DAS ÖSTERREICHISCHE
JUDENTUM
Nikolaus Vielmetti
Es leuchtet ein, dass in einer Reihe von Beiträgen zu diesem Thema die jüdische Religion nicht fehlen darf, zumal das Burgenland das anschauliche Beispiel liefert, wie in eine Gesellschaft, die an sich schon ethnisch und konfessionell etwas bunter ist als anderswo, auch alte jüdische Gemeinden integriert waren.
Es versteht sich, dass in diesem Zusammenhange die Geschichte der österreichischen Juden auf die Darstellung der jüdischen Glaubensgemeinschaft beschränkt werden muss. Allerdings wird es nie möglich sein, die Geschichte der Juden von der Geschichte des Judentums säuberlich abzuheben, zumindest auf weiten Strecken werden sich beide in einer Kirchengeschichte sui generis finden. S. DUBNOW kritisierte das Geschichtswerk von GRAETZ, das im übrigen bis heute im Volk lebendig geblieben ist und immer wieder aufgelegt wird, indem er es als "Literaturgeschichte (scil. der sakralen Literatur) und Martyrologium" definierte; er selbst hingegen ging von den "sozialen Existenzbedingungen der Nation" aus. Das in unserer Zeit entstehende und bis jetzt auf 14 Bände angewachsene Werk von S. W. BARON bekundet schon durch seinen Titel "A Religious and Social History of the Jews", dass eine reale Distinktion von Volk und Religion doch nicht gut denkbar ist, da einerseits diese Religion ohne "ihr" Volk nicht bestehen oder sie auch nicht auf ein anderes übertragen werden könnte, andererseits das religiös-kulturelle Erbe für ein Volk, das die längste Zeit ohne Territorium, Staat und Sprache auskommen muss, von vitaler Bedeutung ist.
Wir haben hier auf jeden Fall wie nirgends sonst eine Gruppe vor uns, bei der nationales Bewusstsein und religiöse Überzeugung untrennbar verquickt sind und undurchschaubar ihre Existenz bestimmen, indem sie Leiden heraufbeschwören und gleichzeitig das überleben garantieren. Die Religion kann als der entscheidende Faktor im Leben dieser weit verstreuten Minderheit angesehen werden, sei es vom Standpunkte des europäischen öffentlichen Rechtes, das sie als religiöse Dissidenten vom 4. bis zum 19. Jahrhundert grundsätzlich diskriminierte, sei es in der Verfassung einer rein zivilen jüdischen Körperschaft, als die sich die Israelitische Kultusgemeinde versteht ("die einzige autonome, gesetzlich anerkannte Körperschaft, die berufen ist, die Judenschaft zu vertreten").
Die Geschichte der Juden und die Geschichte der jüdischen Religion decken sich, denn diese Zeit ließ dem Juden keine andere Wahl: praktiziertes Judentum oder Taufe (womit der einzelne aus der jüdischen Geschichte eindeutig ausschied), sie kannte weder die legale noch die faktische Möglichkeit des indifferenten oder religionslosen Juden. Beide Seiten, die jüdische wie die christliche, nahmen es mit Fragen des Glaubens bitter ernst; für das Reich der Habsburger traf das in besonderem Maße zu.
Die innerhalb des corpus christianum zerstreuten jüdischen Minderheiten waren ein einsamer und bleibender Widerspruch gegen die universale Kirche. Die Glaubensspaltung war der nächste und ausgedehntere Einbruch in die Universalität, ein Einbruch, der in Österreich vom Hause Habsburg allerdings wieder fast völlig "behoben" wurde, nur in den Ländern der ungarischen Krone konnten sich die Protestanten weiter behaupten. Diese versäumten es auch nicht, ihre Existenz mit einem argumentum a fortiori zu verteidigen, nämlich mit einem Hinweis auf die Juden, die "ältesten Feinde des Kreuzes", die der Kaiser desungeachtet in Österreich wohnen lasse. Der Kaiser hatte aber gar nicht so unrecht, Juden und "Ketzer" ungleich zu behandeln; denn die Sonderstellung der Juden, die sich nicht zufällig durch "privilegia" dokumentierte, hatte tiefere Wurzeln.
Die Juden waren schon fürs heidnische Rom ein Widerspruch aus religiösen Gründen gewesen - was wohl selten genug vorkam -; denn ihre religiöse Praxis, wie auch die der Christen, wurde als Atheismus (contumelia numinum u. a.) angesehen und deshalb nur so weit geduldet, als sie auf eine national umschriebene Gruppe beschränkt blieb. Daher das zeitweilige Verbot des Proselytismus und die grundsätzliche Unerlaubtheit des Christentums, das die eigenen Leute" verdarb". - Auch unter umgekehrten Vorzeichen, als der einst "untragbare" Atheismus der Christen zur staatstragenden Religion geworden war, wurden die Bekenner des Judentums, sofern sie einem abgesonderten Volksstamme angehörten, geduldet, ja für bestimmte Funktionen innerhalb der Gesellschaft mitunter gern an- und aufgenommen. So sollte ihre rechtliche Stellung lange Zeit paradox bestimmt bleiben: durch Restriktionen bedrückt und durch Autonomie privilegiert.
Das Bild ist aber unvollständig, wenn man nicht den Hintergrund im Auge behält; dieser war nämlich erfüllt von einer permanenten Unsicherheit, in der gerade irrationale Momente jederzeit zur Katastrophe führen konnten. So führte der Beginn des ersten Kreuzzuges (1096) zu einer Liquidierung der Feinde Christi - im Rheinland, im 14. Jahrhundert, lösten Psychosen, die in Legenden ihren Ursprung hatten, mehrere Mordwellen aus. Die Erfahrung hat gelehrt, dass man sehr vorsichtig sein muss, wenn man behaupten wollte, diese Unsicherheit oder Existenz auf Abruf habe je zu bestehen aufgehört, da auch der moderne Verfassungsstaat einer Psychose nicht gewachsen ist.
Es ergibt sich die Frage, wie weit die "theokratische Periode"
reicht. Wir können mit einiger Berechtigung das 18. Jahrhundert als Grenze
annehmen, da in der innerjüdischen Geschichte die Persönlichkeit MOSES
MENDELSSOHNS (1729 bis 1786) den Anfang eines neuen Abschnittes zu bezeichnen
pflegt und auch in der österreichisch-jüdischen Geschichte sich die Wende im
gleichen Jahrhundert vollzieht; denn in ihm begegnen sich Mittelalter und
Moderne. Jenes spiegelt sich im
Ausweisungsbefehl MARIA THERESIAS für die Juden Böhmens (1744) wider, diese im
Toleranzpatent JOSEPHS II. (1782).
Für die nun folgende Periode ist Geschichte der Juden und Geschichte des Judentums nicht mehr gleichzusetzen, d. h. eine wachsende Säkularisierung reduziert die theokratische Verfassung, unter der das Leben eines jeden einzelnen Juden bisher stand, auf gewisse unabdingbare Restbestände. Mit anderen Worten, es setzt derselbe Vorgang ein, der bis heute im christlich sein sollenden Volke ebenso anhält, nämlich ein Zwiespalt zwischen der modernen Zivilisation, die ihren Weg offensichtlich ohne die Religion, wenn nicht überhaupt gegen die Religion macht, und der Anhänglichkeit an den Väterglauben und die ihm eigenen Lebensformen. Der Abstand zwischen nomineller Konfessionszugehörigkeit und praktizierter Religion wird immer sichtbarer und fordert von den religiösen Institutionen "Seelsorge" im weitesten Umfange des Begriffs. Unsere Darstellung wird sich deshalb auf die Entwicklung des religiösen Lebens der Juden in Österreich beschränken.
Wenn wir die Schicksale des Judentums in Österreich von den Anfängen bis in unsere Zeit verfolgen, ergibt sich noch eine grundsätzliche Frage, nämlich die nach der Kontinuität. Was wir etwa aus der Zeit zwischen 1000 und 1700 wissen, sind doch nur Daten, die zur lebendigen Vorstellung vom österreichischen Judentum wenig Beziehung haben. Nach der anderen Seite hin müssen wir bedenken, dass die Ereignisse vom Jahre 1938 an nicht nur einen tiefen Einschnitt bedeuten, sondern schlechthin das Ende all dessen, was bisher entstanden und gewachsen war. Was hat also die Gemeinde, die 1421 vertrieben und vernichtet wurde, mit dem Wiener Judentum der Zeit um 1900 gemeinsam? Kann man die heutige Wiener Kultusgemeinde von 10000 Menschen mit jener, die 200000 zählte, vergleichen?
Die Kontinuität weist Lücken auf, wie wir sie in der Geschichte des Christentums nicht kennen oder, richtiger gesagt, an die wir nicht zu denken gewohnt sind. So erstreckt sich z. B. die Geschichte der Diözesen Salzburg, Passau und Wien über Jahrhunderte, ohne dass es je zwischendurch ein völliges Ende und einen völligen Neubeginn gegeben hätte. Das Schicksal der Kirche in Nordafrika wäre dagegen ein aufschlussreicheres Beispiel. Dennoch ist die Kontinuität gegeben, und zwar aus dem Wesen des Judentums, dem die communio sanctorum viel lebendiger bewusst ist als den Christen ihr mit diesen Worten ausgedrückter Glaubensartikel.
Dieses ungebrochene Gemeinschaftsgefühl manifestiert sich etwa in der gar nicht so seltenen Erscheinung, dass ein Jude alle Ereignisse aus der Geschichte seines Volkes in der ersten Person berichtet - den Auszug aus Ägypten wie den Sechstagekrieg; zeitliche und örtliche Abstände schrumpfen zu einem Hier und Jetzt zusammen.
Ober das erste Auftreten von Juden auf dem Gebiet des heutigen Österreich liegen drei sehr verschiedene Darstellungen vor: eine phantastische Sage, eine Vermutung und schließlich die frühesten schriftlichen Zeugnisse.
