aus allen Häusern kommen jetzt die
Kinder heraus, gefolgt von den Erwachsenen und marschieren schnellen Schrittes zur "Kuchl". Dort gibt es einen eigenen
Eingang für die Kinder. Auf Buben- und Mädchentischen sitzend, frühstücken sie, beaufsichtigt vom Deutschlehrer, von ihren
Eltern getrennt. Nicht ohne vor und nach dem Essen niederzuknien und zu beten: "0, Herr, allmächtiger, ewiger gnädiger und
barmherziger Gott und Vater, wir deine Kinder sagen Dir von ganzen Herzen Lob, Ehr und Dank ..." Bis in den Speisesaal der
Erwachsenen ist das an das Gebet anschließende Morgenlied der Kinder zu hören. Auch hier sitzen Frauen und Männer
getrennt und nach ihrem Alter aufgefädelt. Der Prediger schlägt mit seinem Löffel ans Kaffeehäferl, augenblicklich kehrt Ruhe
ein, werden die Hände gefaltet, "sog'n ma Dank": "Wir bitten Dich, Herrgott, himmlischer Vater, segne alle diese Deine
Gaben, die wir durch Deiner reichen Milde, Güte Hand zu uns nehmen und empfangen haben durch Jesum Christum. Amen."
Nach dem Essen schlägt der Prediger wieder ans Häferl, "sog'n ma Dank". Die Hutterer beten vor und nach jeder Mahlzeit,
ausnahmslos, auch wenn sie zum Nachmittagskaffee ein Stück Kuchen essen oder am Abend noch von einer Melone kosten
oder eine Handvoll Kartoffelchips knabbern.
Hutterische Agrarindustrie
Auf ihrer gemeinsmen Fahrt zur Hochzeit in "James Valley" sind die zwei Kleinsassers und der Vetter aus Österreich
mittlerweile nach "Milltown Colony" gekommen - einer der alten Bruderhöfe in Kanada, gegründet 1938. So wie in jeder
Colony zeugen auch hier riesige Silos von der Wirtschaftskraft der Hutterer. Mehr als ein Drittel der Schweinezucht in ganz
Manitoba wird von den Hutterischen betrieben. Hutterer Höfe sind Agrarfabriken, spezialisiert auf Truthähne, Gänse, Hühner,
Kühe oder eben "Foken".
Beim Bau einer Mühle in "Milltown Colony" ist Fred Vetter als junger Mann 40 Fuß abgestürzt und eine Woche lang ohne
Bewusstsein im Krankenhaus gelegen. Dem "deitschn Vetter" zeigt er, wo es passiert ist. Und wie er wieder gesund geworden
ist, hat er gewusst, dass "der Himmelvoter ein purpose mit mir hot - d'rum bin i Deitsch-Lehra wurn".
So wie alle getauften und verheirateten Hutterer trägt auch Fred Vetter einen mittlerweile weiß gewordenen Vollbart, doch
seine Oberlippe ist rasiert. Deswegen schaut er ein wenig so aus wie weiland der amerikanische Präsident Abraham Lincoln.
Mit dem gegenwärtigen US-Präsidenten will er jedoch keinesfalls etwas zu tun haben - die Hutterer sind absolute Pazifisten
und nehmen Christi Gebot, die zweite Wange hinzuhalten, wörtlich: "Zumal ein Christ weder Krieg noch weltlich Schwert
führet, um Rache zu üben, darum machen wir weder Schwerter, Spieße, Büchsen noch dergleichen Wehr oder Waffen."
Eishockey ohne Gewalt
Sogar jede Sportart, wo der Wettstreit und das Gegeneinander im Vordergrund stehen, ist bei den Hutterern verpönt.
"Eishockey ist eigentlich gegen unsere Prinzipien", erklärt mir Samuel Kleinsasser. Trotzdem hat der erste Prediger und ältere
Brudet von Fred Vetter der Jugend auf seinem Hof einen Hockey-Platz erlaubt, "damit sie Disziplin lernen können, und
Verantwortungsbewusstsein".
