EINE VISION EINER RELIGION

Die biblischen Wörter "Vision" und "Prophezeiung" stellen uns vor Geheimnis und Herausforderung. Was meint ihr zum neulichen Auftauchen dieser Wörter unter Freunden (Quäkern)? Das Dreijahrestreffen 2004 von FWCC (Friends World Comittee for Consultation, die Dachorganisation der Quäker) suchte "eine neue Vision für FWCC." Das Jahrestreffen 2006 von EMES (European and Middle East Section of FWCC) hatte zum Thema "Ohne Vision geht das Volk zugrunde" (Sprüche 29:18), wo in manchen Übersetzungen statt "Vision" "Prophezeiung" steht. Das Dreijahrestreffen 2007 von FWCC nahm als Thema oder Motto "Die prophetische Stimme für unsere Zeit finden."

Vieles wäre über die beiden Wörter zu sagen und über deren frühere oder spätere Inhalte. In jüngerer Zeit scheinen sie in enger Beziehung zu stehen mit dem Wort "Sinn." Wie der Psychiater Viktor Frankl ausführte, ist menschliches Leben wesentlich durch Sinn getragen.

Ist es nicht bemerkenswert, wie die beiden Wörter unter Freunden erschienen sind - und auch wieder verschwunden sind, ohne deutlichen Inhalt! Wie sollen wir das verstehen? Das Erscheinen und seine beiden Wörter stehen für etwas anderes, darin Verborgenes, scheint mir, sie weisen auf etwas nicht leicht ins Auge zu Fassendes, ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Freunde leiden an einem bedrückenden Gefühl von Unzulänglichkeit und Verzweiflung, (1) dass wir nicht imstande gewesen sind, zur Rettung der Welt mehr zu tun, (2) dass unsere Reihen kaum zunehmen, und (3) dass wir weniger religiös sein könnten als frühere Freunde. Lasst mich hinzufügen, dass ich die letzte dieser Besorgnisse für unberechtigt halte.

Ich würde gern eine neue Vision der Quäker sehen. Die Zukunft der Religion in der Welt, die Zukunft der Welt durch Religion, das könnte eine Vision der Quäker werden. Eine Welt, die vor unsern Augen in Ausbeutung, Gewalt und Mord vergeht, ist nach Führung und Schutz durch Religion bedürftig, nämlich im Sinne, in der Bedeutung von Religion als Bekräftigung und Praxis von Verbundenheit. Religion in dieser Bedeutung hat im Verborgenen überdauert, als menschliche Basis, jedoch innerhalb der Kirchen eher am Rande. Religion in dieser Bedeutung ist grundlegender als Menschenrechte und wird missverstanden, wenn man ihr nachsagt, sie müsse durch "Toleranz" ergänzt werden. Ist euch irgendeine Einsicht davon in den öffentlichen Diskussionen über Religion in Europa oder in den USA aufgefallen? Viele Kirchen haben sich als separat definiert, nicht als verbunden; als ausschließend statt als einschließend. Terroristische Kirchen christlicher oder islamischer Spielart haben Religion nahezu unzumutbar gemacht.

Soll die Welt Religion gewinnen, so scheint es nötig, einen Kern von Religion zu bestimmen, der universell akzeptiert werden könnte. (Die "Ethiken", die von einigen christlichen Theologen oder vom Dalai Lama vorgestellt wurden, erscheinen in diesem Zusammenhang als Alternativen, die nicht tief genug greifen.) Die Entwicklung eines solchen Kerns der Religion bedürfte eines Prozesses von Dialog. Wenn solch ein dialogischer Prozess unter Freunden entstehen und zu einer Übereinkunft über so einen Kern der Religion führen könnte, mit Aussicht auf allgemeine Annehmbarkeit, so wäre den Freunden gedient und schließlich auch der Welt.

Was einem solchen Vorschlag, einer solchen Vision entgegensteht, wäre, dass Rufe nach allgemeiner oder universeller Religion nicht neu sind und immer erfolglos geblieben sind. Nicolaus von Cues, William Penn und G. E. Lessing erhoben solche Rufe, fanden aber kein Gefolge. Man könnte sagen, dass menschliche Gewohnheit oder Hamlets Verharren bei den bekannten Übeln dagegen stehen. Andrerseits macht die moderne Zerstörungskraft die Sache dringlicher, und moderne Informationstechnologie macht sie durchführbarer. Im Kern der Religion liegt, was ich den religiösen Impuls nennen möchte, nämlich der allgemeine und universelle gute Wille, den Menschen einander entgegenbringen, insofern sie sich nicht als Opfer wahrnehmen. Verstehen und Anerkennung für die an ihrer Opferschaft Leidenden sind unverzichtbare Bedingungen für Abrüstung. Es scheint, dass die Freunde seit je wesentlich religiös gewesen sind. Wie William Penn einsah (Fruits of Solitude, 519): "Die Anspruchslosen, Friedfertigen, Barmherzigen, Gerechten, Frommen und Ergebenen sind überall einer Religion."

Ewald Eichler

(Original in Englisch: http://emes.quaker.eu.org/documents/files/among-friends-104.pdf)

 

UP

HOME