Die Sage von einem ABRAHAM, der 860 Jahre nach der Sintflut in Stockerau das Reich Judeisapta begründet habe, verdient freilich keinen Glauben. Sie scheint auch nicht eine Fiktion zu sein, die jüdischem Wunschdenken entsprang - nicht zuletzt, um ein Alibi bei der Kreuzigung Jesu für die Vorfahren der österreichischen Juden zu konstruieren -; statt dessen taucht die Legende zuerst gegen Ende des 14. Jahrhunderts bei einem christlichen Chronisten auf, und noch 1738 hält ein Wiener Historienschreiber an ihr fest. Sie sollte wohl dem Herzogtum Österreich den Glanz einer quasibiblischen Tradition verleihen.
Der nächste Ansatz fällt in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte und stützt sich auf die Vermutung, dass die ersten Juden mit oder nach den römischen Legionen ins Land gekommen seien, eine Vermutung, die einige Wahrscheinlichkeit für sich hat. Im Rheinland z. B. ist die Anwesenheit von Juden fürs 4. Jahrhundert quellenmäßig gesichert; es gibt Verordnungen Kaiser KONSTANTINS an die decuriones von Köln aus den Jahren 321 und 331, worin Bestimmungen über die Juden dieser Stadt und deren Gemeindeorganisation enthalten sind. - Nicht so in Österreich, wo die ersten schriftlichen Erwähnungen von Juden aus karolingischer Zeit stammen, wenngleich die Forschung ein Nahverhältnis zwischen römischen Gründungen und jüdischen Siedlungen festgestellt hat.
Für die Existenz von Juden in Österreich und ihre Lebensbedingungen haben wir für die früheste Zeit folgende Anhaltspunkte: Zunächst einen Passus der in diesem Zusammenhange stets zitierten Zollordnung von Raffelstetten (bei Linz), aus den Jahren 903-906 datierend. Er besagt, dass "Juden" und "Kaufleute" nahezu synonym gebrauchte Begriffe sind: legitimi mercatores, id est Judaei et ceteri mercatores. - Hundert Jahre früher ist im Salzburger Formelbuch, das während der Regierung des Erzbischofs ARNO entstanden ist, von einem jüdischen Arzt die Rede (illum medicum iudaicum vel sclavianiscum), was voraussetzt, dass zur Zeit des Erzbischofs ARNO (798-821) Juden und Slawen als Ärzte bekannt waren. Diese Andeutungen lassen ahnen, dass Juden als Kaufleute und Ärzte unangefochten ihren Platz in der zeitgenössischen Gesellschaft einnahmen.
Von der Tätigkeit der jüdischen Kaufleute haben wir ein ziemlich aufschlussreiches Bild, vor allem dank der Erforschung der Geschichte Kärntens. Grabsteinfunde, der Verlauf der alten Handelswege und die Lage von Orten mit Namen wie Judendorf, Judenburg u. ä. vermitteln eine Vorstellung vom jüdischen Leben in den Ostalpenländern etwa vom Jahre 1000 an. Die Geschichte des Fernhandels zwischen Oberitalien und der Donau ist die Geschichte der jüdischen legitimi mercatores, die so zum integrierenden Faktor der Wirtschaft geworden waren. Zunächst war Regensburg das Handelszentrum nördlich der Alpen, mit Oberitalien war es durch die Tauernwege Kärntens und Salzburgs verbunden; eine zweite Straße führte von Oberitalien nach Wien. Diese Straßen sind von "Judendörfern" gesäumt, z. B. Judendorf bei Villach am Anfang und Judenau bei Tulln am Ende der Route. Es leuchtet ein, dass Juden aus Italien gekommen sind und eigene Siedlungen (Judendörfer) angelegt haben, Es hat sich nun ergeben, dass diese kleinen Orte älter sind als die Märkte und Städte. Heute erinnert nur noch der Name an Juden; ob sie tatsächlich je von solchen bewohnt wurden, lässt sich in der Regel nicht mehr nachweisen. Nach einer plausiblen Theorie waren Juden dort wohl zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert ansässig, zogen aber später in die Städte, deren Entwicklung die nächsthöhere Stufe der Wirtschaft bezeichnet.
Weiters ist bemerkenswert, dass die Juden bei ihrer Niederlassung jeweils römischen Spuren gefolgt sind. Hinweise auf Juden und Funde aus römischer Zeit pflegen an solchen Orten nebeneinander zu erscheinen. Das lässt zwar noch nicht auf den Fortbestand der römischen Gründungen schließen, zeigt aber, dass die jüdischen Kaufleute Plätze mit römischer Vorgeschichte bevorzugt haben.
In zwei Fällen, in den Judendörfern bei Villach und Friesach, ist eine ursprüngliche jüdische Besiedlung erwiesen, und zwar durch zeitgenössische Grabsteine. Diese Beweismöglichkeit ist der religiösen Praxis des Judentums zu verdanken, die wohl prunkvolle Begräbnisse ablehnt, aber ein immerwährendes Andenken für die Toten fordert und den Begräbnisplatz heilig hält. Ein rituell gebotenes Mittel dazu ist der Grabstein, der nach einer bestimmten Zeit gesetzt wird und nie mehr entfernt werden darf. Durch glückliche Zufälle sind 800 Jahre alte Grabsteine erhalten und ihre Inschriften leserlich geblieben. Bei einem in Niedertrixen (Kärnten) gefundenen Grabstein konnte die Jahreszahl 4890 ( = 1130 christlicher Zeitrechnung) mit Sicherheit entziffert werden.
Nach den Anfängen jüdischer Einwanderung durch Kaufleute aus dem Süden entstehen in den wichtigeren Städten Österreichs Niederlassungen und Gemeinden. In Wien wissen wir von jüdischem Hausbesitz zu Ende des 12. Jahrhunderts. Ein SALOMO oder SCHLOM wird 1194 als Münzmeister ("super officium monetae"), nach anderen überhaupt als Güterverwalter LEOPOLDS v. genannt. In einem Dokument von 1204 ist die Synagoge (scola Judaeorum) erwähnt - daraus geht hervor, dass sich um diese Zeit ein jüdisches Viertel in Wien bildete. Es war vom Platz Am Hof und der Wipplingerstraße begrenzt, in der Mitte lag der "schulhof" (nach der Synagoge), heute "Judenplatz" benannt. In Wiener Neustadt tauchen bald nach der Gründung des Ortes jüdische Bewohner auf.
Die Erwähnung einzelner Juden und ihrer Stellung zeigt, dass in der wirtschaftlichen Funktion der Juden ein wesentlicher Wandel vorgegangen ist, nämlich der Übergang vom Handel zum Bankgeschäft. Die Juden galten im ganzen Land als die einzige und unentbehrliche Quelle von Bargeld.
Herzog FRIEDRICH DER STREITBARE stand in dem Rufe, sich mit vielen jüdischen Beratern und Beamten umgeben zu haben. So ist die Reaktion zu erklären, dass Kaiser FRIEDRICH II. der Stadt Wien, die auf seiner Seite stand, 1237 ein Privileg erteilte, demzufolge u. a. die Juden von der Ausübung von Ämtern (officiorum praefectura) ausgeschlossen wurden. Im Jahr darauf verlieh der Kaiser den Wiener Juden ein Privileg, das dem HEINRICHS IV. für die Juden von Speyer und Worms (1090) entsprach, und nahm sie damit in die Kammerknechtschaft auf.
Der Begriff "Kammerknechtschaft" bedeutet die unmittelbare Verbindung aller im Reiche wohnenden Juden mit der kaiserlichen Kammer (ad imperialem cameram dinoscuntur pertinere); der Ausdruck Knechtschaft (servi camerae nostrae) darf dabei nicht irreführen. Das Verhältnis bedingte unmittelbare Abgaben der Juden an die Kammer, stellte sie dafür aber unter den besonderen Schutz des Kaisers. Diese höchste Form des Schutzes entsprach dem hohen Maße der Unsicherheit und Gefährdung, denen die Juden permanent ausgesetzt waren. - Der Kaiser pflegte diese Einnahmsquelle, das Judenregal, auch abzutreten und so als Tauschmittel zu benützen. RUDOLF DER STIFTER nahm es für die österreichischen Herzoge seit 1156, d. i. mit der Erteilung des privilegium minus, in Anspruch. Die Bestimmung "potest in terris suis omnibus tenere Judaeos" ist jedoch nur in dem gefälschten privilegium majus enthalten. De facto wurden die österreichischen Juden Knechte der herzoglichen Kammer unter FRIEDRICH DEM STREITBAREN und blieben es fortan.
Damit kommen wir zu dem "Fridericianum", dem von Herzog FRIEDRICH am 1. Juli 1244 verliehenen Privileg, das zu den humansten Judengesetzen des Mittelalters zu rechnen ist. Es folgte nicht mehr der Form der mehrfach genannten Privilegien von Speyer und Worms, sondern war eine originäre Schöpfung, die ihrerseits den Fürsten der Nachbarländer und den Nachfolgern FRIEDRICHS als Muster diente. Das Geldleihen erscheint nunmehr als der ausschließliche Beruf der Juden, da der Handel offensichtlich inzwischen in die Hände der "Eingeborenen" übergegangen war. Die Paragraphen des Privilegs scheinen einseitig den Kreditgeber zu begünstigen, besonders § 31, der einen Zinssatz von 8 Denaren wöchentlich pro Pfund gestattet - das sind 173% Jahreszinsen! Allerdings werden solche Zinsen durch das hohe Risiko und die extreme Bargeldknappheit erklärt, wenn nicht gerechtfertigt. Sicherlich lebten in den Judengassen Wiens und anderer Städte einzelne Familien, die es zu sehr großem Reichtum gebracht hatten und als lokale "Rothschilds" angesehen werden können - das erhöhte aber nur die widerspruchsvollen Bedingungen ihrer Existenz. Auf der einen Seite wuchsen Neid und Frustration der Bürger und Herrschaften, die bei den Juden verschuldet waren, hinzu kamen Borniertheit und blinder Hass des Volkes; auf der anderen Seite erfuhren sie Entgegenkommen, Freundlichkeit und wirksamen Schutz vom Landesherrn. Zwar konnte dieser eine Konfiskation jüdischen Besitzes verfügen, nämlich durch das Ausstellen von" Tötbriefen", die Schuldscheine für ungültig erklärten - aber der Herzog ging mit diesem Mittel eher sparsam um, um nicht seine eigene Staatsbank zu sprengen.
