Weil unser Gewissen verpflichtet
Prof. Dr. Marc Ellis
Sendung "Logos. Theologie und Leben" vom Samstag, den 3. 7. 2004, 19 Uhr 30, Ö1

Marc Ellis: Ich setze mich für die Sache der Palästinenser ein, gegen ihr Leiden und für ihre Freiheit, genau deshalb, weil ich ein Jude bin. Ich glaube, Jude zu sein, heißt berufen zu sein, gerecht zu handeln. Wenn wir ungerecht handeln, handeln wir auch als Juden, weil das Judentum nicht rein ist, aber das muss korrigiert werden. Denn unsere ganze Geschichte ist eine Geschichte der Korrekturen.

Samuel Welber: Marc Ellis versucht, das Judentum zu seinen idealistischen und spirituellen Wurzeln zurückzuführen. Das hat mir geholfen, die Spiritualität auch im Judentum wertzuschätzen und aus dem heraus für den Frieden zu kämpfen.

Jüdische Stimmen im Kampf für einen gerechten Frieden in Nahost

Paula Abrams-Hourani: Ich bewundere Zivilcourage und Mut. Kritik, was Israel betrifft, ist irrsinnig schwer in Amerika. Man kann boykottiert werden, es wird - das muss man sagen - sehr viel Druck gemacht. Und ich glaube, gerade Juden, die diese Kritik aussprechen und vom Staat viel verlangen, erleben harte Sachen. Und er hat diesen Mut, und er hat in seinem Berufsleben sehr viel geopfert durch seine Haltung. Das bewundere ich sehr.

Juden und Palästinenser, "Voices for Peace", vereint durch die Musik. Das ist sowohl musikalische Gegenwart als auch politisch weit entfernte Zukunftsmusik. Sie hören einen Ausschnitt aus dem Friedensprojekt der österreichischen Sängerin Timna Brauer, eine jüdische Stimme für den Frieden, die in der beinharten Realität des politischen Alltags unterzugehen droht.
Eine andere bedeutende, aber noch kaum bekannte Stimme kommt aus der jüdischen Theologie. Sie heißt Marc Ellis. Der amerikanisch-jüdische Theologe Marc Ellis fordert Juden aus religiösen Gewissensgründen zum Kampf gegen die Unterdrückung und für die Gleichberechtigung der Palästinenser auf. Ellis ist Professor für amerikanische und jüdische Studien, an der Bailor University in den USA.
Innerhalb des Judentums vertritt er eine Position, die derzeit nicht nur nicht politisch einflussreich ist, sondern auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft von manchen der Nestbeschmutzung bezichtigt wird.
Ellis ist mit seiner Kritik zwar nicht allein auf weiter Flur, aber seine Position ist in ihrem Kern eine theologische (Deshalb stellen wir seine Stimme auch auf unsere Webseite www.religionen.at, unabhängig davon, ob wir nun damit einverstanden sind oder nicht; Anm. der Redaktion). Sie erinnert an die Wurzeln des Judentums überhaupt und ist gerade deshalb eine radikale Herausforderung für das Selbstverständnis vieler Juden in und außerhalb Israels.
Zu Logos begrüßt sie Johannes Kaup.
  
Der Jüdische Theologe Marc Ellis war kürzlich auf Einladung der Österreichgruppe "Jüdische Stimmen für einen Gerechteren Frieden in Nahost", der Friedensbewegung "Pax Christi" und dem katholischen Bildungswerk ins evangelische Albert- Schweizer-Haus eingeladen worden. Marc Ellis ist in Österreich noch fast unbekannt. Zu Unrecht, denn er hat eine jüdische Befreiungstheologie entwickelt, die ihresgleichen sucht. Er betrachtet es als seine Pflicht, die ethische Dimension des Judentums vor politischen Verirrungen zu retten. Dafür wurde der Autor von fünfzehn Büchern von Erzbischof Desmond Tutu, dem Sprachforscher Noam Chomsky und dem Literaturkritiker Edward Said gewürdigt.

Marc Ellis: Ich sehen nicht ein, warum manche denken, das die Palästinenser uns lieben sollten, wenn wir sie aus ihrem Land vertreiben. Wir haben sie abgeschoben, es gibt einen jüdischen Staat, nun muss es einen lebensfähigen palästinensischen Staat geben. Wenn man die Besatzung der palästinensischen Gebiete aufgibt, wird der Terror enden. Wenn wir vom Terrorismus sprechen, dann reden wir vom Terror der Schwachen. Was aber ist mit dem Terror der Starken? Wenn man Land stiehlt, Siedlungen errichtet, Mauern baut, politische Führer ermordet - auch das ist Terrorismus!