Doch es gibt einige Einschränkungen: keine Schlägereien, keine Beschimpfungen, auswärtige Teams sind ebenfalls nicht gern
gesehen, und damit kein Ehrgeiz aufkommt, werden die Tore nicht gezählt. "Dann zählen sie halt leise mit, aber nach dem
Spiel weiß jeder, wer gewonnen hat", macht sich ein anderer Vetter auf einem anderen Hof über die Regeln in
"Concord" lustig.
Welche Sprache im Himmel?
Das mehrstündige Gespräch mit dem Prediger Sam Vetter über Hockey, den Teufel, die "Kathola" und ihren Papst und vieles
mehr ergibt sich nach dem allmorgendlichen Rat. Im Anschluss an das Frühstück treffen sich jeden Tag der Haushalter, der
Weinsedel und je nach Bedarf die anderen Zeugbrüder im Wohnzimmer des Predigers. Die Arbeit für den Tag wird
besprochen, wer, mit welchem Auto, wohin fährt, was gekauft, was verkauft wird. ... Alle paar Minuten steckt ein
"Bruada" nach dem anderen den Kopf bei der Zimmertür herein und "trogt sein Begehr vor". An diesem Tag kommt auch ein
Auswärtiger und fragt, ob er drei Schweine für eine Wohltätigkeitsveranstaltung haben kann - nach kurzer Diskussion darf er
sich die Schweine auf seinen Truck laden.
Der Bittsteller ist noch nicht bei der Tür draußen, da fragt Sam Vetter den "deitschn Vetter": "Wölche Sproche werd'n ma im
Himmel wohl reden?" Solche augenblicklichen Wechsel zwischen weltlichen und göttlichen Dingen sind typisch
hutterisch, "das lieben die Hutterer", sagt mir später ein Deutschlehrer in einer anderen Colony. "Hutterische Existenz ist sich immer
ihres göttlichen Auftrags bewusst", schreibt in diesem Sinn auch der mittlerweile verstorbene deutsche Journalist Michael
Holzach in seinem Buch Das vergessene Volk: Holzach hat Anfang der 1980er ein Jahr lang bei Hutterern gelebt und ist dabei
zur Erkennrnis gelangt: "Das Diesseits und das Jenseits sind jederzeit miteinander verbunden, das eine ist auf das andere
bezogen, die Gemeinde ist das Bindeglied zwischen Himmel und Erde."
Religion ist in Deutsch
Himmel und Erde, Geschichte und Gegenwart treffen sich gleichsam in Fred Vetters Schreibstube.
Neben in schwerem ledergebundenen und mit Metallspangen verschließbaren hutterischen Gesangs-, Gebets- und
Geschichtsbüchern liegt das Kinderspielzeug von Fred Vetters Enkeln verstreut. Deutsch ist die hutterische Religionssprache
und im Alltag, besonders im beruflichen Alltag mittlerweile fast völlig vom Englischen getrennt. Das geht so weit, dass ein
hutterischer Jugendlicher fassungslos ein in Deutsch verfasstes SMS bestaunt, das der "deitsche Vetter" von seinem
Chefredakteur via Handy geschickt bekommen hat: "Cool!", staunt er, dass diese Sprache, die er nur von der Lehr in der
Kirche kennt, auch für moderne Kommunikation taugt, scheint ihm völlig neu und fremd zu sein. So wie der Junge das Lob
des "deitschn Vetters" über die "Kuchl" in der Colony nicht teilt - ihm ist McDonalds viel, viel lieber.
Jakob Huter auf Kassette
Der Deutschlehrer, der neben dem Sprachunterricht die religiösen Unterweisungen in der Sonntagsschule hält, ist deswegen
immer auch so etwas wie der Theologe und Historiker der Gemeinde. Fred Vetter hat diese Aufgabe 40 Jahre lang ausgeübt.
