Hebron - palästinensische Stadt im Griff jüdischer Siedler
Steine, Beschimpfungen und ungleiches Recht in der Stadt der Patriarchen
Neue Zürcher Zeitung, 1. Februar 2007

In Hebron wohnen über 500 jüdische Siedler in der Altstadt mitten unter der palästinensischen Bevölkerung. Sie schikanieren und beschimpfen ihre palästinensischen Nachbarn, werden dafür aber kaum je zur Rechenschaft gezogen. Hunderte von israelischen Soldaten beschützen die Siedler, während die Palästinenser praktisch schutzlos sind.
von unserer Mitarbeiterin Karin Wenger

Die Teppiche in der Ibrahimi-Moschee in Hebron schlucken die Schritte der Besucher und auch ihre Gebete. Still ist es in der Höhle der Patriarchen, wo Abraham, der Stammvater Israels, auf den sich auch die Christen und die Muslime berufen, sowie andere Erzväter und -mütter angeblich begraben liegen. Ein alter Mann, gebeugt und blind, sitzt vor Abrahams vergitterter Grabstätte und lässt seine Gebetskette durch die Finger gleiten. Ein Fenster auf der anderen Seite des Grabraums ermöglicht den Blick auf die jüdische Seite, auf der Männer auf und ab gehen. Hebron, das im Süden des Westjordanlandes liegt, gehört zu den heiligsten Orten dreier monotheistischer Religionen. Doch die Stadt ist seit Jahrzehnten Brennpunkt von Auseinandersetzungen und Verbrechen im Namen Gottes.

Von Massaker zu Massaker
Juden leben seit Ende des 15. Jahrhunderts in Hebron. Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren sie gut integriert in der muslimischen Mehrheit der Stadt. Mit der Ankunft der Zionisten, die anders als die alteingesessenen Juden einen eigenen Staat errichten wollten, wuchs unter den Muslimen aber die Angst, man wolle sie vertreiben. Bei antijüdischen Ausschreitungen wurden 1929 in Hebron 67 Juden von Muslimen auf grausame Art getötet. Die verbleibenden Juden verließen die Stadt. 1968, ein Jahr nach der israelischen Besetzung des Westjordanlandes, gründeten radikale religiöse Siedler an der Stadtgrenze von Hebron die Siedlung Kiriat Arba, in der heute 7.500 Israeli wohnen. Wenige Jahre später begannen einige von ihnen, Häuser in der Altstadt von Hebron zu besetzen.
In der Ibrahimi-Moschee erinnern Einschusslöcher an die blutigen Ereignisse des 25. Februar 1994. Damals erschoss Baruch Goldstein, Militärarzt und Siedler in Kiriat Arba, während des Freitagsgebets in der Ibrahimi-Moschee 29 Palästinenser. Über hundert weitere wurden beim Anschlag verletzt. Die religiöse Stätte wurde hernach in zwei Bereiche unterteilt, einen für Muslime und Christen und einen für Juden. Goldstein wurde noch am Tatort getötet. In der Siedlung Kiriat Arba liegt sein Grab mit einer Inschrift, die Goldstein als Heiligen preist, der von Terroristen ermordet worden sei.

Die Stadt wird aufgeteilt
1997 wurde in einem Protokoll zwischen Palästinensern und Israelis die Teilung der Stadt in die Gebiete H1 und H2 festgelegt. H1 wird von der palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet und umfasst rund 80 Prozent des Stadtgebiets mit 150.000 palästinensischen Einwohnern. Zu H2, das unter israelischer Militärkontrolle steht, gehören die restlichen 20 Prozent mit der Altstadt und dem Patriarchen-Heiligtum. Dort wohnen rund 500 Siedler und 2.500 Palästinenser Tür an Tür, manchmal sogar im selben Haus.
Gespenstisch wirken die Gassen der Altstadt, in denen ein paar alte Männer zwischen Tellern mit Süßigkeiten oder vor höhlenartigen Geschäften voller Pferdegeschirr, Glöckchen und Teppichen hocken. Eine kleine Schar indischer Ordensschwestern pilgert durch die Gassen, sonst ist weit und breit kein Tourist zu sehen. Die meisten Läden sind verbarrikadiert. Wer kann, zieht weg. Die Zugänge zur Altstadt hat die israelische Armee mit Steinblöcken versperrt, so dass weder Autos noch Eselskarren bis zu den palästinensischen Geschäften fahren können. Wegen dieser Schikanen oder auch auf direkten Befehl der Armee mussten laut dem israelischen Menschenrechtszentrum Btselem etwa 2.500 Palästinenser ihre Geschäfte schließen. Ein paar Männer schleichen den Hauswänden entlang und schauen dabei ängstlich in die Höhe. Dort, zwischen den Häusern im ersten Stock, hat jemand Drahtnetze aufgespannt, auf denen Steinbrocken, fauliges Fleisch und leere Flaschen liegen. Die Bewohner im zweiten Stock sind Siedler. Sie haben es sich zur Freizeitbeschäftigung gemacht, Passanten mit Abfall zu bewerfen.

