Das älteste Christentum auf dem Boden unserer Heimat ist nur zu verstehen, wenn die vordringlichste Aufgabe der Provinzen Pannonien und Noricum in Erinnerung gerufen wird, wenn bedacht wird, dass im späten 2. Jahrhundert, als die Germanen im zunehmenden Maße nach dem Süden drückten, an der Donau in erster Linie für die Sicherheit Italiens und der Ewigen Stadt gesorgt werden musste. Aus diesem Grunde wurden damals in dieser Gegend hauptsächlich militärische Anlagen und Einrichtungen gefördert und ausgebaut, wurden zahlreiche Heerlager und Garnisonen errichtet, die Menschen in großer Zahl erforderten und einen steten Zuzug nötig machten. Die Soldaten für diesen Grenzschutz kamen aus allen Gegenden des Reiches, zum erheblichen Teil aber aus dem Orient, wo es Bevölkerungsüberschuss gab. Für alle, die dort aufgewachsen waren, bedeutete aber der Kriegsdienst im mitteleuropäischen Klima eine besondere Belastung, eine Härte, die oft sogar als Strafe empfunden wurde. Da dieses Schicksal vor allem jene Gruppen traf, die ganz allgemein zum Christentum tendierten, überrascht es nicht, wenn wir unter den Legionären die ersten Anhänger der neuen Lehre im Ostalpenraum finden.
Es wird berichtet, unter MARC AUREL habe 172 im Donauraum ein Gewitterregen ein Gefecht gegen Germanen auf wunderbare Weise entschieden, was nach Ansicht mancher Zeitgenossen von einer heidnischen Gottheit, nach anderer Version aber durch das Gebet christlicher Soldaten ausgelöst war. Die Polemik darüber berührt uns nicht, sie zeigt jedoch, dass sich zu dieser Zeit in den Einheiten am Limes bereits Christen befanden. Von deren Geschick erfahren wir nichts, abgesehen von diesem knappen Hinweis auf ihre bloße Existenz. Die Quellen berichten weder vom Verhalten, noch von den Eigenheiten der Religionsgemeinschaft, sie bleiben stumm und informieren erst wieder, dass zu Beginn des 4. Jahrhunderts während der Christenverfolgungen auch zu Lauriacum Anhänger des Messias lebten. Zu ihnen zählte auch FLORJAN "ex principe officii praesidis" (Kanzleivorstand des Statthalters), der vielleicht auch eine militärische Laufbahn hinter sich gebracht hatte - das Christentum ist also noch immer hauptsächlich unter Soldaten verbreitet - und dessen Martyrium nicht nur dem Mittelalter bewusst blieb, sondern auch der Gegenwart gut bekannt ist. Über dieses Wissen hinaus konnte vor einiger Zeit mit Argumenten, die durchaus einleuchten, belegt werden, dass neben FLORIAN auch noch andere getötet wurden oder in der Haft umkamen. Die Christengemeinde zu Lauriacum dürfte demnach nicht allzu klein gewesen sein.
So ist es verständlich, dass wenig später auf dem Konzil zu Serdica im Jahre 343 Bischöfe aus Noricum anwesend waren. Diese Tatsache darf aber nicht dazu verleiten, Qualität und geistige Potenz des norischen und pannonischen Christentums hoch einzuschätzen. In die erregten und heftigen Glaubensstreitigkeiten dieser Zeit griffen die Gemeinden des Ostalpenraums nicht ein, sofern wir diesem nicht Pettau zurechnen, wo VIKTORIN wirkte, und konnten daher in diesem wichtigen Abschnitt der Kirchengeschichte keine Rolle spielen. Es gab an der oberen Donau keine Fachleute, die imstande gewesen wären, die theologischen und philosophischen Streitgespräche, die den Osten und Süden so sehr belasteten, aufzunehmen, geschweige denn weiterzuführen. Die Schriftlichkeit, das wichtigste Fundament spätantiker Kultur, dürfte demnach für die Christen unserer Heimat im frühen 4. Jahrhundert noch eine geringe Rolle gespielt haben, obwohl die Auseinandersetzung mit schriftlicher Tradition fundamental für die neue Lehre war. Zu diesem Schluss zwingen auch unsere Belege über die Verbreitung der lateinischen Bibel zu dieser Zeit - die griechische Version dürfte wegen Sprachschwierigkeiten für die Bevölkerung Pannoniens und Noricums bedeutungslos gewesen sein. Denn wenn auch die auf uns gekommenen Nachrichten die Bedeutung der afrikanischen Gemeinden, vielleicht sogar deren übergewicht erkennen lassen - zu Cirta wurden 303 nicht weniger als 34 Handschriften beschlagnahmt -, so muss doch damit gerechnet werden, dass daneben auch Rom, Italien und Gallien an der Verbreitung der lateinischen Bibel ihren entscheidenden Anteil hatten. Dagegen gibt es keinen Hinweis, dass auch die Gemeinden des Ostalpenraumes in diese Entwicklung eingegriffen hätten. Wegen mancher Begleitumstände, auf die wir gleich kommen werden, ist es daher fraglich, ob alle Gemeinschaften Heilige Bücher, die in anderen Gegenden zahlreich nachweisbar sind, besaßen und über die wichtigsten Probleme Bescheid wussten. Die Geschichtswissenschaft vertritt folglich auch keine einhellige Meinung über das Geschick der Kirche Noricums. Manche Fachleute vermuten für das 4. Jahrhundert im Alpenraum ein gut organisiertes Christentum, das aber nach Ansicht anderer, wenn Vergleiche mit Italien und Gallien gezogen werden, eher dürftig gewesen sein soll.