Und er kann davon immer noch nicht ganz lassen und seine Freude und seinen Stolz nur schwer verbergen, wenn sich seine
Tochter eine von ihm mit Hutterer-Geschichten besprochene Kassette ausleiht, um damit das Enkelkind in den Schlaf zu
wiegen.
Fred Vetter hat seine Schulkinder auch nach Winnipeg gefahren und mit ihnen das Provinzparlament besucht. Für Hutterer,
die Jahrhunderte lang der weltlichen Obrigkeit den Gehorsam verweigerten, keine Selbstverständlichkeit.
Und auch heute noch lehnen es einige Hutterer ab, in ein öffentliches Dokument, Führerschein oder Reisepass, ein Bild von
sich zu geben. Doch die "Concorder" gehen schon seit Jahrzehnten zur Wahl. Und das Parlament in Winnipeg ist ein
eindrucksvoller Bau. Zwei jeweils zweieinhalb Tonnen schwere Bronze-Bisons in Lebensgröße zieren den Aufgang der
Eingangsstiege; das Mobilar der Abgeordnetenkammer ist aus dunklem Nussbaumholz, und zwei große Statuen prägen den
Saal: rechts der athenische Staatsmann und Gesetzesreformer Solon und links Mose, die Gesetzestafel mit den zehn Geboten
in der Hand.
Fred Vetter, der es sich nicht nehmen ließ, den "deitschn Vetter" auf die Besuchertribüne zu begleiten, hatte ihn gar nicht
gleich erkannt; auf den jüdischen Gottesmann hingewiesen, fühlt sich Fred Vetter sichtlich noch ein bisschen wohler in
diesem weltlichen Parlament.
Die Debatte unter den Abgeordneten dreht sich um das Pensionssystem für staatliche Lehrer. Ein Thema, das auch die
Hutterer betrifft, denn der in Englisch gehaltene Unterricht aller Fächer außer Religion wird in ihren Schulen von staatlichen
Lehrern gegeben - und vom Staat bezahlt. Deswegen weht vor den Hutterer-Schulen auch die kanadische Flagge, das rote
Ahornblatt auf rot-weiß-rotem Grund. "Das bedeutet aber nicht, dass wir den Staat anbeten", sagt Fred Vetter, ohne dass er
danach gefragt wurde.
Versöhnung mit "Kathola"?
Die Nacht vor unserer Ankunft in "James Valley" verbringen wir bei Ben und Elizabeth Waldner in der
"Aspenheim Colony". Ben Vetter ist Prediger in dieser "Gmah" und Fred Vetter muss ihm alles über seine Reise nach Österreich und zu den
hutterischen Gedenkorten in Tirol und Südtirol erzählen. Besonders interessiert ist Ben Vetter daran, was es mit der
"Versehnung mit de Kathola" auf sich hat. Fred Vetter und seine Frau und zwei weitere Hutterer-Ehepaare waren im Februar
auf Einladung des Arbeitskreises "Hutterer-Versöhnungszeichen" in Österreich. Ziel des Arbeitskreises ist es, dass die
Nachfolger der damals an Vertreibung und Hinrichtungen Verantwortlichen, also die heutigen Bischöfe und Landeshauptleute
Nord- und Südtirols, einen Akt der Versöhnung setzen. Die tiroler Seite wäre dazu bereit, hat Fred Vetter bei den
"Sondierungsgesprächen" in Innsbruck und Bozen erfahren. Doch auf hutterischer Seite ist kein Konsens in dieser Frage in
Sicht; Fred Vetter drängt die Prediger jetzt, wenigstens irgendeine Antwort nach Österreich zu schicken.
Kontakt mit den Aussteigern
Vetter Ben und Elizabeth Basel in "Aspenheim" plagen andere Gedanken und Sorgen mehr - von ihren neun Kindern ist keines
mehr in der Colony; einige Töchter sind in anderen Höfen verheiratet, aber drei Kinder haben der "Gmahschoft" überhaupt
den Rücken gekehrt, leben heute in Calgary.
