DER STANDARD 28. 11. 2008
18:29

"Man sollte nie normal werden"
Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg bleibt trotz Krise optimistisch. Wie das mit seiner kleinen Verrücktheit zusammenhängt, erklärt er im STANDARD-Interview.
Warum er keinen Rechtsruck im Lande sieht und Heavy Metal nicht so mag, setzte der Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Renate Graber auseinander.

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PAUL CHAIM EISENBERG: Sie wollen anders fragen? Ich werde anders antworten.

DER STANDARD: Passt. Ich will Ihnen beim Nachdenken zuhören. Nobelpreisträger Paul Krugman schreibt zum Kampf gegen die Krise: "In diesen außergewöhnlichen Zeiten wird Tugend zum Laster, Besonnenheit zur Verrücktheit." Kann das sein?

PAUL CHAIM EISENBERG: Alles kann zu weit getrieben werden, auch Tugend und Besonnenheit. Aber an sich ist Tugend etwas Gutes, Besonnenheit sicher keine Verrücktheit. Aber verrückt heißt ja nur ein bisschen weggeschoben von der Mitte. Ein bisschen verrückt bin ich auch, sollten wir alle sein. Wer nur normal ist, ist wahrscheinlich verrückt.

DER STANDARD: Wie verrückt sind Sie?

PAUL CHAIM EISENBERG: Natürlich nicht psychisch verrückt, aber manchmal optimistischer, als es die Situation erwarten ließe oder erfordert. Ich finde diese Norm, alle müssten gleich sein, schrecklich. Als Rabbiner kann ich nur den Talmud zitieren: So wie die Gesichter der Menschen verschieden sind, so sind auch die Ansichten verschieden. Diese Pluralität erlaube ich mir als besser hinzustellen als diese monotonen, einfärbigen Ansichten.

DER STANDARD: Jetzt, da es allen schlechter geht, wird plötzlich über Moral und Ethik im Kapitalismus nachgedacht. Etwas spät, wie mir scheint?

PAUL CHAIM EISENBERG: Ich sage Ihnen, was in den Sprüchen der Väter, der Mishna, dazu geschrieben steht. Wer ist reich? Reich ist der, der zufrieden ist, mit dem, was er hat. Es wird nicht in Dollar oder Euro gerechnet, es geht um eine andere Begrifflichkeit. Im Talmud steht auch, wer hundert hat, möchte zweihundert haben, und wer 1000 hat, möchte 2000 haben und daher sind die Millionäre die Ärmsten, denn wer eine Million hat, dem fehlt eine Million.

DER STANDARD: Wie sieht Optimist Eisenberg die Zukunft? Sind die Sorgen in Ihrer Gemeinde sehr groß?

PAUL CHAIM EISENBERG: Für mich persönlich war das kein Problem, ich war schon vorher pleite ...

DER STANDARD: Aber reich, im Sinne des Talmud ...

PAUL CHAIM EISENBERG: Ja: Ich bin zufrieden.

DER STANDARD: Wie viel verdient eigentlich ein Oberrabbiner?

PAUL CHAIM EISENBERG: Zu wenig. Im Ernst: Nicht schlecht, aber ich habe sechs Kinder und zehn Enkelkinder. Doch ich will die Wirtschaftskrise nicht hinunterspielen, sie ist ein großes Problem. Die, die gezockt haben, reißen viele andere mit, einfache, kleine Bürger, die fleißig gespart haben. Das ist das Traurige daran.

DER STANDARD: Man konnte doch ahnen, dass der große Wohlstand irgendwann zu Ende geht. Angeblich währt ja nichts ewig.

PAUL CHAIM EISENBERG: Ich will das nicht auf Geld und Wohlstand beschränken: Ein Mensch muss flexibel sein. Man muss immer auf der Hut sein, darf nie glauben, alles bleibe gleich, geistige Flexibilität gehört dazu. Wir wissen das, aber wir halten uns nicht daran. In dieser Krise spielen Psychologie und Angst eine große Rolle, Rabbi Nachman von Braclaw sagte so: Die ganze Welt ist eine schmale Brücke, man darf nur keine Angst haben, drüberzugehen. Aber viel mehr, als dass die Staaten eingreifen und Unternehmen retten, kann man wohl nicht machen.

DER STANDARD: Viele reden jetzt von Gier ...

PAUL CHAIM EISENBERG: ... und wir reden jetzt schon zu viel von Geld.

DER STANDARD: Gier hat nicht nur mit Geld zu tun ...