Hier soll auch auf den Unterschied zwischen kirchlicher und landesfürstlicher Gesetzgebung hingewiesen werden. Das kanonische Recht hatte in den Beschlüssen des IV. Lateran-Konzils (1215) das Verhältnis von Christen und Juden grundlegend geordnet. Seine Tendenz ging dahin, die Juden streng von den Christen abzusondern (nicht zuletzt durch eine kennzeichnende Tracht) und sie von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Ein Konzil der Salzburger Kirchenprovinz, das im Jahre 1267 unter dem Vorsitz des Kardinallegaten GUIDO in der Pfarrkirche von St. Stephan zu Wien stattfand, wollte diese Grundsätze auch in Österreich angewendet wissen. Es fasste Beschlüsse, die die völlige Absonderung der Juden forderten, eine materielle Entschädigung der Pfarren, in denen Juden wohnten, vorsahen (für den Verlust an Zehent und Stola) und auf den Schutz der christlichen und die Einschränkung der jüdischen Religion ängstlich bedacht waren. Der Text dieser fünf Canones gibt wahrscheinlich ein zutreffendes Bild von den wirklichen Zuständen, die sich im übrigen auch nachher nicht viel änderten; denn gleich im folgenden Jahr (August 1268) erneuerte OTTOKAR PRZEMYSL als König von Böhmen und Herzog von Österreich und Steiermark seinen Juden alle früher erteilten Privilegien (letztlich zurückgehend auf das "Fridericianum"), "sintemalen [die Juden] zu unserer Kammer gehören und unseres Schutzes ganz besonders bedürfen".
Die Habsburger verfolgten zunächst die gleiche Judenpolitik. RUDOLF I. verlieh 1277 seinen Juden ein Privileg im Sinne des "Fridericianum". ALBRECHT II; galt als lautor Judaeorum - eine Bezeichnung, die ihm missgünstige Chronisten beilegten, wie auch die Wiener Annalen um 1400 berichten: "Also ist Österreich der Juden verhaissen und gesegnet Land"; schließlich wird noch Kaiser FRIEDRICH III. rex Judaorum potius quam Romanorum genannt. Solche ernst zu nehmenden Reaktionen weisen auf die wachsende Diskrepanz zwischen der Haltung des Landesfürsten und der Meinung des Volkes hin. Während die Judengemeinden im 14. Jahrhundert eine materielle und geistige Blüte erleben, speichert sich eine irrational und pathologisch genährte Volkswut auf. Sie bildet dabei vor allem zwei Legenden aus: die der Hostienschändung und die der Brunnenvergiftung. 1338 ergießt sich die erste Verfolgungswelle über viele Orte Österreichs, wobei Pulkau, NO., und Wolfsberg, Ktn., mit legendären Hostienfreveln die Rolle von Zentren spielen. 1349 bricht eine zweite Welle los, diesmal ist es der Schwarze Tod, der in Brunnenvergiftungen seine Ursache haben soll. Herzog ALBRECHT II. konnte Übergriffe auf die Gemeinden in Wien und Wiener Neustadt verhindern (das trug ihm seinen Beinamen ein).
Um das Jahr 1420 war die Erregung wieder aufs höchste gestiegen, die Bereitschaft zu Legenden wurde dabei noch von der Angst vor den Hussiten und deren angebliche Allianz mit den Juden verstärkt. Eine phantastische Geschichte, nach der der Jude ISRAEL in Enns von der Frau des Mesners eine geweihte Hostie gekauft habe, löste im ganzen Lande hemmungslose Gewalttätigkeit gegen die Juden aus. Diesmal glaubte auch der Herzog, ALBRECHT V., an den Hostienfrevel und verfügte die sofortige Einkerkerung aller Juden im Lande ob und unter der Enns und die Beschlagnahme ihres Vermögens (Mai 1420). Die Ärmeren unter ihnen wurden ausgewiesen, die anderen blieben weiter in Gefangenschaft und erwarteten ihre Hinrichtung, der sie nur durch die Taufe hätten entkommen können. Nur wenige wählten diesen Ausweg, von vielen wird hingegen berichtet, dass sie Hand an sich selbst legten. Das Ende war ein Scheiterhaufen auf der Erdberger Lände, vor den Toren Wiens, wo mehr als zweihundert Juden verbrannt wurden. So mündet die frühe Geschichte der österreichischen Juden in einem Martyrium. Ein Bericht in jiddischer Sprache, die "Wiener Geserah", hielt die Erinnerung an die Märtyrer von 1420/21 wach.
In Wiener Neustadt ging das jüdische Gemeindeleben noch einige Jahrzehnte weiter, ausgezeichnet durch das Wirken ISRAEL ISSERLEINS (gest. um 1460), einer rabbinischen Autorität. In derselben Zeit erlebte die Stadt eine Blüteperiode als Residenz FRIEDRICHS III. Dieser Herrscher hat, wie erwähnt, bei Zeitgenossen wie bei späteren jüdischen Historikern den Ruf eines aufrichtigen Freundes der Juden: er "nahm sich bis in seine letzte Stunde der von aller Welt Geächteten an" (GRAETZ). Einen moralisch-rechtlichen Rückhalt verlieh ihm dabei eine Bulle Papst NIKOLAUS' V. vom Jahre 1451, worin ihm eine Dispens zur Wiederaufnahme von Juden in seinen Ländern gegeben wurde. FRIEDRICH selbst trat energisch gegen Blutbeschuldigungen (Ritualmordlegungen) auf - eine Diffamierung, die im innerösterreichischen Raum während des Mittelalters unbekannt war, jedoch anderwärts großes Unheil angerichtet hatte. Hier war es das Verdienst der Päpste, die Unsinnigkeit und Gefährlichkeit dieser Legende erklärt und die Bischöfe gewarnt zu haben, so etwa INNOZENZ IV. in einem Privileg von 1246. König OTTOKAR ergänzte unter Berufung darauf das Privileg, das er 1254 den österreichischen Juden erteilte.
Die folgenschwerste Blutbeschuldigung unter der Regierung FRIEDRICHS war der Mordprozess wegen des SIMONINO VON TRIENT im Jahre 1475, dessen Nachwirkungen bis in unsere Zeit reichen.
Die Spannung zwischen dem Landesfürsten und den Ständen zeigte sich gerade in der Frage der Ansiedlung von Juden; dazu kam neuerdings eine in Traktaten und Pamphleten geschürte Judenfeindschaft. Damit bereiteten Universitätslehrer wie THOMAS EBENDORFER die völlige Vertreibung der Juden aus christlichen Ländern vor. Kaiser MAXIMILIAN, der Sohn FRIEDRICHS, wurde zum Nachgeben gezwungen. Die Stände nötigten ihm die Ausweisung der Juden aus Wiener Neustadt, Steiermark und Kärnten ab (1496), allerdings mit dem Versprechen, die Kammer durch eine Zahlung zu entschädigen. Der Kaiser behielt sich jedoch vor, die Juden an anderen Orten zumindest zeitweilig zuzulassen.
Die Zeit um 1500 brachte für die Juden in vielen Teilen Europas endgültige Vertreibung oder Verelendung. Sie mussten uralte, blühende Ansiedlungen nahezu über Nacht aufgeben, so dass das "finstere Mittelalter" erst jetzt in der jüdischen Geschichte anzubrechen schien. Mediterrane Länder, in denen sich eine reiche jüdische Kultur entfaltet hatte, wie Spanien, Neapel, die Provence, duldeten mit einem Male keinen einzigen Juden mehr. Ein ähnliches Bild boten die habsburgischen Länder, soweit sie sich mit dem Gebiet der heutigen Republik Österreich decken. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, begann hier in der Geschichte der Juden ein Vakuum von etwa 350 Jahren. Nach Steiermark und Kärnten mussten die Juden auch die Orte im Erzstifte Salzburg verlassen; Tirol, in dessen Grenzen der Schauplatz des Simonino-Prozesses gelegen war, beherbergte seit jeher nur wenige jüdische Familien.
Ein Teil der Ausgewiesenen wanderte die ihnen vertrauten Handelsstraßen südwärts; so begründete etwa ISSERLEINS Familie, nach ihrer Herkunft Marburger genannt, das Geschlecht der Morpurgo in Gradisca. Andere Juden aus Steiermark wurden in den westungarischen Komitaten Odenburg und Eisenburg, also im heutigen Burgenland, aufgenommen. - Die Kontakte mit der alten Heimat bestanden höchstens noch in individuellen Handelsreisen oder zeitweiligen Marktbesuchen. Im 16. und 17. Jahrhundert sind z. B. Juden aus Böhmen auf den Linzer Märkten anzutreffen.