Am Kühlschrank der Waldners kleben die Fotos der Enkelkinder, einige in hutterischer Tracht, andere in "weltlicher" Mode.
Fast in jedem Hutterer-Haus sehe ich solche Fotos - Grüße von der einen in die andere Welt. Trotz der nach wie vor hohen
Geburtenrate mit durchschnittlich sechs Kindern pro Frau, wachsen die Gemeinden nicht mehr so wie früher - weil viele
weggehen. Wahrend des erwähnten langen Gesprächs über Hockey und Gott mit Sam Vetter in "Concord" ruft auch eine
seiner Töchter an, die heute in Calgary wohnt. "We love you", verabschiedet sich der Vater von ihr am Telefon, sie kommt
regelmäßig zu Besuch, erzählt er dem "deitschn Vetter".
Eine Hochzeit ohne Tanz
Laut Erzählungen in Michael Holzachs Buch "Das vergessene Volk" war das Verhältnis zwischen Aussteigern und Dableibern
vor gut 20 Jahren von weniger Wohlwollen, ja bis hin zu Hass und Verfolgung geprägt. Holzach schreibt über einen
ehemaligen Hutterer, der nach seinem Weggang in einer Futtermittelfabrik Arbeit gefunden hat. Die "Gmah" drohte daraufhin
diesem Unternehmen, bei ihm nichts mehr zu kaufen, worauf der abtrünnige Hutterer wieder umgehend entlassen wurde.
Doch auch bei den Hutterern bleibt die Zeit nicht stehen, greifen Veränderungen um sich: "Ich tua heute selba dos, wos ich
als Lehra no verbotn hob", kommentiert Fred Vetter so manchen Gesinnungswandel, zum Beispiel, dass er heute nicht mehr
gegen das Radio in einem Hutterer-Haus ist - "oba den TV brauch ma nid!"
Schließlich bei der Hochzeit von gleich drei Paaren in der "James Valley Colony" angekommen, merkt der "deitsche Vetter",
dass es auch ohne Tanz und Musik - weil nichts dem Ohr "glusteln" darf - ganz nett werden kann. Die Hutterer singen
deutsche und englische Lieder, dass der Hochzeitssaal nur so bebt. Dann treten Chöre auf, doch wenn die Lieder zu weltlich
werden, schreitet der Prediger ein. Manchmal kann sich das Hochzeitsvolk nicht halten und fangt zum Klatschen an - "No
clapping!" faucht der Prediger ins Mikrofon. Dem "deitschn Vetter" erklärt er: "Gott alloin g'hört des Lob! Host des
vaschtonden?" Verstanden schon, klatschen würde ich trotzdem gerne - ist das nicht auch
"Gmahschoft"?
Buch- und Ausstellungstipps:
DIE HUTTERER ZWISCHEN TIROL UND AMERIKA. Eine Reise durch die Jahrhunderte. Von Astrid von
Schlachta, Universitätsverlag Wagner,lnnsbruck 2006, 232 Seiten, brosch., € 23.-
VERBRANNTE VISIONEN? Erinnerungsorte der Täufer in Tirol. Von Astrid von Schlachta u.a. Innsbruck University Press;
erscheint Ende Juni
Die Hutterer - verbrannte Visionen? Ausstellung im Museum Goldenes Dachl, Herzog Friedrich Straße 15, 6010 Innsbruck - ab
2. Juli 2007
VOM PUSTERTAL ...