«Sterilisierte» Strasse
Vor der Ibrahimi-Moschee verzweigt sich die Strasse. Soldaten stehen gelangweilt an einer Sperre. Ab und zu kontrollieren sie die Ausweispapiere eines Palästinensers. Hier an der Straßensperre beginnt die Shuhada-Straße, die früher die belebte Marktstraße von Hebron war und heute das Zentrum der jüdischen Siedler in Hebron ist. Es ist eine Geisterstrasse, auf der ein paar Siedlerkinder Murmeln mit Stöckchen über das Pflaster treiben. Einmal schlendert eine Gruppe Jugendlicher die Straße entlang, Maschinengewehre umgehängt. Die vereinzelten Palästinenser, die noch in ihren Häusern wohnen, brauchen eine Spezialbewilligung, um die zehn oder zwanzig Schritte zu ihrem Haus zu gehen. Palästinensern, die nicht hier wohnen, ist das Betreten der Straße untersagt.
«Wir nennen die Shuhada-Strasse die sterilisierte Strasse», sagt Yehuda Shaul, ein ehemaliger israelischer Soldat, der 14 Monate in Hebron Dienst tat. Shaul arbeitet heute als Friedensaktivist und führt Interessierte durch Hebron. «Zuerst sagten wir: ‹Auf dieser Straße dürft ihr nicht mehr mit dem Auto fahren›, dann: ‹Diese Straße ist für euch verboten.›» Auch für palästinensische Ambulanzen ist die Durchfahrt gesperrt. Shaul erzählt, wie ein Palästinenser seinen eben verstorbenen Vater über die Dächer in den palästinensisch kontrollierten Teil der Stadt tragen musste, wo ihn eine Ambulanz holte. Gegen Ende seines Militärdienstes habe er sich dann gefragt, was er hier eigentlich mache, bemerkt Shaul.
Shaul berichtet auch, dass sich seine Einheit während Monaten in einem Haus mit guter Sicht auf die Altstadt einquartiert habe. Die Besitzerfamilie hätten sie in die Wohnung im ersten Stock gesperrt. Sie hätten die Aufgabe gehabt, Granaten abzufeuern, um die Palästinenser einzuschüchtern. «Beim ersten Mal betete ich darum, dass ich niemanden treffe. In der Nacht hast du keine Ahnung, wohin du schießt», sagt Shaul, «aber mit der Zeit wurde es ein Spiel. Wir schlossen Wetten ab, wer zuerst das Rad eines vorbeifahrenden Wagens oder ein bestimmtes Fenster treffen würde.»
Den ehemaligen Fleischmarkt, der an der Shuhada-Straße liegt, haben die Siedler angezündet. An die Mauern haben sie einen Wohnwagen gestellt. «In den nächsten Wochen werden sie Bretter darum herum bauen und ein Haus daraus machen. Sie schaffen Fakten, die Soldaten schauen zu, und irgendwann akzeptiert die Regierung die Häuser», sagt Shaul. Aus einem vorbeifahrenden Auto schreit einer: «Yehuda, du schwuler Hund, zieh deine Kippa aus, du bist kein Jude!»
An der Shuhada-Strasse liegt die Cordoba- Mädchenschule. Die Treppe zum Haupteingang ist für Schülerinnen und Lehrerinnen unbenützbar, weil sie in die Shuhada-Straße mündet. Deshalb steigen sie eine in den Hang gehauene Treppe am Ende der Strasse hinauf und gelangen auf einem Trampelpfad zur Schule. Zu deren Schutz begleiten Freiwillige von Friedensorganisationen die Kinder auf dem kurzen Stück von der Treppe zur Schule. An einem Samstag im vergangenen April wurde dabei eine Schweizer Begleiterin von einem 16-jährigen Siedler mit einem Stein angegriffen. Die Wunde musste mit sieben Stichen genäht werden. Die Friedensaktivistin zeigte den Jugendlichen an und schaltete einen Anwalt ein, der bis heute auf ein Gerichtsurteil wartet. Angezeigt werden Siedler zwar oft, zu einer Verurteilung kommt es selten.
«Vor allem am Sabbat werden die Mädchen und Lehrerinnen von den Siedlerkindern mit Eiern und Steinen beworfen. Es scheint als gute Tat zu gelten», sagt Feryal Abu Haikal, die Direktorin der Schule. Auch Ausgangssperren verhindern einen normalen Schulbetrieb. In den ersten drei Jahren der Intifada konnten die Mädchen wegen der tagelangen Ausgangssperren nur etwa ein halbes Jahr zur Schule kommen, wie die Direktorin sagt. Dann spielt sie einen Videofilm von Human Rights Watch ab, auf dem Siedlermädchen in adretten Kleidchen auf eine Lehrerin einschlagen und schreien: «Das ist kein Araber-Land!» Die Kamera schwenkt auf die Strasse, wo Soldaten stehen und dem Treiben zuschauen.
In Hebron ist das Recht nicht für alle gleich. Für Palästinenser gilt das Militärrecht, das in jedem Fall härtere Strafen vorsieht als das für die Siedler geltende israelische Zivilrecht. Rund 1.500 israelische Soldaten beschützen die etwa 500 Siedler in der Altstadt. Für die Sicherheit der 2.500 Palästinenser dagegen sorgen nur gerade 30 bis 40 Polizisten. «Wenn Siedler Palästinenser angreifen, unternehmen die Soldaten meist nichts, weil sie nicht zum Schutz der Palästinenser, sondern der Siedler hier sind. Wenn ein Palästinenser einen Stein wirft, wird er sofort verhaftet», kommentiert der ehemalige Soldat Yehuda Shaul.
Von ungleichem Recht oder Siedlergewalt will David Wilder, der Sprecher der Siedler von Hebron, aber nichts wissen. Die jüdische Gemeinde sei gegen unnötige Gewalt. «Wir sind alle bewaffnet. Wenn wir wirklich glaubten, dass Gewalt Probleme löst, würden wir uns ganz anders benehmen», sagt er. An Wilders Gürtel hängt eine Maschinenpistole. Man wohne hier nicht in einem Kibbuz, sondern in einem Gebiet voller Araber, die nichts anderes im Kopf hätten, als die Juden zu vertreiben. Dazu kämen noch all diese Ausländer von «faschistischen Organisationen» - womit er das Christian Peacemaker Team und ähnliche Friedensinitiativen oder die internationale Beobachtertruppe Temporary International Presence in Hebron meint -, da sei es nur verständlich, dass der eine oder andere reagiere. Wilder kam vor dreißig Jahren aus New Jersey, weil dem wahren Glauben auch handfeste Taten folgen müssten, wie er sagt.

