Die Zionistische Revolution ist tot
Ein früherer Knesset-Sprecher über israelische Illusionen
von Avraham Burg
Yediot Aharonot / ZNet 03.09.2003
Die Zionistische Revolution stützte sich von jeher auf zwei Pfeiler: auf den
gerechten Weg und eine ethische Führung. Nun funktioniert beides nicht mehr.
Heutzutage stützt sich die israelische Nation auf ein Gerüst der Korruption
und auf ein Fundament der Ungerechtigkeit und Unterdrückung. So gesehen steht
das Ende des Zionistischen Projekt bereits vor der Tür. Gut möglich, dass wir
die letzte Zionistische Generation sind. Vielleicht gibt es dann noch einen jüdischen
Staat hier - aber er wird anders sein, fremdartig und hässlich. Noch ist Zeit,
das Ruder rumzureißen - aber nicht mehr lange. Was wir brauchen, ist eine neue
Vision - die Vision einer gerechten Gesellschaft und den politischen Willen, sie
auch umzusetzen. Und es ist keine rein inner-israelische Angelegenheit. Auch
Juden der Diaspora - für die Israel zentraler Pfeiler ihrer Identität ist -, müssen
sich der Sache annehmen und den Mund aufmachen. Denn, wenn der Stützpfeiler
kollabiert, fallen auch die oberen Stockwerke in sich zusammen. Eine Opposition
existiert nicht, und die Koalition, unter Führung Arik Scharons, nimmt für
sich das Schweigerecht in Anspruch. In einer redesüchtigen Nation sind plötzlich
alle verstummt, offensichtlich ist alles gesagt. Wir leben in einer gewaltigen
(aber) gescheiterten Realität. Ja, wir haben die hebräische Sprache zu neuem
Leben erweckt, wir haben ein tolles Theater und eine starke Nationalwährung
geschaffen. Unser jüdischer Verstand arbeitet schärfer denn je. Wir sind sogar
Nasdaq-gehandelt. Aber haben wir deshalb einen Staat gegründet? Das jüdische
Volk hat nicht zwei Jahrtausende überlebt, um zum Waffenpionier zu werden, zum
Pionier von Computersicherheitsprogrammen u. Anti-Raketen-Raketen. Wir sollten
das Licht der Nationen sein - aber damit sind wir gescheitert. Scheint so, als münde
der 2000-jährige Kampf für das jüdische Überleben in einen Staat der
Siedlungen, der von einer unmoralischen Clique korrupter Gesetzesbrecher regiert
wird - taub sowohl gegenüber den Feinden als auch gegenüber den eigenen Bürgern.
Ein Staat, in dem es an Gerechtigkeit fehlt, kann nicht überleben. Mehr und
mehr Israelis begreifen das, wenn sie ihre Kinder fragen, wo sie in 25 Jahren
leben werden. Sind die Kinder ehrlich, sagen sie, sehr zum Schock der Eltern,
sie wüssten es nicht. Der Countdown läuft - der Countdown zum Ende der
israelischen Gesellschaft.
Es ist sehr angenehm, Zionist zu sein und in einer Westbank-Siedlung wie Beit El
oder Ofra zu leben. Die biblische Landschaft ist bezaubernd. Durch das Fenster
sieht man auf die Geranien und die Bougainvillea (Kletterstrauch) und kann die
Okkupation ignorieren. Jemand der auf der rasanten Schnellstraße von Ramot (am
nördlichen Rand Jerusalems) nach Gilo (südlicher Rand Jerusalems) fährt - ein
12-Minuten-Trip, keine halbe Meile westlich der Straßenblockaden für Palästinenser
- der wird kaum begreifen, welche demütigende Erfahrung einer dieser verhassten
Araber macht, wenn er (im Auto) stundenlang über blockierte, pockennarbige Straßen
kriecht - auf Straßen, die ihm zugewiesen sind. Es gibt Straßen für Besatzer
und Straßen für Besatzte. Aber das kann nicht funktionieren - nicht einmal,
wenn die Araber sich ducken und Wut und Schande für immer schlucken. Es
funktioniert nicht. Eine Struktur, die auf menschliche Gleichgültigkeit
aufgebaut ist, wird unverweigerlich in sich zusammenbrechen. Merkt euch diesen
entscheidenden Moment gut: die Überstruktur des Zionismus ist schon am
Kollabieren - sie fällt in sich zusammen wie ein billiger Jerusalemer
Hochzeitssaal. Und nur Verrückte tanzen im Obergeschoss weiter, während unten
die Pfeiler zusammenstürzen. Wir haben uns daran gewöhnt, das Leid der Frauen
an den Straßensperren zu ignorieren. Wundern wir uns also nicht, dass wir auch
die Schreie der misshandelten Frau in unserer Nachbarschaft überhören oder den
Kampf der alleinstehenden Mutter, die versucht, ihre Kinder mit Würde großzuziehen.