Wenn Marc Ellis von der Politik Israels als einer  Expansionspolitik spricht, vom neu errichteten Sicherheitszaun als der Appartheitsmauer, dann ist das keine billige Polemik. Marc Ellis kann sich dabei auf die kritische Tradition der Propheten der jüdischen Bibel berufen, die das Volk Israel in aller Schärfe an seinen Bund mit Gott erinnern, wenn er droht, verraten zu werden. Mit der Staatsgründung Israels habe ein Prozess der Militarisierung von jüdischer Identität begonnen, sagt Marc Ellis. Palästinenser wurden aus ihrem eigenen Land vertrieben und deportiert. Seid dem Sechstagekrieg von 1967 halten israelische Juden völkerrechtswidrig das Westjordanland und den Gazastreifen besetzt.
Über die zahlreichen UNO-Resolutionen, die zur Aufgabe der besetzten Gebiete verpflichten, hat sich der Staat Israel mehrfach hinweggesetzt. Nicht nur das, sagt Marc Ellis, durch die Intensivierung und Aufrechterhaltung der jüdischen Siedlungen in der Westbank mache Israel klar, dass es keinen lebensfähigen Palästinenserstaat wolle. Die Frage eines Friedens im nahen Osten sei nicht allen ein Problem von Israelis und Arabern, es sei auch ein Problem Europas und der USA. Europäer und US-Amerikaner tragen durch ihre geschichtlichen Verstrickungen und politischen Interessen viel Mitverantwortung. Doch es scheint, dass beide aus unterschiedlichen Gründen nicht genau hinsehen wollen, was wirklich derzeit passiert. Jüdische Identität in der Gegenwart sei vor allem durch zwei Quellen definiert, sagt Marc Ellis: durch den Holocaust und durch die Staatsgründung Israels. Die Frage ist nur, wie diese Identitätsquellen gedeutet werden.

Marc Ellis: Beide sind sehr wichtig, aber die Frage ist, was tut man mit dem Holocaust und was mit Israel. Wir haben so genannte konstantinische Juden wie Ariel Sharon und viele der jüdischen Führer in den USA auch in Deutschland und in Österreich. Auf der anderen Seite gibt es auf der ganzen Welt und auch in Israel Juden, die ihrem Gewissen verpflichtet sind. Die sagen Nein zur Erweiterung, Nein zu Besatzung und Unterdrückung. Dann gibt es noch viele dazwischen. Aber als Menschen müssen wir eine Wahl treffen, entweder konstantinische Juden zu sein, so wie es im Christentum den Konstantinismus gab, der sich der staatlichen Macht angepasst hat, um sich durchzusetzen, oder das Jüdische als das Prophetische. Juden, die dem Gewissen verpflichtet sind, die sich für eine wechselseitige Ermächtigung und Unterstützung von Juden, Palästinensern und Europäern einsetzen, so dass wir in Frieden leben können. Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit, das ist die Wahl, vor der wir stehen.

Samuel Welber ist ein seit einigen Jahren in Wien lebender Israeli. Welber ist Mitglied der "Jüdischen Stimme für einen Gerechten Frieden in Nahost". Von Israel habe Welber in seiner Kinder und Jugendzeit noch ein relativ unkritisches Bild vermittelt bekommen, sagt er.

Samuel Welber: Ich bin verärgert, weil ich in Israel geboren bin und die israelische Erziehung genossen habe, den Zionismus, den Nationalismus, wo ich als Kind auch alles geglaubt habe. Da war es so, das immer alle anderen Schuld waren. Wir, die Israelis, wollen Frieden, aber die Araber wollen das nicht, und wollen uns ins Meer schmeißen. Jeder, der dagegen spricht, ist sofort Antisemit, und alle Araber sind sowieso nicht gleichwertige Menschen. Israel, im Moment auch das Judentum, ist gefangen in so einer Falle der Arroganz.

Samuel Welber sieht im Gefolge von Marc Ellis die Ursachen der Probleme in Israel verbunden mit einer falschen Interpretation der jüdischen Religion. Die Bedeutung, ein auserwähltes Volk zu sein, werde miss - interpretiert. Nach Samuel Welber werde der Glaube verfälscht und gefährlich, wenn er mit einem Stück Land, dem Historischen Eretz Israel, so verkettet werde, wie das tatsächlich der Fall ist. Unter dem Vorwand der Sicherheitspolitik werde mehr oder weniger gezielte Vertreibung der Palästinenser betrieben. Niemand aber habe das Recht, Unrecht zu tun, auch nicht, wer selbst Unrecht erlitten hat, sagt Samuel Welber. Der ehemalige Soldat hat 1989 aus Protest gegen die Militärpolitik in den Palästinensergebieten das Land Richtung Österreich verlassen.