Zu diesem Ergebnis kommen wir auch, wenn wir die wenigen Quellen interpretieren; sie lassen gleichfalls vermuten, dass das Christentum des Ostalpenraums zunächst nur in schlichter Form existierte und mit vielen heidnischen Elementen durchsetzt war. Zu diesem Schluss nötigt ein Grabstein, den der "miles Flavius lanuarius" seiner Gattin Ursa zu Ovilava setzte. Die Frau wurde von ihrem Mann, der wohl auch Soldat gewesen war, als "crestina fidelis", als ergebene Christin gepriesen; im gleichen Atemzug äußert aber der Witwer heidnische Jenseitsvorstellungen; er spricht vom grausamen "fatum" und "tartarus" und beklagt die ewige Bestattung. Er verzichtet, auf die in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Auferstehung hinzuweisen, und er lässt nicht einmal die gängigen Lebenssymbole am Gedenkstein anbringen. Wegen dieser Gegebenheiten dürfen wir vermuten, dass er nicht allzugut die Glaubenssätze des Christentums kannte.
Diese Belege, so spärlich sie auch sind, zeigen doch recht eindeutig, dass das Christentum im Donauraum offensichtlich von wenig gebildeten Menschen verbreitet worden war. Soldaten, Händler, Sklaven sind hier zuerst für Christus eingetreten, ohne dessen Gebote in allen Einzelheiten zu kennen. Die Christianisierung war gewiss nicht von geschultem Personal, sondern von begeisterten, theologisch aber sicherlich nur schlecht informierten Anhängern Jesu vorangetrieben worden, die sicherlich mehr ein starkes Gemeinschaftsbewusstsein und weniger der Wille verband, die Welt streng nach den Glaubenssätzen umzuformen. Als dann diese Gemeinden dank kaiserlicher Vorschriften manche Aufgaben, darunter auch einige weltliche Agenden, erfüllen sollten, entwickelten sie sich in einer Richtung, die oft nicht den orthodoxen Vorstellungen entsprach, wie sie in den Zentren der Christenheit verfochten wurden. Sie mussten daher immer wieder Reorganisationen und Reformen unterworfen werden, von denen selbst die Zeitgenossen nicht genau wussten, ob diese Versuche nur als Erneuerungsbewegung oder nicht besser als neue Bekehrungen, als abermalige Missionierung anzusprechen wären. Unter dem Schlagwort Christianisierung ist daher auf dem Boden unserer Heimat ein komplizierter Prozess zu verstehen, der von der Antike bis zur Karolingerzeit währte.
Es verging Zeit, ehe die Worte Jesu hier besser verstanden wurden. Einen ersten Beleg für diesen Fortschritt finden wir im späten 4. Jahrhundert, als der heilige AMBROSIUS der Fritigil, einer "regina Marcomannorum", einen Brief in der Art eines Katechismus übersandte. Nach diesem Zeugnis gewannen offensichtlich die norischen Gemeinden erst bessere theologische Informationen, als sich im Abendland das lateinische Christentum konsolidierte und anerkannte Autoritäten hervorbrachte. Für diesen Umschwung gibt es noch andere Belege; es ist erwiesen, dass um 400 gegen das Heidentum schärfer vorgegangen wurde. Damals wurden zu Virunum, zu St. Margarethen im Lavanttal und zu Teurnia Heiligtümer des Jupiter Dolichenus und Mars Latobius zerstört. War man früher dem Heidentum oft indifferent gegenübergestanden und hatte man sogar daraus Elemente übernommen, so zog man nunmehr klarere Grenzen. Das Schema des Tempelsturms verrät ferner, dass beim Vernichten die Sätze christlicher Lehre recht genau beachtet wurden. Die Kultbilder wurden sorgfältig zerschlagen, die Trümmer in eine Grube geschüttet, die Weiheinschriften wurden unsichtbar gemacht, die Opfergaben zerstreut oder gründlich beseitigt. Vieles spricht dafür, dass dem Bibelwort gefolgt wurde, es solle kein Stein auf dem anderen bleiben.