Tatenlose Regierung
Hebrons Siedler sind in Israel nicht beliebt, erst kürzlich gerieten sie wieder in die Kritik der Medien und von Regierungsvertretern. Die Siedler seien die Quelle aller Friktionen, Polizei und Gerichte müssten rechtliche Schritte gegen die Provokateure unternehmen, sagte der stellvertretende Verteidigungsminister Ephraim Sneh nach einem Augenschein in Hebron. Bereits Ministerpräsident Yitzhak Rabin hatte Anfang der neunziger Jahre den Plan gefasst, die Siedler aus Tel Rumeida, dem Hügel über der Altstadt von Hebron, zu entfernen. Diese mobilisierten jedoch ihre Lobbyisten und drohten mit heftigem Widerstand. Rabin ließ den Plan fallen.
In Tel Rumeida wohnt der 43-jähriger Palästinenser Hashim al-Azzeh mit seiner Familie. Er ist überzeugt, dass die Siedler ihn von hier vertreiben wollen. Seit die Armee den Haupteingang seines Hauses mit Stacheldraht verbarrikadiert hat, gelangt er nur noch über Umwege und Kletterpartien zu seinem Haus. Der Stacheldraht sei zu seiner Sicherheit, erklärten die Soldaten. Neben dem Haupteingang hatten Siedler 1984 ein paar Wohnwagen auf das Land gestellt. Das war illegal, trotzdem ließ die Regierung sie gewähren. Später ersetzten die Siedler die Wohnwagen durch Wohncontainer.
Obwohl Regierungsvertreter ab und zu die Siedler von Hebron kritisieren, gegen die Besetzung von palästinensischem Land gehen sie selten vor. Die Siedler von Tel Rumeida wurden 1998, wenige Jahre nach Rabins misslungenem Versuch, sie auszusiedeln, offiziell anerkannt. Im selben Jahr baute die Regierung für drei Millionen Dollar Wohnungen für 75 Siedler, obwohl das Oberste Gericht festgehalten hatte, dass auf diesem Grundstück nicht gebaut werden dürfe. Die Siedler zogen um, aber statt die Container zu räumen, richteten sich neue Siedler darin ein. Heute leben 15 Siedlerfamilien in Tel Rumeida.
«Wir töten euch! Haut ab nach Jordanien!», gellt es aus den Containern. Azzeh verzieht keine Miene, sondern schickt seinen kleinen Neffen ins Haus. Eine Siedlerin hatte dem Buben im April 2005 mit Steinen die Zähne zertrümmert. Eine Klage blieb erfolglos. «Am Anfang hatten wir Angst», sagt Jannat, Azzehs 14-jährige Nichte. «Jetzt haben wir uns an die Eier, Kartoffeln und auch an die kaputten Waschmaschinen gewöhnt, die ab und zu in unserem Garten landen.»
«Glaub ihnen kein Wort», nimmt David Wilder seine Siedler in Schutz. «Die Araber lügen alle. Sie wollen nur unser Land, doch das bekommen sie nicht, es gehört uns, vom Jordan bis zum Mittelmeer. Und wenn es nach mir ginge, gehörte auch der Sinai dazu. So steht es geschrieben.»

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2007/02/01/al/articleEUKY7.html