von Hamed Abdel-Samad
Es war ein Anschlag mit Ansage, und dennoch scheinen alle nun ratlos. Eine Krankheit bricht aus und befindet sich auf dem Vormarsch. Sie heißt islamischer Fundamentalismus. Lange wurde diese Krankheit von Muslimen verharmlost und von westlichen Politikern und Journalisten relativiert. Nach jedem Anschlag und nach den Gräueltaten der IS-Milizen hieß es immer, diese hätten mit dem Islam nichts zu tun. Aus Mangel an Selbstkritik oder aus Angst vor rechtsextremer Propaganda diagnostizierte man die Krankheit immer falsch und verlagerte das Problem woandershin. Mal war es die Machtpolitik des Westens, die für den islamistischen Terror verantwortlich gemacht wurde, mal soziales Elend und Marginalisierung junger Muslime. Diese sind aber nur Brandbeschleuniger, nicht das Feuer.
Terrorismus ist keine Reaktion, sondern Vollstreckung eines politischen Anspruchs, der in der islamischen Theologie eingebettet ist. Es gibt einen Konsens unter fast allen islamischen Rechtsschulen, dass die Beleidigung des Propheten oder die Apostasie mit dem Tode bestraft werden sollte. Charlie Hebdo und davor Theo van Gogh sind da nicht die ersten Opfer. Viele Schriftsteller in den islamischen Staaten mussten dies am eigenen Leibe spüren. In Saudi-Arabien und im Iran wurden bereits mehrere Menschen wegen Blasphemie oder Beleidigung des Propheten hingerichtet. In anderen islamischen Staaten wie Marokko und Pakistan müssen Apostaten und Islamkritiker mit hohen Haftstrafen rechnen.
Auf der anderen Seite lebt die Mehrheit der Muslime in Europa friedlich und distanziert sich von Gewalt. Auch sie sind Verlierer dieses Anschlags. Die Radikalisierung an den Rändern können sie nicht unterbinden. Die politische Mitte in Europa scheint gelähmt und beschränkt sich auf übliche Floskeln, während Extremisten auf beiden Seiten (Islamisten und Rechtsradikale) Boden gewinnen. Hass schaukelt sich gegenseitig auf.
Es muss aber einen Mittelweg jenseits von Beschwichtigung und Alarmismus geben. So schrecklich dieser Anschlag sein mag, kann man ihn als Chance sehen. Die Politik ist gefragt, klare Konzepte vorzulegen, nicht nur für die Bekämpfung von Terror, sondern auch für Einwanderung und Integration. Nur das kann den Radikalen am rechten Rand den Wind aus dem Segel nehmen. Es reicht nicht mehr aus, sich bei Fragen der Integration alleine auf Islamverbände und Glaubensgemeinschaften zu verlassen, die eher ein Teil des Problems sind. Muslimische Vertreter und Theologen sind gefragt, die authentischen Elemente des Islam, die zu Hass und Gewalt führen, ehrlich zu benennen, statt sich um das Image des Islam zu kümmern. Nur das kann muslimische Fanatiker isolieren.
Ich glaube, dieser Anschlag, wie auch der Aufstieg von IS, wird vier Tendenzen innerhalb der Muslime in Europa und weltweit hervorbringen: Eine kleine Gruppe wird sich weiterhin radikalisieren; eine kleine Gruppe wird sich gänzlich vom Islam lösen; eine kleine Gruppe wird versuchen, den Islam zeitgemäß zu leben; und die große Mitte wird zwischen Konservatismus und freiheitlicher Lebensführung schwanken und abwarten, welche Gruppe gewinnt.
Auch dieser inner-islamische Kampf der Kulturen wird auf europäischem Boden ausgetragen. Die Szene, wo der fanatische Islamist von Paris einen auf dem Boden liegenden muslimischen Polizisten in den Kopf schießt, ist Sinnbild dieses Kulturkampfes.
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