PAUL CHAIM EISENBERG: Ja, also Menschen haben gern etwas, stimmt schon, Kleider, Urlaub, Auto. Böse wird das auch nur dann, wenn das, was man will, wem anderen gehört, oder wenn man sich etwas ausborgt, obwohl man weiß, dass man es nicht zurückzahlen kann. Das hat sich nun aber in der ganzen Welt addiert, aus dem Flügelschlagen des Schmetterlings wurde ein Sturm.

DER STANDARD: Sie sind ja auch Seelsorger. Bevor Sie Ihr Rabbinatsstudium machten, hatten Sie in Wien Mathematik und Statistik zu studieren begonnen. Was wären Sie geworden?

PAUL CHAIM EISENBERG: Hätte ich Statistik fertigstudiert, wäre ich einer der besten Computerexperten Österreichs geworden. Plötzlich interessierte mich das nicht mehr: zu viele Zahlen, zu wenig Menschen.

DER STANDARD: Jetzt sind Sie seit 25 Jahren Oberrabbiner, Nachfolger Ihres Vaters. Außerhalb der Gemeinde kennen Sie viele wegen Ihrer Kantoren- und Klezmer-Konzerte: Gehört gar nicht zur Job-Description.

PAUL CHAIM EISENBERG: Ich liebe Musik. Mein Vater hat mir schon kantorale Stücke vorgespielt, da war ich noch ein kleiner Bub.

DER STANDARD: Wie ist es mit, sagen wir, Jazz? Beim Lichtermeer 1993 haben Sie mit Jazz-Gitti gesungen.

PAUL CHAIM EISENBERG: Jazz-Fan bin ich keiner. Aber Beatles, Simon & Garfunkel mochte ich gern. Ich mag es sanfter, Heavy Metal ist nicht so meines. Aber: Es ist Musik.

DER STANDARD: Sie gelten als liberal, sind gegen alles Extreme und Befürworter dieser unserer großen Koalition. Die hohen Stimmengewinne des dritten Lagers halten Sie nicht für gefährlich, warum nicht?

PAUL CHAIM EISENBERG: Das war nicht ausschließlich ein Rechtsruck, da war viel Protest gegen die Koalition dabei. Ich bin nicht bereit, diese 30 Prozent als rechtsextrem zu bezeichnen. Ich bin übrigens auch kein Anhänger der letzten Koalition, weil da nur gestritten wurde, das war gar keine große Koalition.

DER STANDARD: Was dann?

PAUL CHAIM EISENBERG: Eine große Tragödie. Ein Ehestreit. Trotzdem: Die Österreicher befinden sich in der Mitte, und wenn die neue Koalition etwas leistet, ist das die beste Regierungsform. Dabei gilt, was bei einer Ehe gilt: Man kann sich nicht alles im Vorhinein ausmachen, und beide müssen etwas nachlassen.

DER STANDARD: Die Österreicher könnten ihre Proteststimmen auch den Liberalen oder Grünen geben.

PAUL CHAIM EISENBERG: Das ist die andere Frage. Eigentlich tarnen sich unsere Rechten, bis auf Ausländerfeindlichkeit im Wahlkampf, sehr gut. Sie marschieren nicht mit Skinheads durch die Straßen, kommen meist total gesittet über die Medien. Darum wählen sie die Leute. Wenn die neue Koalition ordentlich arbeitet, könnte der Stimmenstrom zum dritten Lager abreißen. Wobei ich ja nicht verstehe, dass man 16-Jährige wählen, aber nicht Autos lenken lässt. Ich habe nichts gegen junge Leute, im Gegenteil. Bin ja selbst sehr jung: Sehen Sie, das ist meine Verrücktheit. Meine Frau sagt, ich sei noch nicht erwachsen.

DER STANDARD: Wann ist man erwachsen?

PAUL CHAIM EISENBERG: Wenn man normal ist. Und man sollte nie normal werden.

DER STANDARD: Apropos: Sie sind einer der wenigen Rapidler der IKG.

PAUL CHAIM EISENBERG: Ich. War. Rapid-Fan. Jetzt interessiert mich Fußball nicht mehr so. Ich bin sehr traurig über das Fußball-Niveau: Unlängst haben wir 4:2 gegen die Türkei verloren. In Wien noch dazu.

DER STANDARD: Ihre Auftritte sind, im nicht religiösen Sinne, oft unorthodox. Sie erklären im Fernsehen das Wesen von koscherem Sex, diese Konzerteinladung nennt Sie "geborenen Entertainer", sie waren Gast bei Phettbergs "Nette Leit Show". Der Oberrabbiner: ein Unterhalter?