"Da er aber beständig und redlich als ein christlicher Held in seim Glauben verharret, wurde er nach viel erduldeter Tyrannei
von den argen Kaiphas- und Pilatuskindern verurteilt, also lebendig in Scheiterhaufen getan und verbrennet." So wird im
hutterischen "Geschicht-Buch" die Exekution Jakob Huters vor dem lnnsbrucker Goldenen Dachl am 25. Februar 1536
beschrieben. Ein abschreckendes Exempel gegen die Täuferbewegung wollten die Kaiphas- und Pilatuskinder, also die
damalige geistliche und weltliche Obrigkeit, damit setzen. Doch die nach ihrem Gründer benannten "Hutterer" halten an den
Grundsätzen ihres Gründers fest - bis heute:
1527: Der Tiroler Landesfürst Erzherzog Ferdinand I. befiehlt, "das alle und jede widertauffer und widergetaufft mannen und
weibspersonen, verstendigs alters, von natürlichem leben zum tod mit dem feur, swert oder dergleichen gebracht werden"
sollen.
1529: Der Pustertaler Hutmacher Jakob Huter predigt und tauft Erwachsene; diese "Wiedertäufer" schließen sich lose
organisierten Täufergemeinden in Tirol an; noch im selben Jahr wird Huter gefangen genommen, es gelingt ihm aber die
Flucht zu einer Täufergemeinde in Mähren. Mit anderen beginnt er die planmäßige Aussiedlung der Tiroler Täufer nach
Mähren "immer ein Völkl nach dem anderen, mitsamt allem ihrem Vermögen.
1535: Die Täufergemeinden werden auch in, Mähren, verfolgt, Huter kehrt nach Tirol zurück, wird im Dezember gefangen
und drei Monate später verbrannt, seine Frau Katharina wird 1538 hingerichtet.
1589: Trotz periodisch auftretender Verfolgungen erleben die hutterischen Gemeinden "Goldene Jahre". Bis 25.000 Hutterer
siedeln in Südmähren und kommen durch Gütergemeinschaft und Handwerkskunst zu wirtschaftlichem Wohlstand.
1622: Nach Beginn des Dreißigjährigen Kriegs ist das Schicksal der Hutterer so wie das der Protestanten und Utraquisten
besiegelt - konvertieren oder auswandern lautet die Alternative. Ein Drittel der Gemeindemitglieder (knapp 10.000) verlässt
Mähren und zieht weiter gen Osten nach Siebenbürgen, wo die allseits geschätzten Handwerker mit offenen Armen
empfangen wurden.
1694: Mit der wirtschaftlichen Blütezeit geht ein geistig-religiöser Verfall einher. Viele Hutterer werden "urdrüssig und satt an
dem Schatz ihres Heils und an dem Dienst ihrer Seligkeit". Vielerorts werden die Gütergemeinschaft und Erwachsenentaufe
aufgegeben.
1755: Kärntner Protestanten finden als Tagelöhner Aufnahme bei den Hutterern in Siebenbürgen; die Kärntner konvertieren,
Neu-Hutterer-Gemeinden in Gütergemeinschaft und unter starkem Kärntner Einfluss entstehen.
"Die Gmeinschaft ward zerstöret
Nach der Apostelzeit
Unterdrücket und verkehret,
Durch Teufels List und Neid.
Doch hat jetzt Gott der Herr
Aus seinem Gnadenreich;
Sein Gmein erwecket mehre
Die der Apostellehre
Im Wort und Werk ist gleich."
(Hutterisches Gemeinschaftslied)
HUTTERER IN NORDAMERIKA
Neben der Ausnahme-Gemeinde "Owa" in Japan befinden sich die weiteren 472 Hutterer-Gemeinden mit rund 47.000 Seelen
ausschließlich in Nordamerika. Die kanadischen Provinzen Alberta und Manitoba zählen jeweils über hundert Kolonien.
Die Provinz Saskatchewan beherbergt mehr als 60 Höfe, und auch in British Columbia ganz im Westen Kanadas siedeln
Hutterer.
Die US-Bundesstaaten mit den meisten Bruderhöfen sind Montana und South Dakota mit jeweils rund 50 Gemeinden.
Daneben leben Hutterer in Minnesota, North Dakota, Washington und Orefion.