Die Residenzstadt Wien war schließlich der Ort, wo das verhängnisvolle
Vakuum, allen Geserah-Erinnerungen zum Trotz, bald wich und langsam eine neue
Gemeinde heranwuchs. - Zunächst wurde durchreisenden jüdischen
Geschäftsleuten ein kurzfristiger Aufenthalt gestattet. Unter FERDINAND I.
verbesserte sich ihre Lage, nicht weil er den Juden persönliche Sympathien
entgegengebracht hätte, sondern weil er das Ringen zwischen Herrschergewalt und
Macht der Stände zu seinen Gunsten entschied. Daher mussten sich die Wiener
Bürger seinem Willen beugen und wieder Juden in ihren Mauern dulden. Es kam
zwar noch nicht zur Gründung einer Gemeinde, aber in- und ausländische Juden
durften sich eine gewisse Frist lang in der Stadt aufhalten. Die Judenordnung
von 1536 ist kein Privileg, sondern eher Ausdruck der Polizeischikane, wie sie
von den Bürgern gefordert und erwartet wurde. Die Juden mussten ihre Hoffnung
jeweils auf die Gewährung einer Ausnahme setzen; schließlich waren es um 1570
sieben Familien, die ständig in Wien wohnen durften. Sie bildeten die Ansätze
der "hofbefreiten Judenschaft", die als Institution seit 1582
nachweisbar ist. Das Gründungsjahr der Synagoge ist nicht bekannt, dafür das
Alter des Gemeindefriedhofs in der Rossau (Seegasse, heute 9. Bezirk), dessen
frühester Grabstein die Jahreszahl 1582 trägt.
Für die "Hofbefreiten" galten ähnliche Bedingungen wie seinerzeit für die "Kammerknechte". Sie unterstanden der Gerichtsbarkeit des Obersthofmarschalls, durften sich ungehindert am Orte des Hoflagers aufhalten und waren nicht zum Tragen des Judenzeichens verpflichtet; auch waren sie im Prinzip weder dem Lande noch der Gemeinde steuerpflichtig, statt dessen wurden sie von der Hofkammer derart in Anspruch genommen, dass es an Erpressung grenzte. Hofhaltung und Kriegführung verschlangen solche Summen, dass die hofbefreiten Juden immer häufiger und unter immer neuen Vorwänden zur Kassa gebeten wurden. Im Falle der Weigerung drohte ihnen Sperrung der Handelsgewölbe und der Synagoge, ja schließlich Ausweisung überhaupt. Der 30jährige Krieg machte die Juden als Kreditgeber und Heereslieferanten unentbehrlicher denn je. FERDINAND II. war deshalb zu weiteren Zugeständnissen bereit, die Wiener Bürgerschaft jedoch versuchte alles, um sich der jüdischen Konkurrenz zu entledigen. Die schlechte Lage der "bürgerlichen Handelsleute" hatte allerdings ihre Hauptursache in ihrer eigenen wirtschaftlichen Rückständigkeit, die etwa der Entwicklung eines großen Staatswesens mit zentralistischer Tendenz nicht Rechnung trug.
Der zähe Kampf zwischen Hof und Bürgerschaft um das Schicksal der Juden führte im Jahre 1624 zu einem neuen Ergebnis: FERDINAND II. gab dem Präsidenten des Hofkriegsrat den Auftrag, für die Juden ein geeignetes Quartier außerhalb der Stadt auszuwählen. Das bedeutete, dass auch in Wien ein Ghetto geschaffen werden sollte.
Der Hofkriegsrat entschied sich für einige Straßenzüge im Unteren Werd (dem heutigen 2. Bezirk). Die Genehmigung des Kaisers und die Übersiedlung der jüdischen Familien aus der Stadt mitsamt den Einrichtungen ihres Gemeindewesens folgten so rasch, dass im Jahre 1625 alle Juden ihre neuen Wohnungen im Ghetto bezogen hatten. - Die Zahl der Häuser wuchs innerhalb von 30 Jahren von 15 auf 100, die sich auf der Fläche zwischen Taborstraße, Augarten, Malzgasse, Große Schiffgasse und Krummbaumgasse verteilten. Die jüdischen Kaufleute konnten nach anfänglichen Schwierigkeiten Handelsgewölbe am Kienmarkt (dem Platz vor der Ruprechtskirche) beibehalten.
Die Geschichte des Ghetto im Unteren Werd umfasst genau 45 Jahre. Das Ghetto brachte den Vorteil, dass die dem Judentum eigentümliche Gemeindeorganisation sich ungestört entfalten konnte, was der ganzen Gemeinschaft den unentbehrlich geistig-religiösen Rückhalt gewährte.
Wenngleich es scheint, dass die Juden ihre Lebensbedingungen in der Hauptsache an Hausbesitz, Handelsfreiheit, Abgaben, Schutzgeld usw. maßen, so darf man doch nicht den Ernst des Satzes vergessen, dass "das Thoralernen über alles" gehe - was keinesfalls als Heuchelei zu nehmen ist, etwa nur als überbau, der die profanen, harten Geschäfte religiös dekoriert. Denn ein Jude lebte damals noch ganz aus seinem Judentum, differenzierende Begriffe wie Religiosität, Strenggläubigkeit u. dgl. waren einfach nicht am Platze, da niemand daran dachte, die Identität von Religion und Leben in Frage zu stellen.
Die Wiener Gemeinde hatte angesehene Rabbiner, wie JOMTOB LIPMAN HELLER aus Prag, der Synagoge, Lehrhaus und die anderen Institutionen im Unteren Werd einrichtete. Im Jahre 1656 nahmen die Wiener Juden viele ihrer in Polen von den Kosaken verfolgten Brüder auf. Auf diese Weise fand die Schule der polnischen Talmudlehrer ihren Weg nach Wien. Die Wiener Gemeinde blieb auch nicht von den Ausläufern damals grassierender Sektenbewegungen verschont; 1666 griff der Sabbatianismus auf Österreich über - jenes Begeisterungsfieber für den Pseudomessias SABBATAI ZWI.
Das Schicksal der Gemeinde im Wiener Ghetto nahm unter LEOPOLD I. gegen 1670 eine plötzliche Wendung. Der Kaiser wurde von verschiedenen Seiten bedrängt, die Juden "abzuschaffen" - ein Vorgang, der nicht neu und auch nicht durch neue Argumente gestützt war. Er traf aber den Kaiser in einer Verfassung, die ihn anders als früher handeln ließ und dazu führte, dass eine der größten Gemeinden des Reiches ihre Wohnstätte binnen kurzer Zeit und unwiderruflich verlassen musste.
Wohl mag das Versprechen der Wiener Bürgerschaft, an die Hofkammer jährlich 10000 Gulden zu zahlen - als Ersatz für das Schutzgeld der Juden -, für den Kaiser die conditio sine qua non gewesen sein, trotzdem hat das religiöse Moment bei dieser Entscheidung den Ausschlag gegeben. Was oben von den Juden gesagt wurde, gilt auch vom Kaiser, dass nämlich die Religion nicht äußere Heuchelei, sondern innere Oberzeugung war. Daraus ergibt sich, dass die Geschichte der Juden in Österreich auch um diese Zeit noch zur Kirchengeschichte gehört, da sowohl das Haus Habsburg als auch die Judengemeinden jeweils ihren Glauben als das oberste Prinzip erachteten.
Für den Habsburger bestätigt dies seine eigene glaubwürdige Aussage, dass er seine Entscheidung über das Schicksal der Juden zuerst "theologice, sodann politice und letztlich cameraliter" bedacht habe. Er war überzeugt, mit der "Abschaffung" der Juden ein gottgefälliges Werk zu tun, wobei er sich von der religiösen Intoleranz des Wiener Neustädter Bischofs KOLLONITS leiten ließ, aber nicht zuletzt auch von der seiner jungen Gattin, der spanischen Infantin MARGARETA THERESIA, die seit 1666 am Wiener Hofe lebte. Glaube und Aberglaube waren übrigens nicht mehr leicht zu unterscheiden; denn mit diesem frommen Werke sollte ein vielfältiges Unglück abgewendet werden, wobei der Zusammenhang mit jüdischer schuld rational kaum zu begründen war.
Was die Juden anlangt, so hatte sich auch ihre Haltung seit der Vertreibung und Vernichtung von 1421 theologice nicht geändert: kein einziger, so wird berichtet, dachte daran, durch einen Glaubenswechsel der kommenden Bedrängnis zu entgehen.
Als im Sommer 1669 der erste Ausweisungsbefehl erging, hofften die wohlhabenden und einflussreichen Mitglieder der Gemeinde, für sich eine Ausnahme erwirken zu können. Es fehlte nicht an Interventionen, der reiche TEXEIRA in Hamburg vermochte sogar den Heiligen Stuhl zu einer solchen zu veranlassen. Doch der Kaiser ließ sich von seinem Willen nicht mehr abbringen. Nach einer unwiderruflichen Verlängerung der Frist musste der letzte Jude bis zum Juli 1670 die Stadt verlassen. Kaum war der letzte Gottesdienst in der neuen Synagoge zu Ende gegangen, begannen schon die Umbauarbeiten, die sie in eine Kirche verwandeln sollten (kurz danach konnte die künftige Pfarrkirche St. Leopold eingeweiht werden). Besser erging es einer anderen Gemeindeinstitution, nämlich dem Friedhof, der noch vor der Errichtung des Ghettos angelegt worden war und seitdem fortbestanden hatte. Hier bewährte sich wieder das religiös-rituelle Prinzip des Judentums: die Grabstätten wurden vor Entweihung bewahrt, die Steine blieben als Zeugen der untergegangenen Gemeinde zurück. Das wurde ermöglicht durch ein großes materielles Opfer der FRÄNKELS, der reichsten Familie des Ghettos. So blieb das Grundstück in der Seegasse als der älteste Wiener Friedhof der Kultusgemeinde bis heute erhalten.
Die Geschichte der Wiener Juden hatte wieder einmal ihr Ende gefunden, zugleich auch die der Juden in Österreich überhaupt; denn 1671 folgte der Ausweisungsbefehl für alle Juden, die bis dahin in zahlreichen niederösterreichischen Orten gelebt hatten - in den übrigen Ländern, die das Gebiet des heutigen Österreich ausmachen, durfte ohnehin seit langem kein Jude mehr wohnen.