Wir machen uns ja noch nicht mal die Mühe, all die Frauen zu zählen, die von
ihren Ehemännern ermordet werden. Israel interessiert sich nicht mehr für die
Kinder der Palästinenser. Es sollte sich also nicht wundern, wenn sie von Hass
durchdrungen zu uns kommen und sich in den Zentren des israelischen Eskapismus
in die Luft sprengen. Sie geben sich an den Orten unserer Rekreation in Allahs
Hand, denn ihr eigenes Leben ist eine Qual. In unseren Restaurants vergießen
sie ihr Blut, um uns den Appetit zu verderben. Ihre Eltern und Kinder zu Hause
sind hungrig und entwürdigt. Wir könnten jeden Tag tausende Rädelsführer und
Ingenieure töten, ohne dass sich etwas ändert. Denn die Führung wächst von
unten herauf - aus den Quellen der Wut und des Hasses, der “Infrastruktur”
der Ungerechtigkeit und der moralischen Korruptheit. Ich würde schweigen, wäre
dies alles wirklich unausweichlich, gottgewollt u. unabänderlich. Aber es ginge
auch anders. Der Aufschrei wird zum moralischen Imperativ. Diese Worte sollte
der (israelische) Premierminister an sein Volk richten:
Die Zeit der Illusionen ist vorbei. Jetzt ist Zeit für Entschlüsse. Natürlich
lieben wir das ganze Land unserer Vorväter. Und in einer anderen Zeit würden
wir es vorziehen, allein darin zu leben. Aber das wird nun einmal nicht
geschehen. Auch die Araber haben Träume und Bedürfnisse. Zwischen Jordan und
Mittelmeer existiert keine klare jüdische Mehrheit mehr. Daher, meine Mitbürger,
können wir nicht alles für uns behalten - oder wir müssen den Preis zahlen.
Wir können die palästinensische Mehrheit nicht unter dem israelischen Stiefel
halten und gleichzeitig glauben, wir seien die einzige Demokratie im Nahen
Osten. Es gibt keine Demokratie ohne gleiche Rechte für alle Menschen, die hier
leben - Araber wie Juden. Wir können nicht die Territorien behalten und
gleichzeitig unsere jüdische Mehrheit behalten - im einzigen Staat, den die
Juden auf der Welt haben -, nicht, wenn wir menschliche Mittel einsetzen,
moralische Mittel, jüdische Mittel. Oder wollt ihr Großisrael? Kein Problem,
dann muss die Demokratie weg und wir institutionalisieren ein effizientes
Rassentrennungs-System - mit Gefängnislagern und Gefängnisdörfern:
Qalqilya-Getto, Dschenin-Gulag. Ihr wollt eine jüdische Mehrheit? Auch kein
Problem. Dann steckt die Araber in Züge, Busse, setzt sie von mir aus auf
Kamele und Esel und schmeißt sie massenhaft raus. Oder - wir separieren uns
konsequent von ihnen und zwar ohne Tricks und Kniffe. Es gibt keinen Mittelweg.