Es wurde aber nicht nur zerstört, es wurde auch gebaut. Die ältere Forschung hatte von diesen Leistungen kaum die rechte Vorstellung; wir wissen erst seit wenigen Jahrzehnten, seit die Frühmittelalterarchäologie immer wieder Fundamente und Reste frühchristlicher Gotteshäuser entdeckt, dass die Zahl der Kirchen gar nicht gering war und dass sie bereits im 5. Jahrhundert Qualität besaßen, wie die Objekte zu Teurnia, Aguntum und Lavant zeigen, um einige besonders schöne Beispiele zu nennen.
Doch auch diese Erfolge - besseres Wissen um die Glaubenslehren, Distanzierung vom Heidentum, leistungsfähigere Organisationen und schönere Gotteshäuser - befriedigten nicht lange. Noch gab es viele Heiden, ganz abgesehen davon, dass das Verhalten vieler Christen erkennen ließ: die neue Lehre wurde kaum verstanden und begriffen. Schon wegen dieser Voraussetzungen musste noch im 5. Jahrhundert das Christentum in Noricum und Pannonien in den Bannkreis einer weiteren Erneuerungsbewegung kommen, die durch das sogenannte abendländische Mönchtum gekennzeichnet ist und die auch im Ostalpenraum rasch Bedeutung erlangte, wie die Tatsache beweist, dass einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung hier wirkte: der heilige SEVERIN.
Er ist der Geschichtsforschung längst bekannt, doch dürfte erst in jüngster Zeit das Rätsel seiner Persönlichkeit gelöst worden sein. War er nämlich zunächst für die Historiker der schlichte Heilige, der einfach seinem monastischen Ideal lebte, so vermutet neuerdings LOTTER, er sei mit dem von Kaiser MAIORIAN 461 ernannten Konsul FLA VIUS SEVERINUS identisch, der im Westen des Reiches, unter anderem auch in Gallien, in führender Position auftrat. Ob diese Hypothese anerkannt werden wird, mag auf sich beruhen. Wohl aber wird es das Verdienst LOTTERS bleiben, mit Nachdruck darauf verwiesen zu haben, dass SEVERIN nicht nur für den engeren Bereich Hilfeleistungen und Unterstützungen organisierte und dabei durch sein Vorbild wirkte, sondern dass er durch die ganze Provinz Macht ausübte und sogar das gesamte Dasein grundlegend umgestaltete.
Aus den vielen in diesem Zusammenhang gegebenen Anregungen wäre manches herauszustreichen. Darunter scheint mir aber die Vermutung besonders wichtig, SEVERIN habe eine Richtung vertreten, die sich von der der bis dahin üblichen Kirchen und ihren Lebensformen bewusst distanzierte; der Heilige habe - so wird von LOTTER angenommen - die in den Städten unter ihren Bischöfen dahinvegetierenden Christengemeinden kritisiert, ja sogar verachtet; er sei ihnen mit einer neuen Auffassung, mit den monastischen Ansichten und Vorstellungen seiner Epoche entgegengetreten und habe dem auf einer spätantiken Organisation beruhenden Christentum ein anderes System gegenübergestellt. Wenn wir die "Vita Severini" nach diesen Grundgedanken LOTTERS durcharbeiten, sind dessen Annahmen tatsächlich bestätigt. Der Heilige dürfte für neue Vorgangsweisen eingetreten sein.
Er könnte zum Beispiel die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft gesteigert und damit auch Grundlagen für die bessere Versorgung der Bevölkerung geschaffen haben. Die" Vita", die lobend die Landessitte herausstreicht, eigenhändig Feldarbeit zu verrichten, verweist erstmals in diesem Raum auf jene Einstellung, die wenig später in den abendländischen Mönchregeln zum Leitmotiv wurde. Die Konsolidierung einer Bevölkerungsgruppe, die dann später zum Bauernstand wurde, ist zweifellos nicht zuletzt unter dem Einfluss dieser Denkmodelle vor sich gegangen. Das heißt allerdings nicht, dass diese Veränderungen rasch und hastig vorgenommen worden waren. Man war auch zur Zeit SEVERINS noch nicht bereit, sich mit den Erträgen aus der heimischen Landschaft zu begnügen und sich ganz auf diese Güter zu verlassen. Das Prinzip des antiken Imperiums, über weite Strecken hinweg den Austausch der Erzeugnisse zu ermöglichen, blieb noch eine Zeitlang aufrecht. Lebensmittel wurden also nach wie vor über größere Entfernungen transportiert, Bedarfsgüter aus anderen Provinzen herangeschafft. Auch auf das Öl, das nur im Mittelmeerraum gewonnen werden konnte, wollte man nicht verzichten. Trotz dieser nicht unbedeutenden Einfuhr nach Noricum und Pannonien dürften aber die Menschen hauptsächlich schon mit einheimischen Produkten versorgt worden sein. Es wird in der" Vita Severini" der vorher nicht belegte Wein- und Obstbau an der Donau erwähnt, sodass wir annehmen können, die Romanen lernten, sich den lokalen Lebensbedingungen besser anzupassen.