Hier gibt es allerdings eine einsame Ausnahme in Vorarlberg. In der Herrschaft HOHENEMS des gleichnamigen Grafengeschlechts hatten 1617 eine Anzahl jüdischer Familien Aufnahme gefunden, wobei Rechte und Pflichten vertraglich festgelegt wurden. Auch nachdem die Herrschaft an das Haus Österreich fiel, konnte die einmal begründete Judengemeinde weiterbestehen, wenngleich unablässig Widerstände in der engeren Umgebung ihre Haupttätigkeit, den Handel, erschwerten.
Die Exulanten von 1670/71 fanden in Gemeinden der Monarchie oder des Auslandes Aufnahme, manche ihrer Familien sind bis heute bekannt (z. B. JAFFE-SCHLESINGER, SPITZER, BENEDIKT, VEITH). Eine beachtliche Gruppe wanderte in die Mark Brandenburg ein (1671 ist das Gründungsjahr der jüdischen Gemeinde von Berlin), sehr viele gingen nach Böhmen und Mähren. Auf dem Umweg über Nikolsburg folgten manche Mitglieder der ehemaligen Wiener Gemeinde der Einladung des Fürsten ESTERHAZY in die Orte seiner Herrschaft in Westungarn, wo es schon lange vorher jüdische Bewohner gegeben hatte. Nach dieser neuen Zuwanderung entstanden die "Siebengemeinden" von Esterhaizyschen Schutzjuden auf dem Gebiete des heutigen Burgenlands.
Von der josephinischen Toleranz trennen uns noch über hundert Jahre. Während dieser Zeit tritt in Wien eine eigentümliche Erscheinung auf, in der sich das paradoxe Wesen der jüdischen Existenz besonders deutlich manifestiert. - Nach der Vertreibung kam durch Gewährung von Ausnahmen und individuellen Privilegien allmählich wieder eine Kolonie von Juden in der Residenzstadt zustande (eine Gemeinde sollte offiziell erst 1849 wieder zugelassen werden). Die Träger dieser Privilegien sind nach außen als Hofjuden bekannt, innerhalb der jüdischen Geschichte fällt ihnen die Rolle von schtadlanim zu. Dieses späthebräische Wort bedeutet Fürsprecher und bezeichnet das Verhältnis zwischen einigen wenigen Juden, die an den Fürstenhöfen zu Machtpositionen gekommen waren, und der Masse ihrer Glaubensbrüder, die materiell wie rechtlich auf das Lebensminimum gesetzt waren. Es bildet sich also im Judentum eine Geldaristokratie aus, die innerhalb der barocken Ordnung Erhalterin und Führerin ihres Volkes wird. Sie steht auf gleichem Fuße mit der christlichen Aristokratie (was jedoch in individuellen Fällen über Nacht zu einem Sturz in den Abgrund führen kann) und ist gleichzeitig verbunden mit Tausenden von Menschen, die selbst von den niedersten Schichten des christlichen Volkes nur Verachtung und Spott erfahren.
Am Anfang der Wiener Kolonie stehen die Namen OPPENHEIMER und WERTHEIMER. Der Oberhoffaktor SAMUEL OPPENHEIMER, aus dem Rheinland gebürtig, betätigte sich 1672 erstmals als Armeelieferant für Österreich. Die Türkenkriege und die Hofhaltung verschlangen so immense Summen, dass nur ein Finanzgenie wie OPPENHEIMER imstande war, Lieferungen und Geld zu beschaffen, wobei seine Spekulationen ein solches Maß annahmen, dass seine Geschäftsgebarung bis heute undurchsichtig geblieben ist. Einen seriöseren Eindruck macht sein jüngerer Verwandter SAMSON WERTHEIMER, aus Worms gebürtig und seit 1684 in Wien ansässig. Er wurde nach OPPENHEIMERS Tode 1703 Oberhoffaktor, erhielt aber auch mehrfach die Würde eines Rabbiners (Landesrabbiner von Ungarn u. Mähren, Rabbiner von Eisenstadt usw.). In der Tat unterstützte er die talmudischen Studien mit großen Stiftungen, verfasste aber auch selbst synagogale Vorträge. Ein großes Verdienst besteht darin, dass er bei Kaiser JOSEPH I. die Unterdrückung eines gefährlichen judenfeindlichen Buches, das noch Generationen als Quelle dienen sollte, erreichte ("Entdecktes Judenthum" von EISEN-MENGER).
Es gibt also Zeichen dafür, dass in der Periode des Frühkapitalismus das ausschließlich religiöse Selbstverständnis des Judentums noch vorauszusetzen ist. Persönlichkeiten wie WERTHEIMER waren nicht "Bürger mosaischer Konfession", wie es die Assimilation später haben wollte, sondern bewusste Juden, die auch mitten in der Barockkultur durch ihre eigene Bildung und Lebensweise vollen Anteil am geistigen Erbe des Judentums hatten. Umgekehrt sah auch die christliche Nachbarschaft am Juden nur den unüberbrückbaren Glaubensunterschied, was für Prediger wie ABRAHAM A SANCTA CLARA ein reichhaltiges Thema bot und letztlich auch die intransigente Haltung MARIA THERESIAS bestimmte.
Das insulare Dasein der Wiener Kolonie und ihre grundsätzliche Beschränkung auf Großkapitalisten führte freilich zu einer Verminderung der religiösen Kraft. Hier liegen die Wurzeln für die religiöse Haltung des Wiener Judentums im 19. Jahrhundert. Die Kolonie zählte lange Zeit nicht mehr als ein Dutzend Familien, kam aber auf einige hundert Köpfe, da z. B. zur Familie WERTHEIMER allein schon hundert Mitglieder gehörten. Viele Juden nahmen natürlich eine Anstellung in einem solchen Hause als Vorwand, um eine Aufenthaltserlaubnis in Wien zu erhalten und daselbst Geschäfte zu betreiben.
Ein anderer Vorwand war die türkische Staatsbürgerschaft, die einige zu erwerben suchten. Im Frieden von Passarowitz (1718) war nämlich vertraglich festgelegt worden, dass türkische Untertanen sich ungehindert in Österreich niederlassen durften (was natürlich auch vice versa galt). Infolgedessen kamen 1736 die ersten türkisch-jüdischen Familien nach Temesvar und Wien, wo ihre Lage ungleich günstiger war als die der österreichischen Juden. Die Anfänge der türkisch-israelitischen Gemeinde in Wien sind in legendäres Dunkel gehüllt; Tatsache ist jedenfalls, dass diese kleine Gruppe sephardischer (spanischer) Juden schon unter MARIA THERESIA eine Religionsgemeinde besaß, was ihren aschkenasischen Brüdern, der überwältigenden Mehrheit, erst durch FRANZ JOSEPH gewährt wurde.
Wie erwähnt, ordnete MARIA THERESIA 1744 und 1745 die »gänzliche Abschaffung" der Juden aus Böhmen und Mähren an - ein Dekret, das noch dem irrationalen Fanatismus früherer Tage verpflichtet war, wenngleich ausgelöst durch den Verdacht, dass die Juden im Kriege mit den Feinden zusammengearbeitet hätten. (Die Vertreibung fand übrigens am Ende, nach vielen Interventionen, nicht statt.) - Doch knappe zwanzig Jahre später hatte der Staatsrat der Kaiserin vor allem das Gemeinwohl und die Volkswirtschaft vor Augen, als er Grundsätze zur Behandlung der Juden aufstellte. Neben dem Handel mit inländischen Waren war jetzt die Anlegung von Fabriken (wo christliche Arbeiter angestellt werden mussten) ein Grund, der zur Gewährung des Aufenthalts hinreichen konnte.
Die Aufklärung setzte sich immer entschiedener durch. Der Jude wurde nicht mehr als der Vertreter einer inakzeptablen Religion gekennzeichnet und verurteilt; der universal geführte Kampf gegen das Vorurteil führte nun dazu, dass unter anderem das Bild des edlen Juden dem Publikum gezeigt wurde.
Die Abhebung der jüdischen Religion von der Person eines Juden wurde an einer Schlüsselfigur der österreichischen Aufklärung augenfällig: an JOSEPH VON SONNENFELS. Von ihm wusste alle Welt, dass er aus einer jüdischen und ausländischen Familie kam (sein Großvater war Landesrabbiner in Berlin) ; aber es scheint, dass gerade dieser Ursprung ihn befähigte, als »Mann ohne Vorurteil" wesentliche Elemente zur »österreichischen Staatsidee" beizutragen. Durch die Taufe gehört er der Geschichte der Juden nicht mehr an - es ist aber bemerkenswert, dass er sich vom Judentum nie als Renegat brüsk abwandte, sondern ein gewisses, nicht unfreundliches Verhältnis aufrechterhielt, etwa durch den gesellschafzlichen Verkehr mit der Familie des Barons ARNSTEIN, die erst in der nächsten Generation das Judentum verließ.
Es setzt nun eine jüdisch-österreichische Geschichte ein, die sich der Religionsstatistik teilweise entzieht. Die Berufung der Juden, "Osterreicher schlechthin", d. h. die idealen Bürger der Vielvölkermonarchie mit deutscher Amtssprache, zu werden, kündigt sich an.
Das Toleranz-Patent vom 2. Jänner 1782 ist ein Markstein in der Geschichte der österreichischen Juden, ja in der der europäischen Zivilisation überhaupt. Der Kaiser ging als der »unsterbliche JOSEPH" in die Überlieferung weiter jüdischer Kreise ein.