Samuel Welber: "Ich war Soldat, Reservesoldat in der ersten Intifada im Gazastreifen. Wir haben einfach nur gekämpft gegen Kinder und Frauen, die damals Steine geschmissen haben. Ich war vier Wochen in Raffa und Manunes . . ., patroulliert damals. Zwei Jeeps, sechs Soldaten, acht Stunden lang, und wir haben einfach Kinder gejagt. Die Palästinenser haben nur verloren, es sind damals 1500 gestorben in drei Jahren Intifada. Israelis nicht so viele, weil wir haben nur gegen Steine gekämpft. Ich habe das Land dann verlassen, ich wollte das nicht mehr ertragen, Soldat da zu sein. Und dann, als die zweite Intifada angefangen hat, dann habe ich die Frauen in Schwarz angefangen zu unterstützen und habe voriges Jahr auch die jüdische Gruppe mitbegründet, (Jüdische Stimmen) für einen Gerechten Frieden in Nahost.

Paula Abrams-Hourani ist eine aus den USA stammende Jüdin. Die ehemalige UNO-Angestellte ist mit einem Palästinenser verheiratet. Aus eigener Erfahrung kennt sie die verfahrene Lage der Palästinenser vor Ort. Sie hat aus diesem Grund die Solidaritätsgruppe "Frauen in Schwarz" ins Leben gerufen. Mit Mahnwachen und Schweigemärschen, öffentlichen Vorträgen und Diskussionen wollen die "Frauen in Schwarz" und die "Jüdische Stimme" Bewusstseinsarbeit leisten.

Paula Abrams-Hourani: Ich bin schockiert, ich bin sehr traurig und eigentlich wütend auch über die Besatzungspolitik von dem Staat Israel. Ich bin durch meine Ehe sehr oft in den besetzten Gebieten in den letzten Jahren gewesen, und ich weiß, was die Besatzung bedeutet für die Menschen. Jedes Stück Leben wird bestimmt von der israelischen Regierung. Die Bewegungsfreiheit, Überleben, Kinderverhaftungen, es sind sehr viele Sachen, die von dieser Besatzungspolitik betroffen sind. Ich kenne das aus erster Hand, und deswegen bin ich sehr traurig, weil ich - muss ich sagen - sehr chauvinistisch war, was mein eigenes Volk betrifft.

Für Paula Abrahms-Hourani ist das Judentum eine ethisch hochstehende Religion, die aber ihren Idealen nicht gerecht wird. Die religiös unterfütterte Politik Israels war ein wesentlicher Grund für sie, sich als jüdische Humanistin zu verstehen. Sie hält gesunde Kritik für wichtig für Israel. Die israelischen Friedensaktivisten hätten es nämlich derzeit sehr schwer, und sie wünschten sich sehr eine Unterstützung ihrer Position und auch Druck von außen, sprich aus Europa und den USA, sagt Paula Abrams-Hourani.

Paula Abrams-Hourani: Es werden jeden Tag zirka drei Menschen umgebracht, wo wir das wissen, Kinder werden verhaftet. Nablus, eine historische Stadt, die - kann man sagen - ein Weltkulturerbe ist, ist sehr zerstört worden, sie leidet unter monatelangen Belagerungen. Und es wird wirklich bewusst: Sharon will dieses Volk kaputt machen. Deswegen glaube ich, dass unsere Gruppe sehr wichtig ist, das wir nicht wegschauen.

Marc Ellis baut seine Befreiungstheologie auf Lehrern wie Richard Rubenstein, Rabbi Irvin Greenberg auf, aber auch Martin Buber und die Nichtjuden Mahatma Ghandi und Martin Luther King zählen zu seinem denkerischen Referenzkreis. In der jüdischen Geschichte und Religion spielt das Erwähltsein eine große Rolle. Aber Erwählung war religionsgeschichtlich immer mit bestimmten Verpflichtungen verbunden. Sie war nicht dazu gedacht, ein Überlegenheitsgefühl zu erzeugen, sagt Marc Ellis. Als Gott die Israeliten erwählte, waren sie nicht die triumphalistische Elite in der ägyptischen Gesellschaft, sondern im Gegenteil, sie waren die Niedrigsten, das Proletariat, würden wir heute sagen. Marc Ellis geht es nicht darum, das Erwählungsmotiv zu zerstören, aber er will es aufklärend reinigen. Er will die triumphalistischen Aspekte von Erwählung disziplinieren, die man übrigens in fast jeder Religion finden kann.