Doch nicht nur auf diesem Sektor können wir Änderungen feststellen, die immer wieder beobachtet werden, aus manchen Bemerkungen ist zu entnehmen, dass auch kulturgeschichtlich bedeutsame Neuerungen vorgenommen wurden. Sprach vieles dafür, dass die Bibel im Norden bis zum 4. Jahrhundert zunächst nur selten zur Verfügung stand, so ist nunmehr das Vorhandensein der Heiligen Schrift für EUGIPPIUS, den Verfasser der" Vita Severini", selbstverständlich. Wir dürfen wegen dieser Gegebenheiten vermuten, dass mittlerweile, vielleicht im Zusammenhang mit der um 400 verbesserten Schulung, die Bibel besser verbreitet war und sich zunächst im Besitz der Gemeinden befand. Über diese erste Phase, dass die Kirchen ein gemeinschaftliches Exemplar der Offenbarung hatten, kam aber SEVERIN schon hinaus. Er hatte ein eigenes "Buch", das als Kodex bezeichnet ist, wohl eine Pergamenthandschrift, in der er oft studierte und las. Die Lektüre der Bibel außerhalb des Gottesdienstes ist seit der Spätantike üblich, dieser Brauch ist jedoch für das Gebiet der Ostalpen früher nicht nachweisbar, ja gar nicht wahrscheinlich. Wir können daher vermuten, dass SEVERIN als einer der ersten für diese Sitte in Noricum eintrat. Er wird aber auch dafür sofort belohnt, denn mehrmals wird ihm beim Lesen der Bibel die Gnade zuteil, in die Zukunft zu schauen, sodass Unheil abgewendet werden kann. Diese Nachricht erinnert uns, dass wenig später bei den Franken aus der auf den Altar gelegten und dann aufgeschlagenen Heiligen Schrift gleichfalls die Zukunft herausgelesen wurde.
Die Heilige Schrift ist aber für SEVERIN nicht nur die beste Gewähr, Gott näher zu kommen, sie wird auch die Grundlage seines Verhaltens. Der Heilige ging gemäß Mt 10, 10 oder Lk 10,4 stets barfuß, er besaß entsprechend Mt 10, 10 bzw. Mk 6,9 nur ein einziges Gewand, er fastete nach Vorschrift von Ex 34,28 und Mt 4,2 vierzig Tage. Es fällt ferner auf, dass EUGIPPIUS, der viele Reden des Heiligen wiedergibt, diesem stets Bibelworte in den Mund legt. Dies könnte, so wäre zunächst einzuwenden, ein Kunstgriff des Biographen sein, um anzudeuten, dass Gott aus SEVERIN sprach. Allein der Bericht über dessen Tod ist so wirklichkeitsnah, er entfernt sich deutlich vom Schematisieren und, da auch in diesem Falle von dem Sterbenden der Text der Bibel zitiert wird, müssen wir annehmen, dass der Heilige tatsächlich mit Vorliebe die Worte der Bibel verwendete und ihm daher diese Eigenschaft später von EUGIPPIUS mit Recht nachgerühmt wurde.
Diese Tatsachen wären nebensächlich, hätte sich SEVERIN damit begnügt, in seinen persönlichen Lebensgewohnheiten der Bibel zu folgen. Doch dabei blieb er nicht. Diese angeführten Einzelheiten aus dem Leben des Heiligen sind vielmehr nur symptomatisch für sein Bemühen, alles und jedes entsprechend dem Wortlaut der Heiligen Schrift einzurichten. Deshalb ergriff er entscheidende Maßnahmen und hob gemäß Lev 27,30, wo Abgaben in Naturalien vorgeschrieben sind, den Zehent ein. Leistungen dieser Art waren vorher nicht ungewöhnlich. Den Christen war seit jeher vorgeschrieben, Bedürftige zu unterstützen; entsprechend diesen Satzungen wurden früh Lebensmittel abgegeben; die Bischöfe hatten auch stets die Pflicht, diese Leistungen zu überprüfen und zu dirigieren. Seit dem 4. Jahrhundert wird dann mitunter schon eine kirchliche Ertragssteuer, die an den Zehent erinnert, eingehoben.