Die Wirkung, die der Josephinismus auf die Entwicklung der katholischen Kirche ausgeübt hat, kommt ihm im Prinzip auch hinsichtlich des zeitgenössischen Judentums zu, insofern die Kritik der Aufklärung gegen die Religion überhaupt gerichtet war. "Da waren sie nun, die typischen Religionsmenschen - als etwas anderes haben sich die Juden nicht anzusehen gewusst -, die lebenden Zeugen der vom Osten herübergepflanzten kirchlichen Gewalt". Die josephinische Aufklärung brachte der jüdischen Religion ein massives Misstrauen entgegen, da sie sie für die partikuläre Lebensweise der Juden verantwortlich machte. Soweit die christliche Umgebung und die bestehende Ordnung daran die Schuld trugen, versuchte der Kaiser, mit entsprechenden Reformen Abhilfe zu schaffen; von jüdischer Seite erwartete er ein gleiches Entgegenkommen: "Sorgfalt für die Aufrechderhaltung des gemeinschaftlichen Zutrauens" (Punkt 15 des Toleranz-Patents). Das Toleranz-Patent spricht einen rein profan begründeten Optimismus (und unverhohlenen Staatsegoismus) deutlich aus: "Da Wir die jüdische Nation hauptsächlich durch bessere Unterrichtung und Aufklärung ihrer Jugend und durch Verwendung auf Wissenschaften, Künste und Handwerke dem Staate nützlicher und brauchbarer zu machen zum Ziele nehmen..." (Punkt 7). Die religiösen Traditionen, die anscheinend nichts zum Nutzen des Staates beitragen, erfuhren eine höchst intolerante Behandlung: Öffentlicher Gottesdienst und eine öffentliche Synagoge blieben in Wien weiter verboten (Punkt 1). Die Juden sollten endlich eine gesicherte staatsbürgerliche Stellung erhalten. JOSEPH II. beseitigte die Vielzahl der kleinlichen Schikanen, die sich seit dem Mittelalter in der Gesetzgebung angehäuft hatten, mit einem Federstrich, was moralisch von großem Gewicht war -, aber die weitgehende Aufgabe des religiösen Fundaments wurde ihnen zur Bedingung gemacht. In dieser Alternative lag eine ungeheure Gefahr, nämlich die einer unblutigen Vernichtung des Judentums, die die Martyrien früherer Jahrhunderte an Ausmaß und Wirkung hätte übertreffen können.
Zur richtigen Beurteilung der josephinischen Toleranz gegenüber den Juden und ihrer weiteren Entwicklung müssen zwei Dinge festgehalten werden:
1. dass die österreichische Monarchie ein ziemlich starkes jüdisches Bevölkerungselement zählte, das besondere Beachtung verlangte;
2. dass später eine differenziertere Betrachtung der jüdischen Religion einsetzte und der rein aufklärerisch-liberale Standpunkt verlassen wurde.
Zunächst muss man also bei der Geschichte der Wiener Juden als Hintergrund die "Judenschaft" der gesamten Monarchie sehen. - Zu Ende der Regierung MARIA THERESIAS lebten in Böhmen und Mähren etwa 40000 Juden, außerdem noch kleinere Gruppen in den Vorlanden und in den italienischen Provinzen. Durch die erste polnische Teilung von 1772 kam jedoch Galizien mit 150000 Juden hinzu; weitere 50000 lebten in der Bukowina, die bald danach besetzt wurde. Diese zuletzt Genannten lebten in zahlreichen Gemeinden abgesondert und bildeten eine eigene Nation mit eigener Sprache. Eine Mauer von Vorurteilen schien jeden Versuch "besserer Unterrichtung und Aufklärung" zurückzuweisen. Dagegen sollte die Kolonie der Wiener Juden ein Muster werden; die Obrigkeit ließ sie daher gleich gar nicht eine Gemeinde nach den vom Judentum überlieferten Normen bilden. Die Bewahrung der religiösen Substanz hing damit allein von Hauslehrern und von privaten Betstuben ab.
Im übrigen war das Verhältnis des Judentums zur Aufklärung durch Extreme tragisch bestimmt: entweder strikte Ablehnung jeder weltlichen Bildung oder hastige Angleichung an die Umgebung -und das war in vielen Einzelfällen nur eine Vorstufe zur völligen Aufgabe des Judentums.
Auf die klassisch josephinische Aufklärung, die erst im Liberalismus der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder aufleben und voll ausreifen sollte, folgte eine Reaktion, die die bewahrende Funktion der Religion im allgemeinen, also auch der jüdischen, zu schätzen wusste. Unter Kaiser FRANZ kam es zu einem Stillstand, der durch ein großes Misstrauen gegen alle Bestrebungen der Juden, die im übrigen genauestens überwacht wurden, gekennzeichnet war. Für diese Haltung typisch war die Schaffung des "Judenamtes" an der "Linie" in Wien, das, zunächst provisorisch errichtet; bis 1848 eine unrühmliche Kontrolle mit vielen Schikanen ausübte. Allerdings wurde auch ein wichtiger Schritt zur inneren Konsolidierung getan, als der Kaiser im Juni 1792 das Ansuchen der Wiener Israeliten genehmigte, eine Deputation zu wählen, welche im Namen der Wiener Judenschaft zu handeln befugt sei. Damit begann die Zeit der" Vertreter und Repräsentanten der israelitischen Einwohner Wiens". Was die religiöse Entwicklung angeht, kann man sagen, dass die josephinische Versuchung, d. h. die systematische Schwächung der Substanz des Judentums, ihre Wirkung nicht verfehlte. Manche aus den arrivierten Familien begannen sich ihres Judentums zu schämen und hatten zumindest keinen Einwand, wenn es ihre Kinder durch die Taufe verließen.
Die Treugebliebenen standen vor einem Dilemma, da sie ihre religiöse Praxis mit einer äußerlichen Würde des Kultus, der dem Milieu der Haupt- und Residenzstadt angemessen sein sollte, zu verbinden trachteten. In deutschen Städten wie Hamburg und Berlin kam es zur Gründung von Reformsynagogen, die eher eine missglückte Nachahmung des Protestantismus (deutscher Gottesdienst, Betonung der Predigt) waren. Den Wiener " Vertretern" gelang es zunächst (1812), ein Haus in der heutigen Seitenstettengasse zu erwerben und darin einige Räume für Lehr- und Kultzwecke einzurichten. Im Jahre 1820 verlangte der Kaiser in einer Entschließung u. a., dass "die Gebete, Religionsübungen und Belehrungen in den Synagogen... in der deutschen oder der Landessprache abgehalten... werden", was einer Reform entgegenzukommen schien. Als aber eine reformierte Betstube eingerichtet werden sollte, genügte ein Vortrag SEDLNITZKYS mit Stichwörtern wie Deismus, Protestantismus, Schisma u. ä., um das ungeteilte Missfallen des Kaisers hervorzurufen. Andererseits kam es immer wieder vor, dass jüdische Autoritäten das brachium saeculare anriefen, die Einhaltung der religiösen Vorschriften in ihren eigenen Reihen zu überwachen.
Eine wahre religiöse Regeneration kam jedoch mit dem Wirken ISAK NOA MANNHEIMERS (1793-1865). Er stammte aus Kopenhagen, hatte schon in deutschen reformierten Gemeinden Erfahrungen gesammelt und sich erstmals 1823 in Wien als Prediger vorgestellt. Auf ihn fiel die Wahl der Vertreter, als im Zuge des Umbaus des Hauses in der Seitenstettengasse ein großes Bethaus (der Stadttempel, 1826 eingeweiht) errichtet werden sollte. Auf Grund einer Anstellung als Religionslehrer (ein Rabbinat war in Wien nicht zugelassen) trat er sein Amt an. Als erstes musste er sich mit den Vertretern über den künftigen Ritus für das neue Bethaus einigen. Das Ergebnis, der "Wiener Minhag", war ein Kompromiss, eine " wienerische Lösung", wie Außenstehende ironisch bemerkten, aber sehr brauchbar und würdig, von vielen als Vorbild betrachtet. Hebräisch wurde als liturgische Sprache durchwegs beibehalten, es gab hingegen Kürzungen gewisser Gebete, anstelle des talmudischen Vortrags trat die deutsche Predigt.
Das größte Verdienst dieser gemilderten Reform bestand darin, dass es in Wien, und damit in Österreich, nie zu einer Teilung in Gemeinden verschiedener Observanz kam, etwa in "Orthodoxe" und "Neologen", wie z. B. in Ungarn. Der Stadttempel und der Gottesdienst in ihm verbanden zweifellos die jüdischreligiöse mit der lokalen Atmosphäre: Die Synagoge war ein Werk des Wiener Biedermeierarchitekten J. KORNHÄUSL; als Kantor wurde SALOMON SULZER (1804 bis 1890), der mit seinen 22 Jahren schon ein vollendeter Meister war, aus Hohenems berufen. Auf ihn geht die künstlerische Gestaltung des alten Synagogengesanges zurück, ein Werk, das heute noch in Hunderten von Synagogen der westlichen Welt Gültigkeit hat.
Ein anderes geistiges Zentrum des Judentums in Wien war das Verlagshaus des Christen ANTON VON SCHMID, "k. k. privil. und N. Oe. Landschafts - deutsch und orientalischer Buchdrucker", der als Autoren und Korrektoren jüdische Schriftsteller von Rang beschäftigte. Er besaß seit Anfang des Jahrhunderts das Privileg, hebräische Gebetbücher für die ganze Monarchie drucken zu dürfen, gab jedoch auch der jüdischen Aufklärung durch die Edition von Jahrbüchern und anderen Werken nach der Berliner Periode in Wien eine zweite Heimstatt.
Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die " Wissenschaft des Judentums", die um 1820 in Berlin begründet worden war, in den Kreisen der Wiener Juden kaum ein Echo fand. Ihr Verhältnis zur Religion war im allgemeinen weder durch intellektuellen noch durch frommen Eifer geprägt, sondern passte sich eher dem Rahmen des gesellschaftlichen Lebens an, wie sie es bei ihren katholischen Nachbarn sahen.