Marc Ellis: Ich bin ein Jude, der daran glaubt, dass in jeder Generation der Bund Gottes neu gesucht werden muss. Der Bund ist nicht nur an einem Ort, er gehört niemandem. Ich glaube, dass der Bund Gottes mit Ungerechtigkeit unvereinbar ist. Wir waren die ersten Adressaten dieses Bundes. Der Bund Gottes kennzeichnet mein Judentum. Dieser Bund ist jetzt nicht mit uns als Volk, wenn wir andere Menschen unterdrücken. Auch die Christen standen außerhalb des Bundes Gottes, als sie Juden verfolgten. Der Bund kann aber heute unter jenen Christen gefunden werden, die Gerechtigkeit praktizieren. Ich verstehe den Bund Gottes als etwas, das unterwegs ist. Das ist vielleicht eine mystische Sicht. Wenn Juden heute den Bund suchen, müssen sie ihn unter den Palästinensern suchen, denn die Palästinenser leiden unter der Ungerechtigkeit, die Juden an ihnen verüben. Aus meiner Perspektive heißt das: Die einzige Möglichkeit, heute jüdisch zu sein, heißt in Solidarität mit den Palästinensern zu leben. Gott scheint bei den Unterdrückten, bei den Außenseitern, den Marginalisierten zu sein. So steht es auch in der hebräischen Bibel. Jesus hebt das hervor. Jesus ist ein Jude gewesen. Es gibt also von Anbeginn eine Erwählung, eine Option Gottes für die Armen, Unterdrückten und Marginalisierten. Deshalb sprechen die Propheten von den Außenseitern, den Armen, den Witwen und Waisen als eine Herausforderung für die Gesellschaft. Sie sagen: Bring keine Opfergaben vor Gott, wenn du unterdrückst, geh nicht in den Tempel, wenn du andere unterdrückst. Du hast dich sonst außerhalb des Bundes Gottes gestellt. Das ist ein altes jüdisches Paradigma. Ich versuche heute, diese Tradition des Prophetischen und des Bundesdenkens in unsere Zeit zu übersetzen, nämlich die Ausgestoßenen wieder hereinzuholen.

Juden und Araber haben vor der Gründung des Staates Israel in Palästina friedlich zusammengelebt. Das gilt auch für Juden in moslemischen Ländern in der Diaspora. Marc Ellis ist der Überzeugung, dass das auch nach der israelischen Staatsgründung möglich wäre. Das habe aber zur Voraussetzung, dass sich Israel aus den besetzten Gebieten bedingungslos vor die Grenzen von 1967 zurückziehe. Israel müsste weiters zugegen, dass das, was den Palästinensern zugefügt wurde, falsch war, und Israel müsste mit den Palästinensern vereinbaren, in Gleichheit und Gerechtigkeit neu zusammenzuleben. Die Palästinenser hätten ihre eigene Identität und sagten zu Recht, dass sie genauso wichtig wären wie die Juden, betont Marc Ellis.

Marc Ellis: Wir sollten aus der Geschichte der Holocaust eines gelernt haben: Kein Mensch darf in einer Weise behandelt werden, die auch nur im Entferntesten an den Holocaust erinnert. Nun ist es aber eine Tatsache, dass Ghettos geschaffen werden von Juden in Israel. Und das jüdische Establishment schweigt dazu. Das ist eine Tatsache. Ich sage dazu: Wir als Juden müssten doch wissen, wie es war, in Ghettos zu leben. Also baut keine Ghettos!

Gerade die jüdische Geschichte der Diaspora, der Exilierung, der Marginalisierung und Verfolgung, die im Holocaust gipfelt, sei eine immer bleibende Mahnung, meint Marc Ellis. Die Geschichte des Holocausts müsste Israel moralisch dazu verpflichten, sich gegnüber den Palästinensern anders zu verhalten als bisher.