Dennoch dürfte SEVERIN mit Konsequenz als einer der ersten dieses System der Besteuerung praktiziert haben; im Westen ist es jedenfalls nicht vor dem 6. Jahrhundert rigoros gehandhabt worden. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass in Noricum erst der Heilige dieser Abgabe allgemeine Geltung verschuf. Er baute zu diesem Zweck eine gut funktionierende Verwaltung auf - seine schriftlichen Anordnungen, die "epistole" und "mandata", sind ausdrücklich erwähnt - und berief sich dabei auf das Gesetz, das für ihn in diesem Zusammenhang identisch mit der Bibel war. Wenn wir bedenken, dass gleichzeitig in den Städten nach wie vor römisches Recht galt, wenn auch in seiner provinziellen Primitivität, wie wir es im Zentrum der Alpen vorfinden, dann erahnen wir das Spannungsfeld, das entstand, als SEVERIN die Romanen nach den Vorschriften und dem Text der Bibel, aber nicht nach den weltlichen Satzungen orientierte.
Doch seinem Bemühen, mit Hilfe des sich anbahnenden Feudalismus, dem die Zukunft gehören sollte, die Zustände zu verbessern, war kein durchschlagender Erfolg beschieden. EUGIPPIUS berichtet noch in der" Vita ", dass die Bevölkerung den Anregungen des Heiligen nicht folgte. Es glückte weder die völlige Christianisierung, da ein Teil der eingewanderten Germanen an der alten Religion festhielt - dies ist leicht verständlich, denn wenn SEVERIN mit Hilfe der Bibel das Christentum reformieren wollte, dann musste schon wegen Sprachschwierigkeiten die Mission der nichtromanischen Gruppen scheitern - noch fielen die Mahnungen des Heiligen, es mögen sich wenigstens die Romanen zu echtem Christentum bekehren, auf fruchtbaren Boden. EUGIPPIUS weiß vielmehr zu erzählen, dass wenige Jahre nach SEVERINS Tod dessen Aufbauwerk völlig zusammenbrach und sogar die gesamte christlich-romanische Bevölkerung nach Italien abwanderte.
Dieser Bericht des EUGIPPIUS wird heute nur noch mit Einschränkungen geglaubt. Wir wissen inzwischen längst, dass in vielen Gegenden des Ostalpenraums und an der oberen Donau christliche Romanen verblieben, die ihre Eigenart und ihren Glauben, wenn auch mit Einbußen, bewahrten. Wie weit diese römische Provinzialkultur gerade wegen der von SEVERIN forcierten Veränderungen fortbestand, ist nicht genau festzustellen. Wohl aber ist inzwischen bekannt, dass das Episkopalsystem nicht zu halten war; unabhängig von diesem Niedergang erhielt sich aber der christliche Kult an manchen Punkten. Die Erinnerung an FLORIAN blieb an der Enns lebendig, das Wissen um die heilige AFRA wurde zu Augsburg tradiert. Den Beweis für den Fortbestand christlichen Gemeinschaftslebens liefern aber auch noch andere Belege.
So besitzen wir eine auffallende Nachricht über Pfarrerwahlen, die aus dem 8. Jahrhundert überliefert ist, aber in dieser ihrer Form älter sein muss. PRINZ vermutet ferner, dass im Ostalpenraum auch Klöster in bescheidener Form existierten und bis zum Eintreffen der Erneuerer des Glaubens, die zur Zeit der letzten Merowinger wirkten, recht und schlecht dahinvegetierten, er glaubt, aus einigen Salzburger Belegen ableiten zu müssen, dass St. Peter als monastische Gemeinschaft bereits bestand, als RUPERT an der Salzach eintraf. Wenn das ältere bayrische Urkundenwesen durch römische Kulturkontinuität zu erklären ist - es lässt sich jedenfalls daraus besser als aus fränkischem Einfluss ableiten, doch sind sorgfältigere Untersuchungen noch ausständig -, dann hätten wir ein weiteres schwerwiegendes Argument für das Überleben spätantiker Normen und Bräuche. Dies ist aber wiederum nur denkbar, wenn die Romanen in irgendeiner Form ihre Eigenheit wahren und eine politische Gemeinschaft bilden konnten. Wenn dem so wäre, dann ist es selbstverständlich, dass Christen über die Jahrhunderte hinweg auch ihre Gemeinden bildeten.