Die Toleranz war zwar in Wahrheit ein demütigendes Ausnahmerecht, dem alle Juden in Wien unterworfen waren, doch empfanden die Betroffenen die Demütigung weniger. Die Bezeichnung " Tolerierter" erschien ihnen ein begehrter Titel, der nicht selten durch einen wirklichen Adelstitel ergänzt wurde. Unter Kaiser FERDINAND trat de jure keine Besserung ein, das "Judenamt" ging jedoch immer laxer vor. Wenn 1800 121 Familien = 903 Personen zugelassen waren, so erreichten 1847 schon 197 Familien ihre Zulassung, wobei insgesamt mindestens 4000 Juden unter den Augen der Behörde in Wien lebten.
Die Teilnahme von Juden an der Revolution von 1848 ist bekannt. Dabei handelte es sich keinesfalls nur um einzelne oder Randschichten, wie dies öfters bei Bewegungen zutrifft, die kurzerhand als jüdisch bezeichnet werden. Das geistliche Oberhaupt der Wiener Juden, I. N. MANNREIMER, trat persönlich in den Vordergrund. Seine Grabrede bei der Beerdigung der Märzgefallenen wurde in Tausenden von Flugblättern verbreitet. Später zog er als Deputierter von Brody in den konstituierenden Reichstag ein und ergriff bei der Debatte über die Abschaffung der Judensteuer selbst das Wort.
Die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849 enthielt den entscheidenden Grundsatz, dass der Genuss der Rechte von dem Religionsbekenntnisse unabhängig sei (§ 1). Sie löste damit unter den Juden, die gerade zum Purimfest rüsteten, großen Jubel aus. Einen Monat später erschienen die Vertreter der Wiener Juden beim jungen Kaiser in Audienz, um ihre Dankadresse zu überbringen. In seiner Antwort sprach der Monarch wörtlich von der "israelitischen Gemeinde von Wien". Damit war das erlösende Wort gefallen: die Juden durften zum ersten Mal seit 1670 in Wien wieder eine Gemeinde haben.
Nun wurde ein Gemeindestatut ausgearbeitet und in seiner ersten Form im Jahre 1852 genehmigt. Es sicherte der Gemeinde volle Autonomie und befreite die religiösen Institutionen von der behördlichen Bevormundung. - Der Neo-absolutismus brachte wieder Rechtsunsicherheit und auch einige Rückschläge für die Juden; eine Besserung kam im Gefolge der unglücklichen Kriege von 1859 und 1866. Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 verbürgte endlich die uneingeschränkte Emanzipation.
Mit dem Gemeindestatut änderte sich freilich nicht viel am Geiste des Wiener
Judentums, da es immer noch dieselbe assimilierfreudige schicht von "k. u.
k. priv. Großhändlern" war, die die Führung innehatte. Die Entwicklung
wurde hingegen seit 1849 dadurch bestimmt, dass aus den Ländern der Monarchie,
vor allem aus den östlichen und den ungarländischen Provinzen, ein immer
stärker werdender Zustrom von Juden nach Wien einsetzte. Damit war es um den
isolierten Zustand der jüdischen Bürger Wiens geschehen, kein Judenamt
kontrollierte mehr die Brücke, die sie mit dem weiten Hinterland verband, wo
das Judentum noch religiös und zugleich national lebendig war. Der
Spätaufklärer K. E. FRANZOS beschrieb diese Welt in seinen Erzählungen
"Aus Halb-Asien":
"Hier sind und bleiben die Juden, wozu sie Rasse, Glaube, Druck von außen
gemacht und was sie, Gottlob! im Westen nicht mehr sind: eine Nationalität mit
schärfstens ausgeprägtem Charakter, eigenartig in Glaube und Sprache, Sitte
und Gewohnheit, Tracht und Lebensanschauung..."
Bis zum Jahre 1880 wuchs der jüdische Anteil der Wiener Bevölkerung auf 72600, das waren 10%. - Die Kultusgemeinde verwaltete neben dem Stadttempel, dem im Laufe der Jahre Synagogenbauten in den meisten Wiener Bezirken folgten, eine große Anzahl caritativer Anstalten (Spitäler, Waisenhäuser, Kindergärten, Blinden- und Taubstummeninstitut usw.), hervorgegangen aus Stiftungen ihrer reichen Mitglieder. 1863 gründete DR. JELLINEK, ein liberal eingestellter Rabbiner (er selbst nannte sich grundsätzlich nur Prediger), ein jüdisch-wissenschaftliches Institut "Bet-ha-midrasch", das dreißig Jahre später in der israelitisch-theologischen Lehranstalt aufging; doch Lehrer wie Schüler kamen zumeist aus Galizien. "Das jüdische Wien, das gebildete Wien hatte überhaupt kein wirkliches Interesse an Rabbinern oder Judentum. Die Wiener Juden waren an der allgemeinen Kultur, nicht an der jüdischen Kultur interessiert und in ihr äußerst aktiv und prominent" - so erinnert sich H. TUR-SINAI (TORCZYNER), der Pionier der Hebräischen Universität Jerusalem, der Kindheit und Studienjahre in Wien verbrachte.
In vielen Bethausvereinen sammelten sich die nach Herkunft und religiöser Einstellung verschiedenen Gruppen von Juden. In der Leopoldstadt, wo früher einmal das Ghetto im Unteren Werd bestanden hatte, konzentrierten sich die sozial tieferen und den religiösen Traditionen fester verbundenen Schichten. Trotz dieser Unterschiede kam es nie so weit, dass eine streng orthodoxe Richtung sich als separate Gemeinde konstituiert hätte. Während Minister THUN solchen Versuchen noch seine Sympathie bekundet hatte, konnten diese nach dem Einzug des Liberalismus in die Politik nicht mehr auf Unterstützung von Seiten der Regierung rechnen.
Im Jahre 1871 standen einige weitergehende Neuerungen des bewährten MANNHEIMER-Ritus auf der Tagesordnung; die Entwürfe des dazu eingesetzten Komitees wurden in einem Kompromiss entschärft und dadurch der Friede hergestellt.
Die umstrittenen Änderungen werfen ein Licht auf die herrschende liberale Theologie, die auch vor dem Judentum und seiner "Orthopraxie" nicht halt machte. - Im täglichen Gebet, nach der Reihe der Bitten "Achtzehngebet" genannt, das auf die Tradition der ältesten Lehrhäuser Palästinas zurückgeht, sind die Bitten um die Rückkehr nach Jerusalem, um das Erscheinen des Messias und um den Wiederaufbau des Tempels enthalten. Für ein wahrhaft jüdisch-gläubiges Selbstverständnis sind solche Gebetsformeln wesentliche Tradition und zugleich Ausdruck einer realen Hoffnung. Nicht so für Staatsbürger, die sich allein durch die "mosaische Konfession" von den Nachbarn unterscheiden und dabei jeden Schatten einer primitiven Stammesreligion ängstlich vermeiden, indem sie das Erbe der Torah auf unverbindliche humanitäre Ideale reduzieren. Weder der Oberrabbiner DR. GÜDEMANN noch die aus religiös-lebendigen Familien des Ostens kommenden Kräfte ließen aus Prinzip einen solchen Angriff auf die Tradition zu.
Vielleicht darf man die spezifische Erscheinung des österreichischen Judentums so definieren, dass es als konfessionell gesonderte Gruppe nicht assimiliert, sondern integriert wurde; das heißt, zur "dominierenden Religion", nämlich dem österreichischen Katholizismus, gesellte sich ein ebensolches Judentum, das die religiöse Fundierung des Staates noch weiter vervollständigte. (In Ungarn hatte die israelitische Religionsgemeinschaft seit ihrer "Rezeption" durch Gesetz von 1895 einen staatskirchlichen Charakter.) Zwar erkannten die katholische Kirche und das Judentum, die beide auf ihre Art universal und supra-national waren, durchaus nicht die Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit, die sie - neben Adel, Armee und Beamtentum - als hervorragende Träger des österreichischen Staatsgedankens hatten; doch steht die Funktion des Judentums als bindendes Element in der Habsburgermonarchie heute außer Frage. Gerade die aus den östlichen Kronländern in die Hauptstadt des Reiches einströmenden Juden wurden sich ihrer kosmopolitischen Berufung, nämlich innerhalb des Kosmos der österreichischen Monarchie, bewusst wie in SONNENFELS dieses jüdisch-österreichische Motiv das erste Mal anklang, so war es wieder ein Jude, ADOLPH FISCHHOF, der lange nach seiner jäh abgebrochenen politischen Karriere von 1848/49 Verheißung und Verhängnis des Vielvölkerstaates erkannte und für ihn eine beispielhafte Theorie entwarf.
Deutlicher tritt die jüdisch-österreichische Politik in einem seiner Jünger hervor, in dem aus Galizien gebürtigen Rabbiner von Wien-Floridsdorf, Dr. J. S. BLOCH, der als Abgeordneter des Wahlkreises Buczacz-Kolomea im Reichsrat Mitglied des Polenklubs war und energisch für die Interessen des Judentums eintrat, vor allem gegen antisemitische Angriffe verschiedener Art. In seiner Schrift "Der nationale Zwist und die Juden in Österreich" bekräftigte er die "großösterreichische" Funktion der Juden.
Diese Auffassung widersprach den Vorstellungen von einer eigenen jüdischen Nation, wie sie im Zusammenhang mit einer föderalistischen Neuordnung der Monarchie und schließlich vom Zionismus gefordert wurde. - Manche der Projekte, die, übrigens in den Spuren FISCHHOFS, eine Verfassungsreform auf föderalistischer Grundlage vorsahen, wollten die Juden als geschlossene Volksgruppe berücksichtigt haben. In der Praxis war dies jedoch nicht möglich, weil nach den geltenden Gesetzen eine als "landesübliche Sprache" anerkannte Umgangssprache das einzige Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Nationalität war. Jiddisch blieb aber bis zuletzt eine lokale Sprache, die keinerlei gesetzlichen Schutz genoss.