... NACH KANADA
1763: Kaiserin Maria Theresia erlässt die Anordnung, die Täufer in Siebenbürgen nicht mehr zu dulden, die katholische
Mission vor allem durch den Jesuitenorden wird vorangetrieben. Die Hutterer flüchten über die Karpaten in die Ukraine und nach Südrussland.
1842: Die Hutterer kommen nach Molochtna (nördlich der Halbinsel Krim, zwischen Schwarzem und Asowschem Meer). Mit
Hilfe mennonitischer Täufergemeinden können sie auch hier wirtschaftlich schnell wieder auf die Beine kommen.
1874: Zunehmender Nationalismus, Russifizierungsversuche und die Einführung der Wehrpflicht lassen die ersten 100
Hutterer in die Vereinigten Staaten auswandern und sich im heutigen South Dakota ansiedeln. Mit der Auswanderung geht die
Unterteilung der Hutterer in die Schmiede-, Darius-, Lehrer-, und Prairieleut einher.
1916: Hutterer landen in amerikanischen Gefängnissen, weil sie den Wehrdienst im Ersten Weltkrieg verweigern.
Aufgrund der antideutschen Stimmung werden die Bruderhöfe von patriotisch gesinnten US-Bürgem überfallen und der
Hutterer-Besitz "rechtmäßig" entwendet, um den Erlös in die Finanzierung des Krieges zu stecken.
1918: Aufgrund derartiger Feindseligkeiten werden 15 Bruderhöfe nach Kanada verlegt: Die kanadisce Regierung hat ein
großes Interesse an den landwirtschaftlich erfahrenen wie erfolgreichen Hutterern und gewährt weitreichende Privilegien:
Zunächst bleibt nur ein Hof in den USA bestehen; ab 1934 gründen die Hutterer wieder einige Höfe im amerikanischen South
Dakota.
1942: Auch während des Zweiten Weltkriegs und auch in Kanada sind die Hutterer mit einer feindseligen Stimmung
konfrontiert: Der "Land Sales Prohibition Act" verbietet ihnen Land zu kaufen.
1947: Das Verbot, Land zu kaufen wird aufgehoben, andere Restriktionen (Beschränkung der Hofgröße, keine Hutterer-Höfe
zu nahe beinander) bleiben aus Furcht vor den schnell wachsenden hutterischen Gemeinden.
1977: Der Japaner Isomi Izeki ist vom hutterischen Vorbild begeistert, lässt sich taufen, wird schließlich in Kanada ordiniert
und gründet 240 Kilometer nördlich von Tokio die "Owa-Gemeinde".
2005: Vertreter der Hutterischen Kirche sprechen sich offiziell gegen die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen aus; auch
sonst gibt es die jahrhundertelange unpolitische Einstellung und absolute Trennung von Gemeinde und Staat nicht mehr: Der
englische Schulunterricht wird von staatlich angestellten Lehrern erteilt, und auch das Wahlrecht wird auf vielen Höfen,
teilweise schon seit Jahrzehnten, wahrgenommen.
"Kein Museum!"
Die Innsbrucker Historikerin ASTRID VON SCHLACHTA warnt davor, die Hutterer über einen Kamm zu scheren.
DIE FURCHE: Frau Schlachta, liegt der Vorteil der Hutterer für eine Historikerin darin, dass in ihnen Geschichte bis in die Gegenwart konserviert ist?
ASTRID VON SCHLACHTA: Definitiv, wo hat man das sonst, dass man Geschichte des 16. Jahrhunderts bearbeitet und es gibt noch direkte Nachkommen, die ähnlich leben und eine ähnliche Sprache sprechen. Und jeder Soziologe freut sich natürlich auch die Hutterer-Gemeinschaft studieren zu können. Aber die Hutterer sind vielfältig, und man sollte sich hüten, von den heutigen Hutterern zu viele Rückschlüsse auf die Geschichte zu ziehen - da hat sich doch viel verändert.
DIE FURCHE: Was ist geblieben?