Doch selbst wenn dies der Fall war, dürfen wir nicht leugnen, dass das Christentum im 6. und 7. Jahrhundert stagnierte und erst am Beginn des 8. Jahrhunderts neuen Auftrieb erhielt, der nicht aus dem Lande selbst, sondern aus dem Westen kam. Aus diesem Raum stammten die großen Organisatoren dieser Epoche, EMMERAM zu Regensburg, RUPERT zu Salzburg und CORBINIAN zu Freising, um die wichtigsten zu nennen, die mit den angetroffenen Verhältnissen keineswegs zufrieden waren. Sie beklagten die desolaten Zustände in Bayern, wo es noch immer Anhänger der alten Religion gab und die Christen nach ihrer Meinung von der rechten Lehre weit entfernt waren. Die "Vita sancti Ruperti" übertreibt jedoch, wenn sie glaubhaft machen will, Juvavum sei völlig verödet und verwüstet gewesen, die Stadt habe nur aus Ruinen bestanden. Sofern dieser Begriff nicht einfach auf schlecht gepflegte Behausungen angewendet wurde, dürfte dieser massive Vorwurf nicht zu halten sein. Kulturgut muss auch vorhanden gewesen sein, sonst hätte der Aufbau in der Karolingerzeit, der uns bald beschäftigen wird, nicht so zügig vorangehen können. Dennoch sind die Missstände nicht zu übersehen.
Die Bautätigkeit des 6. und 7. Jahrhunderts - ein wichtiger Maßstab für die Verhältnisse - war jedoch ohne Zweifel dürftig gewesen. Kirchen wurden in dieser Epoche, wenn überhaupt, nur in bescheidener Art und geringer Zahl geschaffen. Auch die Profanbauten können nicht imponieren, Unter diesen fallen die Wehranlagen auf, die keineswegs beeindrucken, Selbst an den wichtigsten Zentren wurde dafür nur wenig geleistet. Als Beispiel darf abermals Salzburg angeführt werden, wo vor 700 eine Burg am Nonnberg errichtet wurde, über die schriftliche Quellen informieren. Die Reste dieses Objektes sind nicht mehr zu entdecken; sie sind nicht nur wegen geringer Qualität verschwunden, sie müssen auch klein gewesen sein, da die zur Verfügung stehende Fläche keine imposante Anlage gestattete.
Auf anderen Gebieten war es dagegen nicht so schlecht bestellt. Die Landwirtschaft muss intakt geblieben sein, wie die Tatsache beweist, dass Herzog THEODO nach 700 der Salzburger Kirche zahlreiche Höfe schenkte. Es gab zu dieser Zeit ferner einen regen Handel, der auf Salz spezialisiert war und der es auch gestattete, Zölle einzuheben, Nachzuweisen ist überdies ein Geldumlauf, der vielleicht von der Goldgewinnung abhängig war, die PUCHNER jüngst aus einem bis jetzt völlig übersehenen Quellenmaterial, aus den Ortsnamen, erschloss. Dieses doch nicht ganz unbedeutende Wirtschaftsleben war durch den Salzbergbau begünstigt, der im 6. und 7. Jahrhundert nicht aufgehört hatte und um 700 wohl weiter verbessert wurde. Seit RUPERTS wirken sind jedenfalls Salzbrunnen belegt, die im System an jene zu Schwäbisch Hall erinnern. Zu diesen gehörten Sudpfannen, die bald nach 700 erstmalig genannt sind und nicht einfach zu betreiben waren. Sie benötigten viel Holz, das wegen der Geländeschwierigkeiten nur nach Oberwindung schwerer Hindernisse zu beschaffen war. Es musste zum Teil aus größerer Entfernung herangebracht werden, sodass wir die um die Salzgewinnung entstehenden Wirtschaftszweige, die Waldwirtschaft, die Flößerei, das Transportwesen und manches andere, nicht unterschätzen dürfen. Selbst wenn einige dieser Leistungen erst unter RUPERT glückten - wieviel davon schon vor seiner Ankunft gut funktionierte, wissen wir leider nicht - müssen aber doch einige Voraussetzungen schon früher vorhanden gewesen sein. Die Fortschritte des 8. Jahrhunderts sind aber dennoch offensichtlich. Die Bautätigkeit nahm zu, die Qualität der Gebäude wurde verbessert, das Schrifttum nahm seinen Aufschwung; um die Mitte des Saeculums waren bereits leistungsfähige Schreibschulen tätig.
Es sollen jetzt nicht alle diese Phänomene der Reihe nach aufgezählt werden, denn wenn auch die Bedeutung des Wachstums von Wirtschaft und Kultur nicht geschmälert sein soll, so können diese Vorgänge bei unserer Thematik nur gestreift werden, um einen allgemeinen Maßstab zu gewinnen. Wir müssen daher dieses Kapitel verlassen und fragen, wie weit die Kirche in diese Entwicklung verflochten war und welche Folgen sie vor allem für das Christentum und dessen Ausbreitung hatte.