PAUL CHAIM EISENBERG: Man hatte mir von der Show abgeraten, das schicke sich nicht für einen Oberrabbiner. Aber es war gut, ich habe gewonnen.

DER STANDARD: Beim Dosenschießen haben Sie aber nichts getroffen.

PAUL CHAIM EISENBERG: Ja, aber beim Plaudern mit ihm habe ich die Punkte gemacht. Er hat einen Witz erzählt, aber nur den halben. Ich habe das Ende erzählt, und das war nicht ausgemacht. Und wegen des Entertainers: Schauen Sie, ich bin ein orthodoxer Rabbiner. Als solcher halte ich die Gebote und nehme ernst, was in Bibel und Talmud steht. Gleichzeitig habe ich eine ausgeprägte Abneigung gegen Fundamentalismus. Ich setze diesem tierischen Ernst derer, die glauben, sie wüssten genau, wo es langgeht, lieber ein Lächeln entgegen und Humor: nicht um des Humors willen, sondern um die Möglichkeit zu einem Kompromiss einzuräumen. Das ist das Wienerische an mir.

DER STANDARD: Sie nennen die Österreicher "Kompromissler". Euphemismus? Die Grenze zur Feigheit ist doch eine äußerst dünne Linie.

PAUL CHAIM EISENBERG: Was mir dazu einfällt, ist schmerzhaft, und ich meine es nicht verallgemeinernd: Die Österreicher mussten von den Nazis den Antisemitismus nicht lernen. In dem Moment, in dem er von oben gutgeheißen wurde, war kein Grund mehr für die Feigheit von vorher, sich's mit jemandem zu verscherzen, und der Antisemitismus wurde ausgelebt.

DER STANDARD: Man sieht auch heute viele Kompromisse, kaum Courage.

PAUL CHAIM EISENBERG: Es lohnt sich nicht, um alles zu streiten; ums Grundsätzliche aber schon. Auch da muss man abwägen: Nicht jeder ist ein Held.

DER STANDARD: Im Parlament auch nicht. Die Wahl Grafs ins Präsidium: Kompromisslertum?

PAUL CHAIM EISENBERG: Es ist schade, manche Leute glauben, dass alles geht. Man hat die FPÖ in den Verfassungsbogen aufgenommen, die FPÖ will zeigen, dass sie von A bis Z normal ist. Ich glaube, dass sie das nur von A bis F ist, ab G nicht mehr.

DER STANDARD: Es hat auch wenig aufgeregt, dass Asylwerber in Kärnten auf die Alm verfrachtet werden.

PAUL CHAIM EISENBERG: Ja, womit wir bei H wären. Wobei man Jörg Haiders Politik differenzieren muss. Er hatte auch viele normale, gar nicht so schlechte Ideen. FPÖ bzw. späteres BZÖ waren in manchen ihrer Angebote, etwa beim Geldausgeben für Familien, sozialistischer als die Sozialisten. Also, für mich ist Haider eine tragische Gestalt. Ein Haider, der aus der FPÖ austritt? Das ist wie ein Oberrabbiner, der aus der Kultusgemeinde austritt. Haider hätte sich durchsetzen müssen. Davor ist es ihm zehn Jahre lang gelungen, dass seine Gegner aus der FPÖ rausflogen. Haider wurde damals zum Verlierer - bis er kurz vor seinem Tod wiederkam.

DER STANDARD: Die jüdische Religion ist ja viel Diesseits-bezogener als die christliche ...

PAUL CHAIM EISENBERG: ... kann man sehr sagen ...

DER STANDARD: ... macht das das Leben leichter oder schwieriger?

PAUL CHAIM EISENBERG: Wir sehen das Leben nicht nur als virtuelle Veranstaltung und vertrösten uns nicht aufs Nachher. Wir leben aktiver im Hier und Jetzt.

DER STANDARD: Worum geht's im Leben?

PAUL CHAIM EISENBERG: Weiß ich nicht. Nein, stimmt nicht: Darum, sich selbst und andere glücklich zu machen.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe,29./30.11.2008)
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Zur Person
Der Wiener Paul Chaim Eisenberg (58) ist seit 25 Jahren Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde, religiöses Oberhaupt der Juden in Österreich. Zuvor war das sein (1948 aus Ungarn zugewanderter) Vater. Er studierte Mathematik und Statistik, stieg auf ein Rabbinatsstudium um. Der Orthodoxe mit liberaler Weltanschauung ist begnadeter Anekdotenerzähler, gibt oft Konzerte. Er ist mit einer Amerikanerin verheiratet; die vier Töchter und zwei Söhne leben im Ausland.