Wir müssen alle Siedlungen auflösen - alle. Es muss eine international
anerkannte Grenze gezogen werden zwischen dem israelischen Nationalstaat und
einem palästinensischen Nationalstaat. Das jüdische Rückkehrrecht gilt dann
nur noch innerhalb unseres nationalen Gebildes und das palästinensische nur
innerhalb der Grenzen des (künftigen) Palästinenserstaats. Ihr wollt
Demokratie? Kein Problem. Entweder, ihr gebt die Idee von Großisrael auf - und
zwar bis zum letzten Außenposten, bis zur letzten (jüdischen) Siedlung - oder
ihr gewährt allen volles Bürgerrecht und das Wahlrecht, auch den Arabern. Die
Folge von Letzterem wäre allerdings, dass diejenigen, die keinen Palästinenserstaat
neben uns wollen, nun einen in unserer Mitte hätten - via Wahlurne.
Diese Worte sollte ein Premier an unser Volk richten. Die Alternativen sollten
klipp und klar sein: jüdischer Rassismus oder Demokratie, Siedlungen oder
Hoffnung für beide Völker, falsche Visionen, die zu Stacheldraht, Straßensperren
und Selbstmordbombern führen oder eine anerkannte internationale Grenze
zwischen zwei Staaten und eine geteilte Hauptstadt Jerusalem. Aber es gibt
keinen (solchen) Premierminister in Jerusalem. Jene Krankheit, die am Organismus
des Zionismus nagt, hat bereits den Kopf erreicht. David Ben-Gurion hat sich in
manchen Dingen geirrt, aber er war geradlinig wie ein Pfeil. Und wenn Menachem
Begin sich irrte, standen seine Motive nie in Zweifel. Das hat sich geändert.
Umfragen vom letzten Wochenende zeigen, eine Mehrheit der Israelis glaubt nicht
an die persönliche Integrität des Premiers - dennoch vertrauen sie seiner
politischen Führerschaft. Man könnte sagen, der derzeitige israelische
Premierminister vereinigt in sich beide Seiten des Fluchs: Seine persönliche
Integrität ist zweifelhaft, seine Nichtbeachtung des Gesetzes offenbar - und
das kombiniert (er) mit der Brutalität der Okkupation und dem Niedertrampeln
aller Friedenschancen. So sieht unsere Nation aus, so ihre Führerschaft. Der
unausweichliche Schluss: die Zionistische Revolution ist tot.
Aber warum verhält sich die Opposition so still? Vielleicht, weil Sommer ist,
vielleicht, weil sie müde ist. Vielleicht möchten manche ja auch um jeden
Preis selbst in die Regierung - auch wenn der Preis darin besteht, bei dieser
kranken Sache mitzumachen. Und während sie zögern, verlieren die Kräfte des
Guten ihre Hoffnung. Es ist Zeit für klare Alternativen. Jeder, der es ablehnt,
klar Position zu beziehen - schwarz oder weiß - kollaboriert de facto mit dem
Niedergang. Es geht nicht mehr um Likud gegen Arbeitspartei, Rechte gegen Linke,
es geht um richtig oder falsch, akzeptabel oder inakzeptabel, um Gesetzestreuer
oder Gesetzesbrecher. Es geht nicht um politischen Ersatz für die Regierung
Scharon, was wir vielmehr brauchen, ist eine Vision der Hoffnung. Wir brauchen
eine Alternative zur Destruktion des Zionismus und seiner Werte durch die
Tauben, die Stummen und die Gleichgültigen. Auch Israels Freunde im Ausland
sollten jetzt ihre Wahl treffen - Juden wie Nichtjuden, Präsidenten und
Premierminister, Rabbis und Laien. Sie müssen die Hände ausstrecken und Israel
helfen, damit Israel mithilfe der Straßenkarte (Roadmap) den Weg navigiert zu
unserem nationalen Ziel: das Licht der Nationen zu sein und eine
Friedensgesellschaft, eine Gesellschaft der Gerechtigkeit und der Gleichheit.
Avraham Burg war von 1999 bis 2003 Sprecher der israelischen Knesset. Burg ist
ehemaliger Vorsitzende der Jewish Agency for Israel. Derzeit ist er
Knesset-Abgeordneter der Arbeitspartei. Dieses Essay wurde von Burg auf
Grundlage seines in der (israelischen Zeitung) Yediot Aharonot abgedruckten
Artikels verfasst.
Mit freundlicher Genehmigung