Es liegt auf der Hand, dass die von Kirchen und Klöstern geleisteten oder angeregten Verbesserungen mithalfen, die Wertschätzung der Lehre Christi zu steigern und auf diese Weise auch die Mission zu stützen. Dennoch dürfte die Ausbreitung des Christentums zu dieser Zeit hauptsächlich einer wesentlich verbesserten Kirchenorganisation zu verdanken sein, die auch in der modernen Literatur als entscheidendes Phänomen angesehen wird. Die Errichtung neuer Bistümer und Klöster, die die Lehre Christi vermittelten, steht daher im Zentrum des Interesses. Diesen Kirchen gelang es in unserer Heimat erstmalig, die gesamte Bevölkerung für das Christentum zu gewinnen. Alle abseits wohnenden Menschen wurden erfasst, wie wir schon aus den zahlreichen Kirchenbauten erschließen können, deren dichtes Netz seit dem späten 8. Jahrhundert alle Teile der Landschaft überzog.
Diese musterhafte Organisation, die den endgültigen Sieg des Christentums brachte, wurde aber erst durch das enge und planmäßige Zusammenwirken von Herrschertum und Kirche ermöglicht. Dieses System, bei den Germanen im Westen Europas wiederholt angewandt, wurde frühzeitig und vorbildlich von den Franken perfektioniert, von den bayrischen Herzögen aber erst um 700 übernommen, die seit diesem Zeitpunkt wie die fränkischen Könige vorgingen und Kirchen und Klöster ganz besonders förderten. Herzog THEODO, auf den in diesem Zusammenhang verwiesen werden muss, ergriff vor allem Salzburg gegenüber Maßnahmen, wie sie in dieser Art vorher von den Merowingern im Westen durchgeführt worden waren. Er übertrug der Obhut der Salzburger Kirche befestigte Stützpunkte, die Burgen und zentralen Orte, wie wir heute sagen, er gab mit den Schöpfbrunnen und Sudpfannen das Recht, Bergbau zu betreiben, aus der Hand, er verschenkte Zehent und Zoll. Er stattete somit die Salzburger Kirche mit Hoheitsrechten aus und wählte einen Weg, der zu dem sogenannten Reichskirchensystem führte.
Es wäre denkbar, dass die Bindungen an das Frankenreich und die Einflüsse aus dem Westen Herzog THEODO zu seinem Vorgehen veranlassten. Doch können wir diese Zusammenhänge nur vermuten, Beweise können dafür nicht geliefert werden, da die Quellen die Gründe und die Genesis für die Handlungen des Regenten nicht berühren. Dieser Mangel in der Berichterstattung ist auch schuld, dass unsere Handbücher diese einschneidenden Vorgänge in der Geschichte des bayrischen Christentums wenig betonen. Die Bedeutung des Geschehens der Jahre bald nach 700 wird aber auch übersehen, da die Kirchenpolitik THEODOS, die wir als Christianisierungspolitik bezeichnen könnten, erst in der Mitte des 8. Jahrhunderts größere Erfolge erzielte und, unter KARL DEM GROSSEN konsequent betrieben, ein Saeculum später vollendet wurde; denn wenn wir die Masse derer berücksichtigen, die für den Glauben gewonnen wurden, dann müssen wir den Abschluss der Mission in die Regierungszeit des Karolingers ansetzen. Diese jüngeren Ereignisse überdecken in unserer Erinnerung die Bemühungen des Agilolfingers und lassen vergessen, dass die letzte Phase der Christianisierung schon von diesem eingeleitet wurde.
Dieser kurze Blick auf den Abschluss der Mission des Ostalpenraumes, die mit der Ausdehnung des fränkischen Imperiums Hand in Hand geht, könnte die These zulassen, es habe letzten Endes politischer Aktivität bedurft, um dem Christentum zum Durchbruch zu verhelfen; manche Anzeichen sprechen dafür, dass es die von KARL DEM GROSSEN über alles geschätzte Waffengewalt war, die endlich für die Lehre Christi entschied. Wenn wir vollends bedenken, wie wenig Wissen den Neubekehrten zugemutet wurde, wie kurz und inhaltsarm Formeln und Gebete waren, die der Allgemeinheit gelehrt wurden, und wenn uns klar wird, dass im 8. Jahrhundert nicht daran zu denken war, den Christen das Lesen der Bibel zu empfehlen, wie es zur Zeit SEVERINS noch als vorbildlich angesehen werden konnte, dann fragen wir beklommen, ob wir mit diesem Ausgang der Christianisierung im karolingischen Imperium zufrieden sein können und ob wir nicht besser täten, mit den Reformatoren des 11. Jahrhunderts, die zwar KARL DEN GROSSEN selbst schätzten, aber keine gute Meinung von der Kirche der karolingischen Zeit hatten, die Leistungen der Frühzeit zu kritisieren? Es ist damit die Frage aufgeworfen, ob denn die Mission des 8. und 9. Jahrhunderts überhaupt fähig war, die Grundsätze der Offenbarung zu vermitteln und ob es ihr gelingen konnte, über die Werte und Absichten der Lehre Christi zu informieren? Gab es denn unter den Gegebenheiten dieser Epoche eine Chance, die Menschen, wenn schon nicht radikal zu bessern, so doch ein wenig günstig zu beeinflussen?