SCHLACHTA: Die Tiroler Sprache hat überdauert, mit einem starken Kärntner Einschlag und mittlerweile ist auch viel Englisch reingerutscht; geblieben sind auch die Glaubensgrundlagen: Gütergemeinschaft, Wehrlosigkeit, Erwachsenentaufe ...
DIE FURCHE: Sie nennen die Gütergemeinschaft zuerst - mit Absicht?
SCHLACHTA: Ja, denn nur die Hutterer leben in Gütergemeinschaft, alle anderen Täufergruppen, die Mennoniten oder Amish, tun das nicht. Auch historisch gesehen, war die Erwachsenentaufe nicht dasjenige, warum sie verfolgt wurden. Dafür war ihre Trennung von Staat und Kirche ausschlaggebend und ihre Weigerung, den Eid auf politische Obrigkeiten zu leisten. Da läuteten für die Fürsten die Alarmglocken.
DIE FURCHE: Sie haben ein Buch über die Hutterer verfasst, eine aktuelle Ausstellung mitorganisiert - was kann aus der Hutterer-Geschichte für das Heute gelernt werden?
SCHLACHTA: Mir geht es darum, auch diesen Aspekt von Tiroler Geschichte - also Folter, Hinrichtung, Vertreibung - sichtbar zu machen; und natürlich kann man sich auch fragen: Wer sind die heutigen Hutterer? Wie laufen heute Hinrichtungen ab, in den Medien, durch Diskriminierung ...?
DIE FURCHE: Was haben Sie von Ihren zahlreichen Besuchen bei den Hutterer-Höfen mitgenommen?
SCHLACHTA: Vor allem, dass man nicht aufgrund von einem Hof sagen kann: Das sind die Hutterer! Oft klammern sich Besucher auch an Missständen fest, die es da oder dort sicher gibt. Man darf die Hutterer nicht idealisieren, die haben ihre Ecken und Kanten. Die Hutterer sind kein Museum, sondern lebendige Menschen, die von ihrem Glauben bestimmt werden und deswegen herrscht einfach ein ganz anderes Leben dort.
"D'andern liab'n"
Patrick Murphy ist Hutterer geworden und lebt heute mit Ehefrau und zwei Kindern in der James Valley
Colony.
DIE FURCHE: Pat, was war Dein erster Eindruck von den Hutterern.
PAT MURPHY: Als ich vor mehr als 20 Jahren das erste Mal eine Colony besuchte, erschien mir das alles sehr seltsam - vor allem, weil mir die landwirtschaftliche Arbeit völlig fremd war. Es war für mich sicher ein Kulturschock ...
DIE FURCHE: ... den Du aber überwunden hast.
MURPHY: Ja, aber das hat bei mir viele Jahre gedauert - und das war auch gut so. lch glaube, viele, die in Hutterer-Gemeinden eintreten, aber bald wieder austreten, lassen sich zuwenig Zeit, um diesen Kulturschock zu überwinden.
DIE FURCHE: Was ist das Schockierende am Hutterer-Leben?
MURPHY: Die große Bedeutung der Gemeinschaft. Gott allein zu lieben ist zu wenig, es braucht auch die "Liab" zu den Brüdern und Schwestern in der Gemeinde.
DIE FURCHE: Und darüber hinaus? Wie siehst Du das Verhältnis der Hutterer zur Welt außerhalb der Gemeinden?
MURPHY: Da bin ich durchaus kritisch, weil ich ja auch von draußen komme. Für die Hutterer heute spielt Mission keine Rolle mehr und auch das Engagement der Hutterer für Hilfsbedürftige in der Welt ist gering. In der Zeit der ersten Hutterer war uns Mission sehr wichtig, da galt der Grundsatz: Wer nicht sammelt, der zerstreut. Ich meine, dass es besonders für unsere jungen Leute besser wäre, wenn wir mehr nach außen wirken würden.
DIE FURCHE: Warum speziell für die Jungen?