Marc Ellis: Der Holocaust kann zwei Reaktionen auslösen: Niemals darf das an Juden wieder geschehen, wir tun, was wir wollen, niemand schreibt uns etwas vor. Diese Haltung dominiert jetzt. Der andere Weg wäre: Niemals mehr gegen Juden, aber niemals mehr auch gegen jedes andere Volk auf dieser Erde. Wir sind verantwortlich dafür, wie alle anderen dafür verantwortlich sind. Es braucht eine neue gemeinsame Verantwortung. Die Macht benützt für gewöhnlich das Leiden dazu, um vorzugeben, dass sie nicht nur im Leiden unschuldig ist, sondern auch dann, wenn sie selbst Macht ausübt. Der Prophet hat im Judentum immer die Mächtigen kritisiert, wenn sie ihre Hände in Unschuld waschen wollten. Israel und Juden generell sagen: Wir waren unschuldig Leidende und sind jetzt unschuldig Macht Ausübende, und jeder, der etwas anderes behauptet, ist entweder ein sich selbst hassender Jude oder ein Antisemit. Und so läuft der ganze Diskurs. Wenn irgendjemand Israels Politik kritisiert, wird er als antijüdisch gebrandmarkt. Die meisten Menschen - Juden wie Nichtjuden - sind der Meinung, der Holocaust kann nicht dazu missbraucht werden, wirtschaftliche und militärische Expansionspolitik, Kampfhubschrauberangriffe und die neue Ghetto-Mauer zu rechtfertigen. Die Menschen haben es satt, vom Holocaust zu hören, wenn Israel mit Unterstützung jüdischer Führer so handelt. Als ich in Wien sprach, fand zur selben Zeit in Berlin eine große Antisemitismus-Konferenz statt. Aber das ist nicht unser größtes Problem. Das eigentliche Thema für Juden lautet: Was tun wir gegen die Palästinenser heute? Und wie können wir das stoppen? Ich muss sagen, der Holocaust ist auch für mich und die Geschichte meiner Familie sehr wichtig, aber Juden, die über den Holocaust sprechen, sich aber weigern, über die Palästinenser zu sprechen, denen muss gesagt werden: Das ist Doppelmoral und Heuchelei. Nein, so geht das nicht mehr.

Über 7000 Kritiker der israelischen Politik werden auf einer in den USA geführten sogenannten "shit"-Liste aufgeführt. "Shit list" ist eine Abkürzung für "Self Hating and Israel Threatening" Jews. Darunter finden sich bekannte Namen wie Michael Lerner, Woody Allen, George Soros, Adam Shapiro, Richard Dreyfus, Amos Oz, Amira Haas, Simon Peres, Arts Biederman, Uri Abneri, Paula Abrahms-Hourani und natürlich auch der jüdische Befreiungstheologe Marc Ellis. Viele davon werden mit Fotos abgebildet, im Begleittext verunglimpft und als pro-arabische Juden verleumdet. Auch Samuel Welber zählt zu jenen Juden, die sich durch die Stimme ihres Gewissens zu Kritik gezwungen sehen und innerhalb der jüdischen Gemeinde nicht selten auf Ablehnung stoßen. Welber möchte aber in Zukunft ein Israel sehen, dass den Palästinensern wie den Juden gleiche Rechte und Lebenschancen unterschiedslos einräumt. Anders sei kein dauerhafter Friede möglich, sagt Samuel Welber.

Samuel Welber: Auf jeden Fall muss sich Israel entschuldigen, denke ich, und die Verantwortung übernehmen für 1948, und wirkliche Wege finden, das wiedergutzumachen, genau wie es die Deutschen und die Österreicher für ihre Untaten gemacht haben. Und eine Mauer kann man auch wegsprengen.

Für Marc Ellis heißt Jude zu sein zur Befreiung gerufen zu sein. Das aber gelte nicht nur für die eigene Religion und Gruppe, sondern für alle, die unterdrückt und marginalisiert werden. Dieses Denken aber steht selber noch am Rande. Wird es einmal wieder die Mitte des Glaubens bilden?

Marc Ellis: Der einzige Weg, wie der Bund Gottes praktiziert wird, ist das Tun der Gerechtigkeit, indem wir bei denen sind, die ausgegrenzt werden. Das ist nicht nur eine Frage Gottes. Gott gibt uns in der Geschichte diesen Bund, der dann nicht nur von ihm abhängt, sondern von uns. Der Weg, wie Juden zu Gott gelangen, führt nur über diesen Bund. Wenn du erwählt bist, dann handle danach. Wenn du nicht danach handelst, rede nicht über die Erwählung. Das ist das älteste und ursprüngliche Verständnis des israelitischen und jüdischen Lebens.

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Weil unser Gewissen verpflichtet.
Der jüdische Befreiungstheologe Marc Ellis und der Kampf für einen gerechten Frieden in Nahost.
Die Übersetzungen las Alois Vageiner, Technik Wilhelm Slowak.
Die Musik stammte heute von Juden, Palästinensern und Christen: Voices for Peace, initiiert von Timna Brauer.
Eine Literaturliste sowie Kontaktadressen von Marc Ellis erhalten sie über 50170371 oder per E-Mail unter oe1.service@orf.at. Kassetten der Sendung sind über das Audio-Service bestellbar unter den Nummer 50170374 oder audioservice@orf.at.

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