Der Zionismus, der in seiner heutigen Auffassung der Vision des Wiener Journalisten TH. HERZL entsprang, hatte zwar zunächst mit dem religiösen Leben der österreichischen Juden wenig zu tun; doch die Persönlichkeit HERZLS und die Reaktion des "offiziellen" Wiener Judentums sind sehr aufschlussreich für die damalige religiöse Situation. Dr. HERZL war das Beispiel eines assimilierten, seinem Glauben ziemlich entfremdeten Juden. Bevor er 1896 den "Judenstaat" veröffentlichte und in der Folge eine Massenbewegung vor allem unter den Juden Osteuropas auslöste, hatte er schon an eine Massentaufe im Stephansdom gedacht. Er selbst hatte das Judentum "nicht durch die Liebe des Mardochäus, sondern durch den Hass des Haman" erfahren, d. h. er wurde sich seiner erst wieder bewusst, als er eine Feindschaft gegen Menschen aufflammen sah, einfach deswegen, weil sie Juden waren. - Entsprechend seinem eigenen Leben war sein "Judenstaat" säkularisiert; erst die zahlreichen Anhänger, die aus einem von der jüdischen Tradition geprägten Milieu kamen, gaben dem Ziel Zion seinen vollen, letztlich biblisch begründeten Sinn zurück.
Auf der anderen Seite wieder lehnten der Oberrabbiner und die prominenten Mitglieder der Kultusgemeinde von ihren Voraussetzungen her ein solches "Nationaljudentum" (so der Titel einer Gegenschrift von Oberrabbiner Dr. GÜDEMANN) ab. Die lange Diaspora, insbesondere die Entwicklung in Europa seit der Emanzipation, hatte ihren festen Platz im theologischen Selbstverständnis des Judentums gefunden. Der providentielle Sinn der Zerstreuung besteht demnach positiv darin, dass die Botschaft der Torah in alle Teile der Ökumene getragen wird und Israel durch seine bloße Präsenz (zum Unterschied vom christlichen Apostolat) seine Mission unter den Völkern der Welt als signum elevatum in nationes (nach Jesaia XI, 12) erfüllt. Eine Konstituierung als Nation zusammen mit einer generellen Rückkehr nach Palästina erschien daher nicht nur als aussichtslose Illusion, sondern vor allem als ein nicht wünschenswerter Rückschritt.
Für das österreichische Judentum war in der Tat Wien die Mutterstadt und Kaiser FRANZ JOSEPH die erhabene Vatergestalt. Die Wiener Gemeinde war nächst Warschau die größte, aber an Bedeutung wohl von keiner auf dem Kontinent übertroffen. Der politische Antisemitismus, dessen hässliche Auswüchse seit den neunziger Jahren die Öffentlichkeit verwirrten, konnte kein Grund zur Flucht werden, sondern forderte vielmehr zum Kampfe heraus, dem die Juden durchaus gewachsen waren. Wien und seine Juden gehörten zusammen; der jüdische Anteil der Bevölkerung, besonders an den geistigen Berufen, hatte das Gesicht der Stadt mitgeprägt - aber auch Wien übte auf die in ihm wohnenden Juden seine Wirkung aus und wandelte sie nach seinem Bild.
Es ist noch anzumerken, dass das jüdische religiöse Leben sich nicht mehr auf Wien allein beschränkte, nachdem von 1868 an der Bildung von Kultusgemeinden an anderen Orten kein gesetzliches Hindernis mehr im Wege stand. Die Toleranz hatte den Juden nur den Besuch von Märkten gestattet, sie aber nirgends "neu eingeführt", erst durch das Staatsgrundgesetz waren ihnen ungehinderter Aufenthalt und Religionsausübung auf dem Gebiet der heutigen Bundesländer erlaubt. So entstanden während der letzten Jahrzehnte der Monarchie in vielen Städten, Kurorten u. dgl. größere oder kleinere Kultusgemeinden. - Im Jahre 1914 wurde in Innsbruck das Rabbinat für Tirol und Vorarlberg errichtet bzw. von Hohenems nach Innsbruck verlegt, da die meisten Familien das Gebiet der alten Gemeinde verlassen hatten.
Der Erste Weltkrieg und sein Ende machten das österreichische Judentum heimatlos, obschon es äußerlich nicht gleich spürbar wurde. Durch die Flüchtlinge aus Galizien und deren Einbürgerung stieg die Zahl der Juden in Wien auf über 200.000. Die streng-religiöse Richtung gewann an Stärke; erstmals kamen auch chassidische "Rebben" mit ihren Jüngern nach Wien. Die Kultusgemeinde revidierte ihre Einstellung zum Zionismus; viele Vorstandsmitglieder, nicht zuletzt der neue Oberrabbiner, bekannten sich zu ihm. Im Jahre 1918 wurde eine überragende Persönlichkeit zu diesem Amt berufen: HIRSCH PEREZ CHAJES, der in der Wissenschaft und in der Seelsorge Außerordentliches leistete.
Das rege Leben der Gemeinde änderte aber nichts daran, dass die Juden nur überlebende eines Österreich waren, das es nicht mehr gab. "Da nun Österreich zerstört worden war, war auch die staatliche Basis der Juden zerstört. Man brauchte keine Österreicher mehr, es gab jetzt nur noch Deutsche".
Wenngleich niemand die künftige physische Bedrohung ahnte, gaben schon die einseitig großstädtische Siedlungsweise der Juden und ihre Trennung vom Hinterland Anlass zur Besorgnis. Zwischen 1860 und 1920 hatte sich die jüdische Bevölkerung fünfmal stärker vermehrt als die gesamte Bevölkerung Wiens - eine Vermehrung, die fast ausschließlich der Zuwanderung zuzuschreiben ist. So kam es, dass 1923 von den 230000 Juden in der Republik Osterreich mehr als 200000 in Wien, und hier wieder auf einige Bezirke konzentriert, lebten.
Das 1932 erschienene "Jüdische Jahrbuch" zählt 16 Tempel und 63 Bethausvereine auf; neben der theologischen Lehranstalt gab es noch ein Pädagogium, das Chajes-Realgymnasium und eine Elementarschule des Talmud-Torah-Vereines. Allein im 2. Bezirk wurde in 15 Sprach- und Bibelschulen Unterricht erteilt. Der Kultusgemeinde unterstanden eine große Zahl caritativer und kultureller Einrichtungen, von denen nur die Bibliothek (und das Archiv) in der Seitenstettengasse und das Jüdische Museum in der Malzgasse erwähnt seien. Die zu Beginn des Jahrhunderts gegründete "Historische Kommission" veröffentlichte seit 1908 "Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich", die bis 1931 auf zehn Werke angewachsen waren.
Eine Veränderung, die wohl zahlenmäßig gering, aber historisch von Bedeutung war, brachte die im Jahre 1921 vollzogene Annexion des Burgenlandes mit sich. In diesem neuen Bundesland lebten unter ca. 300000 Katholiken und Protestanten etwa 3500 Juden in alten, traditionsreichen Gemeinden, die bis 1848 Esterhazysche (Siebengemeinden) und Batthyanysche Schutzjuden (Schlaining, Rechnitz, Güssing) gewesen waren. Sie waren der religiösen Observanz nach orthodox, der Abstammung nach, Nachkommen des deutschen Judentums von einst. Nach der Lösung von der orthodoxen Landeskanzlei in Budapest schlossen sich die Gemeinden zum" Verband der autonomen orthodoxen israelitischen Gemeinden des Burgenlandes" zusammen. Die Juden von Wiener Neustadt, die vielfach aus burgenländischen Gemeinden stammten, folgten nun gleichfalls dem orthodoxen Ritus.
Der "Anschluss " des Jahres 1938 besiegelte über Nacht das Schicksal aller österreichischen Juden, die trotz genügender Informationen und böser Ahnungen kaum vorbereitet von der Katastrophe überrascht wurden. Eine Verfolgung brach aus, die sich mit mittelalterlichen Vorbildern nicht vergleichen, noch weniger begründen lässt. Besitz, Ehre und Leben von Juden waren mit einem Male der Willkür ausgelieferte Objekte - ein Prinzip, das für einen zivilisierten Staat ungeheuerlich ist, aber dennoch ohne hörbaren oder gar wirksamen Protest zur Kenntnis genommen wurde. In diesem Prinzip sind alle Grausamkeiten bis zur "Endlösung" in den Gaskammern schon enthalten. Hier sollen nur wenige Zahlen sprechen: Zu Ende des Jahres 1945 lebten in Wien 2142 Juden, also etwas mehr als 1% der früheren Gemeinde. Berechnungen über die Zahl der Opfer kommen zu dem Ergebnis von etwa 65.000. Das bedeutet, dass ein Drittel der österreichischen Juden ermordet wurde. Es ist begreiflich, dass bei einer solchen Katastrophe die Geschichte nicht einfach nach einer Pause von sieben Jahren fortgesetzt werden kann. Ein Teil der jüdisch-österreichischen Familien lebt nunmehr in den Vereinigten Staaten und in Israel; Österreich ist nur noch eine Erinnerung, oft stehen nicht einmal die Grabsteine der alten Gemeindefriedhöfe.
Gewiss, das Judentum ist als Religion heute wieder präsent - die Wiener Kultusgemeinde, der Stadttempel, der Wiener Minhag, Altersheim, Friedhöfe, all das besteht weiter. Auch in den Bundesländern konnten die Kultusgemeinden zumeist wiederbegründet werden. Aber die Zahl derer, die das Judentum bekennen und ausüben, ist doch sehr klein. Ein trauriges Beispiel: im ganzen Burgenland könnte man heute keinen Minjan (die zum Gottesdienst erforderliche Mindestzahl von zehn Männern) mehr zusammenbringen.
Aber eine Erkenntnis bleibt wahr und ist gerade durch das Unglück deutlicher geworden: dass das Judentum einen unaufgebbaren Anteil am Wesen Österreichs hat - und dieser Anteil soll auch unvergessen bleiben.
mit freundlicher Genehmigung des
Autors
Institut
für Geschichte der Juden in Österreich
Nikolaus Vielmetti, Dr. phil., Wien