Wenn wir die schriftlichen Quellen, die wir Historiker immer in erster Linie als verlässliche Information bewerten, nach dieser Fragestellung überprüfen und wenn wir uns nicht von den Erfolgsmeldungen mit ihrer offenkundigen Oberflächlichkeit beirren lassen, dann bekommen wir einen deprimierenden Eindruck. Die vermittelten Glaubenssätze waren banal, die Gebete denkbar knapp und auch die Predigten, die gehalten wurden, ganz gewiss nicht inhaltsreich und tiefsinnig. Nach diesen Kriterien dürfte es demnach kaum gelungen sein, die Menschen in ihrem Verhalten etwas zu bessern. Doch dieses negative Ergebnis müssen wir revidieren, wenn wir einige jüngere Beobachtungen zur Kenntnis nehmen. So vermutete GRAUS, dass Ethik und Moral unter dem Einfluss des Christentums zur Karolingerzeit einen Auftrieb erhielten; er meint zum Beispiel, die Vorstellungen von der Treue, die wesentlich zur Beruhigung der Zustände beitrugen, seien christlichem und nicht germanischem Einfluss zuzuschreiben. Wenn auch diese These überspitzt sein mag, so wird doch neuerdings eine positive Wirkung des vordringenden Christentums angenommen. In diesem Zusammenhang muss aber auch erinnert werden, dass die Normen des Rittertums, die gleichfalls einige Auswüchse in der Kriegsführung beseitigten, wohl im 9. Jahrhundert entwickelt wurden. Und wenn wir der kriegerischen Einstellung der Karolingerzeit auch heute reserviert gegenüberstehen, so soll darüber nicht vergessen werden, dass für weite Teile Europas in dieser Zeit Ruhe und Ordnung hergestellt wurde, was gleichfalls christlichem Einfluss zugerechnet werden darf.
Wenn wir unter diesen Aspekten dann noch bedenken, dass sich eine sehr intensive Religiosität in der forcierten Bautätigkeit von Kirchen offenbarte, müssen wir doch rückfragen, ob eine Epoche, die sich für diese äußeren Erscheinungen so engagierte, diesen ihren Einsatz ohne echte innere Bindung hätte zustande bringen können? Doch diese Frage führt uns an die Grenze historischer Erkenntnismöglichkeit, denn wir wissen nicht, wie es der Allgemeinheit möglich war, ohne intensives Studium der Heiligen Schrift sich christlichen Gedanken aufzuschließen, wie es geschehen konnte, ohne intensive Schulung die Menschen für die Lehre Christi zu begeistern? Wäre es denkbar, dass die Vorschriften des Messias ohne klares Bewusstsein, gewissermaßen intuitiv erfasst wurden?
Es scheint so! Es ist vielleicht gar nicht notwendig, Glaubenssätze mit allen ihren Feinheiten bekannt zu machen. Vielleicht haben die einfachen christlichen Grundsätze und primitiven Normen die Menschen der Karolingerzeit besser überzeugt und unterrichtet als die langen theologischen Ausführungen späterer Jahrhunderte? Damit wird deutlich, dass die Vollendung der Christianisierung ungeachtet unseres Wissens noch immer ein Rätsel ist. Denn wenn wir die Forschungsergebnisse sorgfältiger überprüfen, dann müssen wir eingestehen, dass aus dieser wichtigen Phase des Geschehens noch immer vieles offen bleibt. Doch diese Erscheinung steht keineswegs vereinzelt. So sei zum Abschluss daran erinnert, dass gerade die wichtigsten und entscheidendsten Vorgänge der Weltgeschichte für uns in manchen Belangen rätselhaft bleiben. Dies gilt auch für das Thema der Christianisierung unserer Heimat.
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Heinrich Koller, Die Christianisierung des Ostalpenraumes, Religion und Kirche in Österreich, Hrsg. v. Institut für Österreichkunde, Wien 1972, 13 - 24
Heinrich Koller, Dr. phil., o. Prof. em. der Geschichte des Mittelalters an der Universität Salzburg