MURPHY: Unsere Kinder wachsen auf den Höfen auf und sehen: Das Leben hier, wie wir es leben, ist nur etwas für diejenigen, die hier geboren sind. Es geht uns sehr gut hier, und wir haben ein sicheres Auskommen - aber ist das im Sinne des Evangeliums, ist das die gute Nachricht?
DIE FURCHE: Welche Rolle spielt die deutsche Sprache für diese Absonderung von der Umgebung?
MURPHY: Dass wir auf deutschen Sprachinseln leben, ist ein Schutz für die hutterische Identität und Tradition. Doch das bringt auch Probleme mit sich: Es gibt heute Kolonien, in denen die jungen Hutterer kaum noch Deutsch verstehen. Wie können die geistig-religiös überleben, wenn sie keine geistige Nahrung mehr bekommen - und nur ein kultureller Hutterer zu sein, ist zuwenig.
Die Gespräche führte Wolfgang Machreich.
"Ein Leben nach dem Evangelium abschauen!"
Südtirols Bischof WlLHELM EGGER zur Versöhnung mit den Hutterern.
DIE FURCHE: Herr Bischof, warum engagieren Sie sich im Versöhnungsprozess mit den Hutterern?
BISCHOF WILHELM EGGER: Die Kontakte mit den Hutterern sind allmählich gewachsen. Den Anfang bildete eine Begegnung
mit einer Gruppe, die von Eberhard Arnold (1883-1935) gegründet wurde. Diese Gruppe beruft sich auf die Tradition von
Jakob Huter, sie wird aber zurzeit von den Hutterern nicht als hutterische Gemeinde anerkannt. Diese Gemeinschaft bemüht
sich um das ökumenische Gespräch.
Ich habe den Bruderhof in Maple Rigde/New York besucht. Dann haben sich auch die Kontakte mit den eigentlichen Hutterern
ergeben, und zwar weil sich eine Initiativgruppe gebildet hatte, um ein Versöhnungszeichen mit den Hutterern zu setzen. Seit
einigen Jahren wird aber auch im katholischen Religionsunterricht in unserer Diözese auf diese Glaubensgemeinschaft
hingewiesen und ein historisch zutreffendes Bild gegeben. Im Religionsbuch der 2. Klasse Mittelschule ist auch ein Foto mit
Hutterern abgebildet, die Südtirol 1989 besucht haben.
DIE FURCHE: Aber man könnte doch auch fragen: Was haben wir heute, was hat Tirol heute, was hat die Kirche heute noch mit dem zu tun, was vor knapp 500 Jahren geschehen ist?
EGGER: Wenn die Kirche - zu Recht, wie ich glaube - zu einer Berücksichtung der christlichen Wurzeln in Europa aufruft, gehört die Darstellung der Vergangenheit dazu. Die katholische Kirche scheint übrigens zu den wenigen Gemeinschaften zu gehören, die für ihre Vergangenheit geradestehen.
DiE FURCHE: Was war damals unsere Schuld? Dass wir uns unseres Glaubens so unsicher waren, dass wir ihn mit Gewalt durchsetzen mussten?
EGGER: Sicher ist es notwendig, ein ausgeglichenes Bild der Geschichte zu gewinnen. Es ging in dieser Frage damals wohl nicht nur um die Frage von Religion und Glaube, sondern es ging auch um ein politisches Konzept. Wegen dieses politischen Konzeptes haben z. B. Martin Luther und auch die protestantischen Landesfürsten die Wiedertäufer bis aufs Äußerste bekämpft. Dieser politisch-historische Kontext ist auch aufzuarbeiten.
DIE FURCHE: Können, sollen wir katholische Christen uns heute etwas vom Glaubensleben der hutterischen Gemeinden abschauen?
EGGER: Von den Hutterern können wir uns die Bedeutung einer auf dem Evangelium gründenden Lebensordnung abschauen - freilich auch unter Berücksichtigung der Zeit, der Bedeutung der Gemeinschaft und der Wichtigkeit des Gebetes.
Die Fragen stellte via E-Mail Wolfgang Machreich.